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Bei herrlichstem Wetter rückte die wohlgeordnete Expedition in Lhassa ein. Tausende von Tibetanern säumten die Straßen, und vielfach hingen bunte Fahnen mit den seltsamen, tibetanischen Schriftzeichen zu den Häusern heraus.
Der Dschongpen, das heißt der Bürgermeister der Stadt, der gleichzeitig nach dem Brauche der tibetanischen Verwaltung die Geschäfte etwa eines Regierungspräsidenten führt, empfing zusammen mit einigen englischen Herren den General und seine Begleiter. Besonders wurden die Ladys angestaunt, und der würdige Bürgermeister befühlte immer und immer wieder das Tuch der Damenkleider. Zum Danke dafür photographierten ihn die Damen, und als er später sein Bild, das schnell entwickelt war, sah, kannte sein Entzücken keine Grenzen.
Der Engländer Koll, der Beziehungen persönlicher Art zum Dalai Lama hatte, hatte von diesem einen besonderen Geleitsbrief ausgewirkt. Die Expedition hatte während der Begrüßungszeremonien, in der üblichen Weise auf einem freien Platze ihr Lager bezogen. Russe hatte angeordnet, daß die Verpflegung aus den mitgenommenen Vorräten stattfinden sollte, aber ehe noch die Leute an die Mahlzeit gegangen waren, gab es eine neue Überraschung. Ein Zug von Tibetanern, von Lamas geführt, nahte. Schafe wurden herangetrieben, Gänse gebracht, Eier in Massen verteilt, und, zum ersten Male während des Marsches, gab es ein alkoholartiges Getränk: tibetanisches Bier. General Russe hatte sonst jeden Genuß von Bier, Wein oder Branntwein während der Dauer der Expedition, außer in Krankheitsfällen bei ärztlicher Anordnung, völlig ausgeschaltet. Es ist dies zum ersten Male bei der Nordpolexpedition Nansens auf dem »Fram« voll durchgeführt worden und hat sich bestens bewährt. Auch beim Aufmarsche der deutschen Heere 1914 wurde diese Maßregel angewendet, ja, der Großfürst Nikolaus Nikolajewitsch, der Oberbefehlshaber der russischen Armee, hatte sogar für die Dauer des Weltkrieges den Truppen den Alkoholgenuß völlig untersagt. –
Im Lager zu Lhassa herrschte frohe Stimmung. Tejbir, Kjel und die Führer sorgten dafür, daß alles in verständigen Grenzen sich hielt, und die Manneszucht, die der Gurkha während der Marschtage immer schärfer zu halten gewußt hatte, sorgte dafür, daß nichts irgendwie Ungehöriges vorkam. –
Inzwischen waren auch General Russe und seine Begleiter gebührend weiter versorgt worden. Es war ein schönes Haus ihnen zur Verfügung gestellt, Bäder standen bereit, ebenso wie tibetanische Dienerinnen und Diener. Nach etwa einer Stunde wurde angefragt, ob die Herrschaften zum Mahle bereit wären, und nun wurden sie von Dschongpen abgeholt und nach einem, in der Nähe in einem entzückenden Garten errichteten, prachtvollen Seidenzelte geführt. Dort war nach europäischem Muster innen eine schöne Tafel gedeckt, die anwesenden Engländer empfingen die Gäste, den Damen wurden herrliche Blumen überreicht, und dann wurde eine prächtige Mahlzeit eingenommen, bei der Tee, Wein und Bier als Getränke gereicht wurden. Die Dienerschaft war vorzüglich geschult, und die Reisenden hatten kaum die Empfindung, daß sie in dem geheimnisvollen Lande Tibet wären. Auch ein besonderes Landesgericht wurde ihnen vorgesetzt, Gerstenklöße in einer Pfefferbrühe, das nicht übel schmeckte. Allerdings solche Mengen, wie der überglückliche Bürgermeister, konnten unsere Damen und Herren doch nicht bewältigen.
Als das Mahl sich dem Ende näherte, erhob sich der Dschongpen und bat um Gehör. In leidlichem Englisch begrüßte er seine Gäste mit einer Ansprache, wünschte den Segen der Götter für das Gelingen des großen Kampfes mit dem Riesen, und überreichte dann mit vielen tiefen Verneigungen einen in prächtig gestickte blaue Seide gebundenen Brief des Dalai Lama an General Russe, in welchem das geistliche Oberhaupt des Landes der Expedition in aller Form das sicherste Geleit durch Tibet verbürgte. Der Brief war tibetanisch und englisch abgefaßt und bedeutete für Russe einen außerordentlichen Erfolg. Mußte man doch auf der Weiterreise durch das Hochland sonst damit rechnen, daß bei irgendeinem der vielen Lamaklöster, die zu passieren waren, sich Widerstand gegen den Weitermarsch zeigte. Auch die Dschongpen konnten für den Durchzug durch ihre Gebiete mancherlei Hindernisse in den Weg legen. Das war zweifellos das Werk Kolls, der beim Dalai Lama sehr viel galt, und Russe sprach dem Landsmann seinen wärmsten Dank aus.
Jetzt tönte seltsame Musik außerhalb des Zeltes. Die eine Wand des luftigen Baues wurde zurückgeschlagen, und ein seltsames Bild bot sich den Schauenden dar.
Am Boden hockten die Musiker: Gongs tönten, und aus zwei mächtigen, fast zwei Meter langen Kupfertrompeten erschallten Mark und Bein erschütternde Donnertöne. Dann schritten sechs Tänzer heran. Sie trugen lange, in köstlichen Farben schimmernde Gewänder von schwerer Seide, die dick mit Gold und Silber gestickt waren. Seltsame Figuren, aber auch tibetanische Buchstaben waren an den Gewändern dargestellt. Einer der anwesenden Engländer erklärte seinen Landsleuten, daß diese Stickereien unter den verschiedenen Gewändern im Zusammenhange stünden und eine der tibetanischen Göttersagen darstellten. Das Ganze sei ein tibetanisches Theaterstück. Das Eigenartigste aber an der Ausrüstung der »Schauspieler«, die übrigens wie alle Tibetaner keine Fußbekleidung trugen, waren die seltsamen, riesengroßen Masken, die die Köpfe völlig bedeckten. Sie stellten Ungeheuer, gräßlich verzerrte Fratzen dar, und waren rot, gelb und grün mit schillernden Lackfarben bemalt, sowie reich vergoldet und versilbert.
»Denken Sie an die Lamaserei am Gänsesee?« fragte Lady Alice leise Zönlund, und dieser erwiderte ebenso leise: »Ich glaube fast, daß Kennans Schilderungen doch die Wahrheit enthalten.«
Die Tänzer schritten indessen feierlich vor und zurück, verneigten sich vor einander, bildeten Gruppen und dazu klangen die Gongs und dröhnten die gewaltigen Trompeten. Nach etwa einer Viertelstunde war die Aufführung zu Ende, das Zelt schloß sich, und die Gesellschaft nahm noch einmal Platz. Köstliche Früchte und Süßwein wurden gereicht, und dabei erhob sich General Russe und mit ihm die Mitglieder seiner Expedition, und dankte in herzlichster Weise dem Dschongpen sowie dem Dalai Lama, dessen Antlitz kein Ungläubiger sehen darf. Er bat den Gastgeber, Dolmetscher des Dankes der Europäer an den Unnahbaren zu sein und ihm zu übermitteln, daß, wenn das große Werk gelinge, die Welt erfahren solle, welch großen Anteil der Dalai Lama daran habe.
Mit dem dem Tibetaner eigenen Grinsen und vielen Verbeugungen hatte der Dschongpen die Rede angehört. Jetzt bat er, ihm zu folgen, da er noch eine besondere Sehenswürdigkeit den Gästen zeigen wolle, den Palast des Dalai Lama. Nie dürfe sonst ein Fremder sich dem Wunderbau nahen. Er läge, abseits der Stadt, durch Felsen selbst vor Licht geschützt. Aber die hohen Gäste sollten den Sitz des Erhabenen sehen.
Man trat vor das Zelt. Für die Damen standen Sänften bereit, die Herren bestiegen kleine Pferdchen. Die Sänften wurden auch von Pferden, die vorn und hinten zwischen Gabeln eingeschirrt waren, getragen. Bald schlugen, der Dschongpen führte in einer prachtvollen, bunt bemalten und vergoldeten Sänfte stolz den Zug an, die Pferde einen flotten Trab an, es ging zur Stadt hinaus. Auf Befehl des Generals waren Kallory und Gerving noch zum Lager hinübergesprengt, wo der Gurkha ihnen stolz meldete, daß alles in bester Ordnung sei.
Dann ritten sie den anderen Herrschaften nach. Beide waren nachdenklich und schwiegen.
Plötzlich legte Kallory seinen Arm auf den des Freundes und sagte: »Gerving, was meinen Sie zu der ganzen Sache?«
Gerving sann in der ihm eigenen, ruhigen Weise etwas vor sich hin und sagte endlich:
»Sie meinen, wie man uns hier aufnimmt? Hier, in Tibet, in Lhassa, im Sitze des geheimnisvollen Dalai Lama?«
»Ja«, erwiderte Kallory. »Sie wissen ebenso gut wie ich, welche Schwierigkeiten man uns früher machte. Ich sage Ihnen, mir geht das alles zu glatt! Ich traue der Sache nicht.«
»Ich bin vollständig Ihrer Ansicht,« sagte Gerving, »die Sache kann zwei Ursachen haben.«
»Und die wären«, fragte Kallory lebhaft. »Sie wissen, wie hoch ich stets Ihre ruhige, sachliche Beobachtung eingeschätzt habe. Also, lassen Sie hören.«
»Die erste Ursache des völlig veränderten Verhaltens der Tibetaner kann, neben dem Gelde, unser Sieg im Weltkriege sein. Es ist doch dies alles hier bekannt. Man weiß auch, wie Rußland heute beschaffen ist, und die deutsche Gefahr von Afghanistan her wirkt sich noch nicht aus. Also sagt vielleicht die Klugheit: Nachgeben gegen Englands Macht.«
»Das läßt sich hören«, meinte Kallory. »Und die andere Seite?«
»Es ist alles Lug und Trug. Man lockt uns an den Tschomo-lungma und dort gehen wir zu grunde!«
»Gerving,« rief Kallory aus, »wie kommen Sie darauf?«
»Mir ist es schon in Indien aufgefallen, daß die gesamte Presse nichts über uns brachte. Nepal ließ uns durchziehen, hier der festliche Empfang, alles das macht mich stutzig. Dazu kommt, daß unsere Agenten doch hier gearbeitet haben. Das Geheimnis der Expedition kann ja nicht gewahrt sein. Und Sie wissen: ich traue keinem Asiaten, und besonders nicht den Indern, wenn ihre uralten, religiösen Geheimnisse vielleicht gestört werden könnten.«
»Sie haben unzweifelhaft recht und wir müssen deshalb um so mehr auf der Hut sein. Doch still, da ist die Gesellschaft.«
Die Herren meldeten sich bei General Russe zurück. Der Zug hatte einen mächtigen Felsen umritten. Die Straße war sonst streng für jeden gesperrt, überall standen Wachen mit Lanzen und Gewehren bewaffnet, um jede Annäherung Unberufener sofort zurückzuweisen oder mit dem Tode zu bestrafen.
Während die Reisenden um den Felsstock herumbogen, fingen plötzlich mit gewaltigem Schalle zahlreiche Glocken an zu läuten. Der Zug hielt: vor den Beschauern lag der ungeheure Palast des Dalai Lama. Stockwerk über Stockwerk türmte an der Felswand sich zu schwindelnder Höhe empor. Mächtige Bogenfenster zogen sich an den einzelnen Geschossen entlang. Jedes der letzteren trat vor dem unter ihm liegenden zurück, so daß ein prachtvoll wirkender Terrassenbau sich ergab. Mächtige Tempel mit prachtvollen Glockenstühlen standen auf besonderen Terrassen. In den Glockenstühlen schwangen, von zahlreichen Lamahänden gezogen, riesige Glocken, die in der Abendsonne wie Gold glänzten, hin und her, und ihre gewaltigen Klänge schwammen als ein Meer von Tönen in der reinen Abendluft, die durchduftet war vom Geruch der köstlichen Blumen nicht nur, die in üppigster Fülle auf den Terrassen prangten, sondern auch von den Weihrauchwolken, die aus den geöffneten Tempeltoren drangen und die goldgleißenden Götterbilder verschleierten, die im Innern prangten.
Das Ganze ergab ein Bild von so gewaltigem Eindrucke, daß die Europäer sich dem nicht entziehen konnten, zur stolzen Freude des Dschongpen. Auf dem gleichen Wege eilte der Zug nach Lhassa zurück, und an der Tür des ihnen zugewiesenen Hauses empfahl sich der Dschongpen mit vielen Verneigungen. Ein Spalier von Lamas aber flehte den Segen der Götter auf die Gäste und schwang goldene, von Edelsteinen strotzende Weihrauchgefäße, so daß die Ladys sich sofort in ihre Gemächer zurückzogen, während der General mit seinen Begleitern noch einmal zum Lager hinüberritt und das Ganze besichtigte. Sollte doch morgen die Expedition aufgelöst und neu aus Tibetanern, die das Land kannten und das Bergklima gewöhnt waren, zusammengestellt werden.
Sofort meldeten sich Tejbir und Kjel. Die Herren stiegen von den Pferden und schritten an den Feuern entlang. Alles war in bester Ordnung. Kein Fremder war im Lager. Es halten zwar Tibetaner mit der ihnen eigenen Dreistigkeit versucht, sich zu ihren Landsleuten zu gesellen, der Gurkha aber hatte sie mit seiner Donnerstimme sofort hinausbefördert. Vor dem Riesen waren die kleinen gelben Mongolen auf ihren nackten Sohlen wie die Katzen davon geschlichen.
Als Zönlund seinen treuen Kjel sah, fiel es ihm sofort auf, daß der brave Mensch, der sonst stets freundlich über das ganze Gesicht lächelte, wenn er seinen Herrn sah, ziemlich ernst dreinschaute. Er hatte zunächst Sorge, daß sein guter Schildknappe krank werde, aber es sollte anders kommen, als er dachte. Sobald sich nur die Gelegenheit bot, nahm er ihn beiseite und fragte ihn, was ihm wäre.
»Dokting,« lautete die Antwort, »de oll Türke, dem Sie dat Lewen gerettet hebben, de möt Sei hüt noch spreken.«
»Der Sidi Abdallah?« fragte Zönlund verwundert?
»Jau, as ick man segg. Er seggt, er hebbe ganz wat Förchterliches gehürt und hei mühte noch Herrn Dokting hüt Obend spräken. Sei süllen aber bloß rein still swigen. Dat geiht süs üm dat Leben.«
»Gut«, sagte Zönlund, »hal mi bi 'ne lütte Stund röwer nah dat Lager und segg, een Mann wir krank. Hätt' Tejbir wat hürt?«
»Nei,« erwiderte Kjel, »un dei oll Törke säd ok, hei darf nicks weiten.«
Damit schloß das Gespräch, da Russe und seine Offiziere wieder in die Nähe kamen.
Die Herren gingen durch die kühle Frühlingsnacht hinüber zum Hause. Unterwegs meldete Zönlund noch dem General, daß er vielleicht zur Nacht von Kjel nach dem Lager gerufen werden würde, da einer der Leute über Leibschmerzen Klage. Kjel habe ihm zunächst etwas zur Beruhigung gegeben, habe aber von ihm Befehl erhalten, daß er sofort gerufen würde, wenn sich der Zustand des Kranken verschlimmere.
»Der gute Mann wird zu viel gefuttert haben«, meinte der General gut gelaunt. »Ich danke Ihnen aber für Ihren Diensteifer, Herr Doktor. Na, Kallory und Gerving, wir schlafen wie die Murmeltiere. Nicht wahr? Es war doch ein anstrengender Tag. Übrigens, Zönlund, jetzt glaube ich doch an Ihre Lamaserei am Gänsesee. Toll sahen die Kerle aus! Nun, gute Nacht, meine Herren! Schlafen Sie gut! Auch Sie, lieber Doktor!«
Mit kräftigem Händedruck verabschiedete sich der General von den Herren, und jeder suchte sein Zimmer auf. Es lag zu ebener Erde, und Kjel konnte somit, ohne Aufsehen oder Störung zu veranlassen, den Arzt herausklopfen. Zönlund setzte sich an das Fenster und sah in die Sternennacht hinaus. Am Himmel stand der halbe Mond, sonst glitzerten und gleißten die Sterne wie immer, ab und zu sauste eine Sternschnuppe am Himmelsgewölbe entlang.
Die Gedanken kamen und gingen. Was konnte der Mohammedaner von ihm wollen: Daß der Mann mit dankbarer Liebe an ihm hing, wußte er. Aber, was hatte er für ein Geheimnis erlauscht? Da fuhr es ihm wie ein Blitzstrahl durch den Kopf: es ist eine Verschwörung der Inder gegen die Expedition im Wege! Er dachte an die Inder, die auf der »Viktory« beobachtend um Russe und seine Umgebung herumgewesen waren, er dachte an den indischen Radschah, den Kjel auf dem Fest in Benares als einen der Inder vom Schiffe erkannt hatte! Ja, das war das Richtige! Dem so unerschrockenen Manne trat kalter Schweiß auf die Stirn, wenn er die Folgen seiner Gedankenreihe ausdachte. Da klopfte Kjel an das Fenster. Der Arzt steckte einen erprobten Revolver mit Munition in die Tasche, versah sich mit einem Dolche und einem schweren Stocke und trat dann vor das Haus.
Kjel zog ihn an der Hand über den Platz, indem er beschattete Stellen suchte und das Mondlicht nach Möglichkeit vermied. Jetzt waren beide in einem kleinen Wäldchen. An einem Baume stand der Mohammedaner. Er verneigte sich tief vor Zönlund, dann sprach er in fließendem Englisch:
»Herr, dein Diener dankt dir, daß du kamst. Höre mich schnell an. Ich verstehe tibetanisch und war früher mehrere Jahre bei einem Kaufmann hier, so daß ich Lhassa wohl kenne. Heute habe ich gehört, daß im unterirdischen Felsentempel hier, dessen Zugang mir genau bekannt ist, eine Versammlung der Verschworenen stattfindet, die den Untergang der Europäer beschlossen haben. Ich habe zwei Tibetaner belauscht, die sich, vor Freude grinsend, dies erzählten. Wir müssen die Versammlung belauschen. Kommen Sie! Die Zeit eilt!«
»Also doch«, sagte Zönlund leise vor sich hin, dann sprach er zu Sidi Abdallah: »Führe uns. Kjel, kümmst du mit?«
»Na, Herring, ick süll hierblewen?«
Damit schritten die zwei, von Sidi Abdullah geführt, vorwärts.
»Leise«, mahnte der Mann. »Ich kenne indisch, nepalisch und tibetanisch. Wahrscheinlich wird indisch gesprochen, denn ein indischer Fürst soll die Seele der Verschwörung sein.«
»Dat 's de oll jäl Tater, sehens Herring«, flüsterte Kjel.
Der Mohammedaner hatte die beiden Männer zu einer Felswand geführt. Er tastete daran hin und her, plötzlich hatte er gefunden, was er suchte. Eine dicke, teppichartige Wand von wildem Wein schob er beiseite, und ein schmaler Spalt in der Felsenwand wurde sichtbar. Licht schimmerte.
»Folgen Sie mir ruhig,« sagte Sidi Addallah, »ich kenne hier alles, denn ich habe oft für meinen Herrn hier Ware abliefern müssen, Weihrauch und besonders Götzenbilder, die in Europa hergestellt waren. Es ist schon alles beleuchtet, und die Lamas schlafen längst. Bald werden die Verschworenen kommen.«
Ruhig stiegen die drei Männer die Treppe, die sich allmählich verbreiterte, hinab und gelangten bald in einen ungeheuren unterirdischen Felsentempel, der aus dem gewachsenen Boden herausgearbeitet war. Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte mußten vergangen sein, ehe dieses gewaltige Menschenwerk geschaffen war. Zönlund fiel ein, daß er einst ein ähnliches Bild gesehen hatte. Es stellte den unterirdischen Schiwatempel bei Ellora auf der Insel Ceylon dar.
Eine Vorhalle nahm zunächst die Eintretenden auf. In ihr stand eine Springbrunnenschale. Dann trat man durch Säulenstellungen in den eigentlichen Tempel. Hier stand in der Mitte das über und über vergoldete Bild des Gottes Schiwa. Das Seltsamste aber waren die Säulen, die aus dem Marmor herausgearbeitet, die Decke trugen: es waren ungeheure Elefanten, die auf den Hinterbeinen standen. Hunderte von Kerzen spendeten Licht. Vor dem Götterbilde lagen Kissen im Kreise geordnet, in der Mitte, auf den Stufen, die den Untersatz der Götzenstatue trugen, stand ein kostbarer Sessel, aus Elfenbein kunstvoll geschmückt, reich mit Goldzierraten bedeckt, die wieder mit Edelsteinen verschwenderisch übersät waren.
Sidi Abdallah hatte seine beiden Schützlinge in einen kleinen Seitenraum gebracht, von wo sie die Versammlung übersehen und alles hören, selbst aber nicht bemerkt werden konnten. Bei Gottesdiensten hielten sich dort die diensttuenden Lamas auf, die zur Zeit Pausen hatten. Heute war naturgemäß der Raum leer.
Nicht lange Zeit brauchte Zönlund zu warten, da schlürften Schritte. Es waren Tibetaner, in kostbare Gewänder gehüllt, aber barfuß. Ohne ein Wort zu sprechen, nahmen sie auf den bereitliegenden Kissen Platz und sahen grinsend vor sich hin. Mit Erstaunen erkannte Zönlund den Dschongpen unter den Leuten. Wenige Minuten waren verstrichen, als abermals eine Anzahl Männer kam. Es waren nach der Tracht Einwohner von Nepal. Alle aber gehörten ihrem Wesen und ihrer Kleidung nach den höchsten Kreisen an. Wieder verging eine kurze Zeit, als langsam und würdevoll ein Lama den Saal betrat. Ein seidenes Gewand bedeckte den hageren Leib, das Gesicht zeigte hohe Klugheit, es war von Gedankenarbeit durchfurcht. Ehrfurchtsvoll neigten sich die Anwesenden vor ihm.
Still und ernst saß die Versammlung. Dann schallten abermals Schritte. Zwanzig prachtvoll gekleidete Inder, alle mit dem krummen, gefürchteten Säbel bewaffnet, stiegen paarweise die Treppe herab. Den Beschluß machte ein Greis, mit verrunzeltem Gesicht. Er ging mühsam am Stocke, und ihn führte – Zönlund hätte beinahe einen Ruf des Erstaunens ausgestoßen – der Radschah vom Fest in Benares, der Mitpassagier von der »Viktory«. Kjel hatte recht gesehen.
Alle Anwesenden, außer dem Lama, hatten sich von den Sitzen erhoben. Die Inder begrüßten die Versammelten mit tiefen Verneigungen, der mit unerhörter Pracht in weiße Seide, mit Edelsteinen besät, gekleidete Fürst führte den Greis zu dem Thronsessel, auf dem der Alte Platz nahm. Der Radschah blieb neben ihm stehen.
Dann begann der Greis:
»Ich grüße Euch, Freunde! Als wir vor zwei Monden in meinem Hause in Bombay zusammen waren, da habe ich es nicht geglaubt, was mein geliebter Urenkelsohn meldete, daß die verhaßten Peiniger Indiens den Angriff auf unseren heiligen Berg wagen würden. Du hast recht gehabt, Blume meines Daseins, Sonne meines Herzens! Komm denn, ich lege mein Amt nieder! Besteige den geheiligten Thron der Großmogule Indiens, du, des Sonnenreiches mächtiger Kaiser. Und du finde mit den versammelten Vätern die Rettung unserer heiligen Geheimnisse!«
Er küßte den schönen Fürsten auf die Stirn und half ihm selbst auf den Thron. Er aber kauerte, wie gebrochen, auf den Stufen des Schiwabildes nieder und schlug die Hände vor das Antlitz. Schwere Tränen perlten aus seinen Augen.
In strahlender Schönheit, der geborene Herrscher, stand der Fürst auf dem Throne. Er neigte sich vor den Versammelten und sprach ruhig und würdevoll:
»Versammelte Väter! Ich weiß, daß Ihr mit meines Ahnen Bestimmung einverstanden seid. Mein Leben für Indien und seine Nebenlande, mein alles für unsere Freiheit!«
Da erschallte laut jubelnder Zuruf von all den Versammelten. Die Wahl hatte, das bewies das Jauchzen, den richtigen Mann getroffen.
Wieder verneigte sich der Fürst, Ruhe trat ein.
Als alles still war, fuhr der Radschah fort:
»In meiner Ahnen Hause in Bombay versprach der hohe Lama, vor dem ich in Ehrfurcht mich neige, daß er noch zwei Mittel habe, uns zu retten, wenn die Stunde der Gefahr nahe. Die Gefahr ist da! Hier, im heiligen Lhassa steht die Expedition. Morgen wird sie fertig aufgestellt. Ohne Unfall kam sie hierher, denn ihre Führer und die schamlosen Weiber, die sie bei sich haben, verfügen über Mittel, mit denen sie alles bezwingen. Als wir auf geheimen Pfaden hierher eilten, hat doch – unsere Späher arbeiteten gut – der Arzt den Biß der Brillenschlange zu heilen verstanden. Und selbst der Herr des Dschungels, der Herr Tiger, mußte dem Schusse aus des einen Engländers Büchse erliegen. Die Stunde der Not ist da. Der Dalai Lama wolle durch den Mund seines Heiligen reden und uns die geheimen Rettungswege künden, die er in seiner Allweisheit noch kennt.«
Der Priester winkte nur hoheitsvoll dem Dschongpen von Lhassa. Während der Fürst auf dem Thronsessel Platz nahm, erhob er sich, verneigte sich viele Male nach allen Seiten und sprach dann:
»Das eine geheime Mittel habe ich heute selbst überreicht. Es ist der Geleitbrief des Unaussprechbaren an alle Dschongpen. In der Stickerei des Umschlages ist ein Geheimzeichen, das allen meinen Amtsbrüdern die Anweisung gibt, dem Zuge so viel Schwierigkeiten in den Weg zu legen, als es nur gibt.«
Ein Rauschen der Freude ging durch die Versammelten. Doch schon erhob sich der Fürst und sprach:
»Meine Brüder! Ihr kennt noch nicht, wie ich, die Engländer. Was sie wollen, setzen sie durch! Das Leben anderer, ja, ihr eigenes, sogar das ihrer schamlosen Weiber, die unverschleiert in Männeranzügen reiten, marschieren, jagen und mit den Männern lagern, gilt ihnen nichts, wenn es Englands Größe gilt. Mit den Dschongpen werden sie fertig. Aber ich weiß, der heilige Prophet, den zu sehen mir ein hohes Geschenk Schiwas ist, weiß noch ein anderes Mittel. Es wird die Rettung sein. Ich bitte, daß er es enthülle!«
Düsteres Schweigen lag über der Versammlung.
Da erhob sich der Priester. Ein triumphierendes Lächeln lag auf seinem geistvollen Gesichte. Ruhig blickte er die Versammlung an, ruhig sah er dem Fürsten in das schöne Antlitz.
Dann begann er zu sprechen, und in köstlichem Wohllaut und mit hinreißender Macht klang seine Rede:
»Wohlan denn! Es sei das Geheimnis enthüllt! Wenn ihr die Mutter der Erde, Tschomo-lugma, kennen würdet, wie wir, die wir ihr nahe sind und sie beobachten jede Stunde unseres kurzen Lebens, so würdet ihr wissen, daß sie selbst jeden Angriff abwehrt. Der himmelragende Riese, der höchste Berg der Erde, weiß, wie er sich und unsere Geheimnisse hütet gegen die Blicke der neugierigen Teufel Europas. Er wird, wenn sie ihm nahen, trotz ihrer kunstvollen Zaubermittel, die sie mitbringen, sie mit seinen Stürmen, Regen und seinen Schneemassen zerschmettern. Aber, das ist noch nicht das, was ich als Geheimnis Euch mitteilen darf. Wohlan denn, hört es! Wir senden erprobte Späher, die im Steigen und Klettern geübt sind, ja, die schon bei früheren Zügen der verruchten Engländer mit beteiligt waren und deren Kletterkünste gelernt haben, neben dem jetzigen Zuge her. Sie werden den vordersten noch immer voran sein. Sicher werden den letzten Aufstieg die beiden uns so verhaßten Kallory und Gerving machen. Und sind sie an den goldgleißenden Hängen der Spitze des heiligen Berges, sind sie soweit, daß es den zurückgebliebenen Gefährten erscheint, als sei der Sieg sicher, dann werden unsere Landsleute nochmals zu den Göttern, zur Tschomo-lungma beten. Und wenn der heilige Gipfel auch dann nicht sich wehrt, dann werden unsere Leute selbst die Verteidigung unserer Heiligtümer übernehmen. Dann werden sie Eis- und Schneemassen hinunterwälzen auf die frechen Steiger und werden sie ersticken in den eisigen Früchten des Tschomo-lugma. Ihre schamlosen Weiber aber werden wir gleichzeitig rauben. Dann haben wir ein Pfand für Indiens Freiheit. Denn der alberne Europäer ist der Knecht des Weibes!«
Der Redner verneigte sich vor dem Fürsten und nahm ruhig Platz. Jetzt aber hallte ein Jubelschrei durch den Felsentempel, der von dessen Wänden tausendfach widerhallte und wohl noch nie mit solcher Inbrunst in den unterirdischen Hallen ausgestoßen worden war.
Immer wieder brachen die Jubellaute aus, und am entzücktesten von allen schien der greise Ahn des Fürsten zu sein. Wieder und wieder umarmte er seinen Urenkel. Freudentränen rannen über seine gefurchten Wangen und mit jubelnder Stimme rief er, zum Götterbilde gewendet aus:
»Du Allererhabenster segnest uns, Indien wird frei!«
»Indien wird frei,« riefen die Versammelten wie aus einem Munde.
Donnernd schallte der Jubelruf von den Wänden des Felsentempels wieder. Dann verneigten sich die Versammelten vor dem Fürsten, und in langem Zuge, zu zweien nebeneinander, schritten dem Fürsten nach, der seinen Ahnen führte, die Mitglieder der Versammlung aus dem Tempel die Stufen empor.
Todesstille herrschte. Die Kerzen waren fast niedergebrannt.
Da flüsterte Sidi Abdallah zu Zönlund: »Wir müssen eilen. Gleich kommen die Lamas und holen die Reste der Kerzen, sie sind ihre Beute.«
Leise schlichen die drei Männer die Treppen empor, zum Tempel hinaus. Der Mohammedaner und Kjel geleiteten beide noch Zönlund zu seiner Wohnung, wo sich Kjel mit den Worten verabschiedete:
»Kieken's, Dokting, ick heff doch glicks siehn, wat mit den ollen Tater wier!«