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Siebente Vorlesung.
Chemische Dynamik

Die zeitlichen Erscheinungen – Wenzels Grundlegung – Pause – Wilhelmy – Kennzeichnung seiner begrifflichen Arbeit – Bedeutung des Problems – Spätere Forscher – Die Esterbildung – Neuer Anfang – Anwendung der Energetik – Katalytische Vorgänge – Geschichte – Begriffsbildung durch Berzelius – Angriff durch Liebig – Das Hefe-Problem – Hemmung durch die Atomhypothese – Wichtigkeit der Katalyse – Freimachung durch angemessene Begriffsbildung – Definition der Katalyse – Beseitigung vorhandener Schwierigkeiten – Die Dissipationserscheinungen und ihre Theorie – Zwischenreaktionen – Ausblick


Obwohl die chemische Kinetik oder die Lehre von der Geschwindigkeit chemischer Vorgänge sich auf eine viel allgemeinere Erscheinung bezieht, als die Lehre vom chemischen Gleichgewicht, so hat sich doch ebenso wie in der Mechanik die Statik der Chemie viel früher entwickelt als ihre Dynamik. Dies liegt in beiden Fällen daran, dass die Auffassung der Erscheinungen als zeitlicher sich auf ihr veränderliches Stadium bezieht und daher auch notwendig verwickelter ist, als die Statik, welche zur Voraussetzung hat, dass die veränderliche Epoche bereits abgelaufen ist.

Immerhin reicht der erste Versuch, auch die veränderlichen chemischen Vorgänge gesetzmässig zu erfassen, in eine sehr frühe Periode unserer geschichtlichen Entwicklung zurück. Er ist mit dem Namen K. F. Wenzels verknüpft, der, wie man sieht, auch sehr wohl für sich zu Ehren kommt, ohne des ihm nicht gehörenden, wenn auch ohne seine Schuld ihm zugeschriebenen Gesetzes der Äquivalentmengen (S. 51) zu bedürfen.

Bereits in Veranlassung des Massenwirkungsgesetzes ist von jenem bemerkenswerten Gedanken Wenzels, die Geschwindigkeiten der Einwirkung verschiedener Säuren auf Metalle von gleicher Gestalt und Oberfläche zu messen und daraus Schlüsse auf deren Stärke oder Affinität zu ziehen, die Rede gewesen. Auch wurde berichtet, wie richtig und rationell Wenzel die Bedingungen seines Vorschlages zu fassen gewusst hat. Leider hat aber die Geschichte nur den Vorschlag, nicht die Ausführung aufbewahrt. Ich habe vergeblich sein Werk daraufhin durchgesehen, ob er nicht wirkliche Messungen von Reaktionsgeschwindigkeiten nach seinem Verfahren angestellt hat; doch habe ich nichts finden können. Man muss somit vermuten, dass Wenzel zwar möglicherweise Versuche angestellt hat, sie aber nicht übereinstimmend oder sonst, seinen Erwartungen entsprechend gefunden und deshalb von ihrer Veröffentlichung abgesehen hat. Wissen wir doch, dass noch heute das Problem der Auflösung von Metallen in verdünnten Säuren keineswegs in kinetischem Sinne als gelöst angesehen werden kann und dass es hier noch gilt, gewisse allgemeine Verhältnisse aufzuklären, die wir zurzeit noch nicht genau erfasst haben.

Nach diesem ersten hoffnungsvollen Anfange, der nur einer experimentellen Entwicklung bedurft, hätte, um schon in sehr früher Zeit Früchte zu liefern, tritt eine sehr lange Pause ein, die nur durch eine vereinzelte Bemerkung theoretischen Inhaltes unterbrochen wird. In Berthollets Statique chimique findet sich eine Erwähnung der langsamen chemischen Vorgänge als der »Fortpflanzung« chemischer Reaktionen, die in Parallele gesetzt wird mit der Fortpflanzung der Wärme. Bemerkenswert ist die Parallele, die Berthollet zwischen den von ihm betrachteten chemischen Vorgängen und dem Wärmeverlust durch Strahlung (der in der Theorie sogenannten äusseren Wärmeleitung) zieht. Für diesen Vorgang hatte Newton das Gesetz aufgestellt, dass die ausstrahlende Wärmemenge proportional ist dem vorhandenen Temperaturunterschiede, woraus sich denn durch mathematische Analyse ergibt, dass die Erkaltungsgeschwindigkeit proportional dem Logarithmus der Zeit ist. Dies ist in der Tat formal das Gesetz der einfachsten chemischen Vorgänge, wenn man deren Geschwindigkeit mit der Erkaltungsgeschwindigkeit in Parallele setzt. Indessen findet sich bei Berthollet noch keine allgemeine Begriffsbestimmung der Reaktionsgeschwindigkeit und erst etwa ein halbes Jahrhundert später wurde dieser Begriff sachgemäss in die Chemie eingeführt.

Es handelt sich wiederum um eine fundamentale Arbeit seitens eines weiterhin ganz unbekannt gebliebenen Mannes, namens Wilhelmy. Nichts kennzeichnet so deutlich die Neuheit der allgemeinen Chemie als anerkannte Wissenschaft, als diese geringe Bekanntheit ihrer grossen Namen. Während die Begründer der astronomischen Wissenschaft ganz allgemein bekannte Gestalten sind und die Unkenntnis solcher Namen, wie Kopernikus, Kepler und Newton als Zeichen einer fast undenkbaren Unbildung angesehen wird, sind Namen wie Richter, Wenzel, Wilhelmy unbekannt und der »Gebildete« würde lächelnd oder entrüstet die Zumutung von sich weisen, etwas von diesen Männern wissen zu sollen. Ja, es muss sogar die Befürchtung ausgesprochen werden, dass es eine nicht geringe Anzahl von tüchtigen Chemikern gibt, die sich für gute Kenner ihres Faches halten und auch allgemein dafür angesehen werden, und die dennoch in Verlegenheit geraten würden, wenn man ihnen von dem genialen Scharfsinn des einen und der grundlegenden Arbeit des anderen sprechen wollte.

Wilhelmy war ein Physiker aus dem Kreise der jungen physikalischen Gesellschaft in Berlin, dem Helmholtz, Brücke, Wiedemann, Magnus und andere angehörten, und von dem zu einem erheblichen Teile die spätere Entwicklung der Physik in Deutschland ausgegangen ist. Er war ein wohlhabender Liebhaber der Wissenschaft, der keiner Universität als Professor angehört hat, und der seine Mittel gern zur Beschaffung neuer und interessanter Apparate verwendete. So hatte er unter anderem ein Polarimeter gekauft, dessen Anwendung zur Messung der Konzentration von Zuckerlösungen damals eben durch die langen und vielseitigen Arbeiten des französischen Physikers Biot (1774 bis 1862) dargelegt worden war. Biot hatte in einer gemeinsam mit Persoz durchgeführten Arbeit gezeigt, dass man die Umwandlung des Rohrzuckers in andere Zuckerarten (Invertzucker) ohne jeden Eingriff in das reagierende System leicht durch Beobachtung der optischen Drehung einer mit Säure versetzten Lösung: verfolgen kann und hatte ferner auf das Interesse hingewiesen, das mit einer eingehenden Untersuchung dieser Vorgänge verbunden sein würde. Wilhelmy hatte mit seinem schönen neuen Apparate diese merkwürdigen Vorgänge sich angesehen, und bei seiner mathematischen und theoretischen Geistesanlage benutzte er alsbald die Gelegenheit, auf diese bequeme und angenehme Weise in ein ganz unbekanntes Land einzudringen. Allerdings musste er für diesen Zweck sich erst einen Weg bahnen; er tat dies, indem er die erforderlichen Begriffsbildungen vornahm.

Uns Nachfahren erscheint es als eine leichte Aufgabe, die Gesetze der Zuckerinversion auf solchem Wege zu entdecken; man braucht eben nur nachzusehen, wie die Geschwindigkeit der Reaktion von der Zuckermenge abhängt, und die Sache ist gemacht. Nur ist dabei noch nicht in Betracht gezogen, dass der Begriff der Reaktionsgeschwindigkeit selbst noch nicht gebildet war und erst aus einer gewissen Vorausnahme des noch nicht vorhandenen Resultats entstehen konnte. Ebenso wie der Chemiker, der ein Reaktionsgemisch oder ein natürliches Gemenge auf neue Substanzen untersucht, oder der synthetisch ein noch unbekanntes Produkt gewinnen will, seine Arbeit so führen muss, dass er dabei auf die Eigenschaften des neuen Stoffes, die er noch gar nicht kennt, passende Rücksicht nimmt, so muss der Theoretiker eine Begriffsbildung in einem neuen Gebiete ausführen noch bevor er weiss, ob der neugebildete Begriff gerade der angemessenste ist. Die ausserordentliche Begabung, die man Genialität zu nennen pflegt, zeigt sich dann in der Wirkung einer instinktartigen Bevorzugung solcher Massnahmen, die auf geradestem Wege zu dem noch unbekannten Ziele führen. Tatsächlich besteht dieser chemische und allgemein wissenschaftliche Instinkt in Analogieschlüssen, deren Einzelheiten dem Forscher nicht zu Bewusstsein kommen. Dass solche geistige Operationen nicht nur möglich, sondern sogar sehr häufig und dementsprechend sehr wichtig sind, davon kann man sich auf allen Gebieten der geistigen Betätigung überzeugen. Wenn der geübte Maler vor der Natur die Aufgabe löst, einen bestimmten Farbeton durch Vermischen seiner Farbstoffe herzustellen, so sagt er sich nicht etwa: hierzu muss ich roten Ocker mit Ultramarin und Kremserweiss nehmen, sondern sein Pinsel fährt ohne weiteres in die betreffenden Farbhäufchen und er führt die Mischung aus, während er möglicherweise bewusst an ganz andere Dinge denkt. Ebenso häufen sich bei dem Forscher unter Beihilfe eines besonders guten und schnell reproduzierenden Gedächtnisses (ohne welches ein erfolgreicher Forscher gar nicht denkbar ist) Erfahrungsschlüsse an, deren einzelnen Stufen gar nicht mehr in das Bewusstsein treten, und deren Ergebnis nicht ein Gedanke, sondern eine unmittelbar vollzogene experimentelle Operation ist.

In dem vorliegenden Falle müssen wir also den wesentlichsten Teil der geistigen Arbeit, die mit der Entdeckung des Grundgesetzes der chemischen Kinetik verbunden war, in der Schaffung des geeigneten Grundbegriffes, des der Reaktionsgeschwindigkeit, erblicken. Unter einer solchen chemischen Geschwindigkeit ist das Verhältnis zwischen der Änderung der Konzentration und der dazu erforderlichen Zeit zu verstehen. Die gewöhnliche Definition heisst, dass es sich um das Verhältnis der umgewandelten Stoffmenge zu der Zeit handelt. Dann aber müsste offenbar, wenn wir ein reagierendes Gebilde im Verhältnis 1:3 in zwei Anteile sondern, die Geschwindigkeit im zweiten Anteile dreimal so gross sein, wie im ersten, denn es wandelt sich in jenem die dreifache Menge in derselben Zeit um, was natürlich nicht gemeint ist. Es sind also offenbar relative Mengen zu verstehen, d. h. Mengen, die auf irgendeine Einheit bezogen sind. Als zweckmässigste derartige Einheit dient die des Volumens. Den Einfluss des Volumens hatte bereits Wenzel klar eingesehen, indem er den Satz aussprach, dass unter sonst gleichen Umständen der wirkende Stoff in demselben Verhältnisse mehr Zeit für die gleiche Wirkung braucht, als er verdünnt wird.

Genau den gleichen Ansatz versuchte Wilhelmy für den von ihm untersuchten Vorgang, die Inversion des Rohrzuckers. Er nahm an, dass in dem gleichbleibenden Volumen seiner angesäuerten Zuckerlösung die Umwandlungsgeschwindigkeit proportional der Konzentration des noch unverändert gebliebenen Zuckers ist, so dass die in der Zeiteinheit umgewandelte Menge der jeweils vorhandenen Zuckermenge proportional ist, oder mit anderen Worten, dass in der Zeiteinheit stets der gleiche Bruchteil der eben vorhandenen Menge umgewandelt wird. Nennt man Z die Konzentration des zurzeit T vorhandenen Zuckers und dZ die in der Zeit dT umgewandelte Zuckermenge, so lautet der Ansatz dieser Annahme

dZ/dT = kZ,

wo k eine Konstante ist, die von verschiedenen Umständen abhängt, welche während des Vorganges als unveränderlich angenommen werden.

Beim Vergleich der angestellten Messungen mit dieser Formel ergab sich eine vorzügliche Übereinstimmung; sogar die langsame Veränderung der Temperatur während des Versuches konnte durch eine entsprechende Veränderung der Reaktionsgeschwindigkeit erkannt werden.

Wilhelmy stellte sich alsbald auch die Frage, ob die von ihm bei der Zuckerinversion gefundene Gesetzmässigkeit allgemeine Beschaffenheit hätte. Er beantwortete sie bejahend; sind doch in der Tat beim Ansatz der Reaktionsgleichung keine besonderen Voraussetzungen gemacht worden, die etwa von der besonderen Beschaffenheit des untersuchten Vorganges abhängen, sondern nur die allgemeine, dass die Reaktionsgeschwindigkeit von dem beteiligten Stoffe in der denkbar einfachsten Weise abhängt, indem sie seiner Konzentration proportional gesetzt wird. Es ist dies die gleiche Annahme, welche Wenzel mehr als 70 Jahre früher gemacht, aber leider nicht experimentell belegt hatte. Da Wenzel ganz andere Vorgänge im Auge hatte, als die damals noch gar nicht bekannte Zuckerinversion, so lässt sich die grosse Allgemeinheit jener Voraussetzung deutlich erkennen.

Fragt man sich, warum diese einfache Sache so lange Zeit gebraucht hat, um überhaupt entdeckt zu werden, so ist die nächstliegende Antwort die, dass während der ganzen Zwischenzeit wesentlich andere Fragen und Aufgaben die wissenschaftliche Chemie beschäftigten. Es war eine ganz andere Denk- und Arbeitsweise, in welcher die Chemiker jener Zeit lebten, und noch heute gilt manchem bedeutenden Forscher, der in jener Richtung gross geworden ist, nur diese als die eigentliche oder reine Chemie, während der Arbeit an Problemen, wie das vorliegende, zwar ein theoretisches Wohlwollen und ein gewisser Anspruch auf einen Platz in dem grossen Gebiete der menschlichen Wissenschaft zuerkannt wird, jedoch mit der strengen Anforderung, dass der Geist der reinen Chemie durch solche fremdartige Zutat nicht verunreinigt werde.

Ein anderer Grund für die langsame Entwicklung der Angelegenheit ist in dem Umstande zu suchen, dass die in früheren Zeiten fast ausschliesslich bearbeiteten Reaktionen zwischen Salzen so schnell verlaufen, dass ihre Geschwindigkeit bisher überhaupt noch nicht hat gemessen werden können. Erst die organische Chemie hat die genauere Kenntnis langsam verlaufender Vorgänge gebracht. Ist doch die ganze präparative Technik der organischen Chemie gekennzeichnet durch Einrichtungen, um die zur Erhöhung der Reaktionsgeschwindigkeit erforderlichen Temperaturerhöhungen ohne gleichzeitige Verdampfung der meist flüchtigen Stoffe durchführen zu können. So hat nicht nur Wilhelmy seine grundlegende Arbeit an einem Vorgange der organischen Chemie gemacht, sondern wir werden auch in der Folge sehen, dass aus diesem Gebiete bei weitem die meisten anderen Fälle hergenommen sind, an denen sich das Problem weiter entwickelt hat. In der Tat sind es von den anorganischen Reaktionen fast nur die Oxydations- und Reduktionswirkungen, an denen sich so mässige Geschwindigkeiten finden lassen, dass ihre Untersuchung im Sinne der chemischen Kinetik ausführbar wird.

Sucht man sich anderseits ein Bild von der etwaigen Bedeutung einer genaueren Kenntnis der Gesetze der chemischen Reaktionsgeschwindigkeit zu machen, so erhebt sich neben dem allgemein wissenschaftlichen Interesse, das jeder genaueren Kenntnis natürlicher Vorgänge anhaftet, noch folgende Überlegung hervor. Einerseits ist es für die Technik von hoher Bedeutung, die Gesetze der Reaktionsgeschwindigkeit zu kennen, da nur auf solcher Kenntnis die systematische Beherrschung der benutzten Vorgänge, die ja alle in der Zeit verlaufen, möglich ist. Insbesondere für langsame Reaktionen ist dies wichtig, um womöglich ihre Beschleunigung zu erzielen, denn Zeit ist Geld in der chemischen Industrie ebenso wie in jeder anderen. Sodann aber beruht die Organisation der Lebewesen in allererster Linie auf der gegenseitigen Regulation der chemischen Reaktionsverläufe. Es ist ja bekannt, dass chemische Energie die Form ist, in welcher alle Organismen die von ihnen verwendeten Energien in Vorrat besitzen; alle Betätigung der Organismen kommt also darauf hinaus, dass sie chemische Energie mit einer bestimmten Geschwindigkeit, die dem augenblicklich vorliegenden Zwecke gerade angemessen ist, in andere Energieformen verwandeln. Welche Wichtigkeit gerade die genaue Bemessung der Reaktionsgeschwindigkeit hat, wird durch die verwickelten Einrichtungen ersichtlich, die gerade die höchstentwickelten Organismen, die beiden oberen Klassen der Wirbeltiere, besitzen, um ihre Temperatur konstant zu halten. Ein Zustand, für dessen Erhaltung bei diesen höchsten Organismen der grösste Teil der Nahrungsenergie verwendet wird, und der doch, wie die Existenz der Kaltblüter zeigt, keineswegs unumgänglich notwendig für das Leben überhaupt ist, muss eine besondere Wichtigkeit für die höheren Funktionen haben. Ich kann diese Wichtigkeit in nichts anderem erkennen, als dass durch diese hohe und konstante Temperatur der Ablauf der chemischen Vorgänge in all den verschiedenen Organen auf ganz bestimmte, zweckmässigste Geschwindigkeiten eingestellt und erhalten wird. Neuere Forschungen auf sehr verschiedenen Gebieten haben gezeigt, dass organische Reaktionen aller Art, der Rhythmus der Herzschläge, nicht minder als die Assimilation der Kohlensäure bezüglich ihres Zeitverlaufes in ganz ähnlicher Weise durch die Temperatur beeinflusst werden, wie die chemischen Reaktionen unserer Laboratoriumsversuche. Dieser Temperatureinfluss auf die Reaktionsgeschwindigkeit ist ausserordentlich gross. Es gibt in der Tat kaum eine andere Grösse, welche sich so stark mit der Temperatur ändert, wie die chemische Reaktionsgeschwindigkeit: eine Erhöhung um zehn Grade pflegt sie zu verdoppeln, während beispielsweise das Volumen der Gase, das ja gleichfalls sehr deutlich von der Temperatur beeinflusst wird, durch die gleiche Temperaturerhöhung sich nur um einige Prozente ändert, und eine Erhöhung von 273° nötig ist, um das Volumen zu verdoppeln.

Die Untersuchung von Wilhelmy blieb gänzlich unbeachtet, wie wir das bei derartigen Arbeiten schon gewohnt sind zu erfahren, obwohl sie in den sehr verbreiteten Annalen der Physik von Poggendorff, die damals noch Annalen der Physik und Chemie hiessen, veröffentlicht worden war. Auch ist sie von den späteren Forschern, welche ähnliche Probleme bearbeitet haben, nicht gekannt oder erwähnt worden, und erst in neuester Zeit, nachdem dieser Wissenszweig soweit entwickelt war, dass man begann, sich um seine Geschichte zu kümmern, ist die fundamentale Arbeit zutage gekommen. Wer weiss, ob nicht möglicherweise in einem nie gelesenen Bande irgendeiner Akademie oder naturforschenden Gesellschaft späterhin ähnliche vergessene Forschungen entdeckt werden, welche die älteste Geschichte der chemischen Kinetik um ein neues Kapitel vermehren würden.

Zunächst ist aus der bekannten Geschichte eine weitere Arbeit zu nennen, welche ihrer Zeit gleichfalls vergessen war, aber inzwischen entdeckt worden ist. Sie behandelt den gleichen Fall, wie die von Wilhelmy, nämlich die Inversion des Rohrzuckers; die Messungen sind aber durch chemische Analyse (Einwirkung auf Fehlingsche Lösung) ausgeführt. Die Autoren heissen Löwenthal und Lenssen; sie haben ihre Abhandlung 1852 im Journal für praktische Chemie veröffentlicht und damit ebensowenig Beachtung gefunden, wie Wilhelmy. Auch sind sie anderweit durch wissenschaftliche Forschungen nicht erheblich hervorgetreten. Ihre Arbeit steht theoretisch nicht auf der bereits durch Wilhelmy erreichten Höhe, indem ein Ansatz eines allgemeinen Gesetzes der Reaktionsgeschwindigkeit nicht versucht wird. Dagegen finden sich sehr viele Einzeltatsachen über die Wirkung verschiedener Säuren und verschiedener anderer Zusätze auf Rohrzucker. Um vergleichbare Ergebnisse zu erlangen, haben diese Forscher stets Parallelversuche angestellt, indem sie die zu untersuchende Reaktion gleichzeitig mit einer Normalreaktion in Gang brachten und auch gleichzeitig unterbrachen: der Versuch, bei welchem die grössere Zuckermenge invertiert war, enthielt die wirksamere Kombination.

Erst eine dritte Arbeit erregte soweit die Aufmerksamkeit der Fachgenossen, dass sie schon bald nach ihrer Veröffentlichung als zum Bestande der bekannten und anerkannten Wissenschaft gehörig angesehen wurde.

Dies dürfte ebensowohl dem Namen des führenden Forschers wie dem Gegenstande, an welchem die Arbeit ausgeführt wurde, zuzuschreiben sein. Jener Forscher war M. Berthelot (1827-1907), der sich bereits durch eine Anzahl wichtiger Untersuchungen aus der organischen Chemie berühmt gemacht hatte; für die hier zu besprechende Arbeit hatte er sich mit Péan de St. Gilles vereinigt. Das Material, an welchem die Beobachtungen gemacht wurden, war die Verbindung organischer Säuren mit Alkoholen zu Estern: eine Reaktion, die für die ältere Geschichte der organischen Chemie ungefähr die gleiche Bedeutung hat, wie die Salzbildung für die Geschichte der allgemeinen Chemie. Die Abhandlungen, in denen die sehr umfangreichen Untersuchungen niedergelegt sind, erschienen 1862 und 1863.

Wenn man eine Säure, z. B. Essigsäure, und einen Alkohol, z. B. Äthylalkohol miteinander zusammenbringt, so verhalten sie sich trotz der formalen Ähnlichkeit der Esterbildung mit der Salzbildung keineswegs wie Säure und Base, die sich alsbald vereinigen, sondern bei gewöhnlicher Temperatur ist in der ersten Zeit überhaupt keine Reaktion zu bemerken, und erst sehr langsam beginnt die Säure unter Esterbildung zu verschwinden, was man durch Titrieren mit Alkali feststellen kann. Hält man die Temperatur unverändert, so setzt sich der Vorgang in immer langsamerem Tempo während einer ganzen Reihe von Jahren fort und nähert sich asymptotisch einem Gleichgewichtszustande, bei dem etwa zwei Drittel der genannten Stoffe (wenn man sie in äquivalenten Mengen angesetzt hatte) sich zu Ester und Wasser umgewandelt haben, während das letzte Drittel unverbunden bleibt. Dieser Zustand bleibt fernerhin unverändert.

Stellt man den gleichen Versuch bei höherer Temperatur an, so verläuft er in gleicher Weise, nur entsprechend schneller. Der Gleichgewichtspunkt, bei welchem die Reaktion stehen bleibt, ist von der Temperatur ziemlich unabhängig. Dagegen ist er von der Natur der reagierenden Stoffe abhängig, so dass bestimmte Beziehungen zur Konstitution bestehen. Doch gehört dies zur Stöchiometrie und nicht zur chemischen Kinetik.

Wie man sieht, hat man es hier mit einem viel verwickelteren Falle zu tun, als ihn die Inversion des Rohrzuckers darstellt. Letztere erfolgt unter solchen Umständen, dass die Veränderung der Zuckermenge und daher der Zuckerkonzentration die einzige Veränderung ist, die während der ganzen Reaktion stattfindet oder in Betracht kommt. Chemisch wird der Vorgang durch die Gleichung C12H22O11 + H2O = 2 C6H12O6 dargestellt, wo die auf der rechten Seite entstehenden C6H12O6 gleiche Teile Dextrose und Lävulose bedeuten. Hierbei verschwindet allerdings neben dem Rohrzucker auch noch Wasser, doch ist die Änderung seiner Menge, da man meist in verdünnten Lösungen arbeitet, so gering, dass sie nicht messbar in Frage kommt. Ferner erfolgt der Vorgang praktisch vollständigund die entstandenen Produkte können unter den Versuchsumständen sich nicht wieder zu dem Ausgangsstoffe verbinden. Bei der Esterbildung handelt es sich zunächst um zwei Stoffe, Säure und Alkohol, die durch die Reaktion verschwinden und deren Konzentration sich daher gleichzeitig ändert. Ferner wird die Reaktion nie vollständig, sondern endet bereits, bevor die Gesamtmenge der Ausgangsstoffe verbraucht ist. Dies rührt daher, dass umgekehrt Ester und Wasser, wie Berthelot und Péan de St. Gilles ausdrücklich nachgewiesen haben, unter den gleichen Umständen die entgegengesetzte Reaktion, nämlich die Bildung von Säure, und Alkohol bewirken, so dass man statt mit einem Vorgange mit zwei entgegengesetzten rechnen muss.

Von den beiden neuen Problemen, die hiermit auftraten, wurde nur das eine grundsätzlich richtig gelöst. Berthelot nahm an, dass wenn zwei verschiedene Stoffe gleichzeitig ihre Konzentration durch den Vorgang ändern, für die Geschwindigkeit sowohl die eine wie die andere Konzentration massgebend ist, und er setzte daher die Geschwindigkeit proportional dem Produkte beider Konzentrationen. Dies ist vollkommen richtig, und die Erweiterung liegt nahe, dass wenn irgendeine Anzahl verschiedener Stoffe sich derart an einer Reaktion beteiligen, das Produkt aller veränderlichen Konzentrationen die Geschwindigkeit bestimmt. Auch dies hat sich als zutreffend erwiesen. Dagegen gelang es noch nicht, den Umstand, dass zwei entgegengesetzte Reaktionen gleichzeitig möglich sind (und vermutlich auch stattfinden) in zulänglicher Weise zu formulieren.

Der Schwerpunkt der eben genannten Arbeiten liegt ganz vorwiegend im experimentellen Teile, der ein sehr reichliches und mannigfaltiges Zahlenmaterial enthält. So sind denn auch diese Forschungen für die Zukunft insofern wertvoll geworden, als die späteren Theoretiker aus ihr die Unterlagen für ihre Rechnungen entnommen haben.

Von diesen will ich drei nennen, die alle voneinander unabhängig gearbeitet haben und zu gleichen Resultaten gekommen sind. Es sind die Engländer Harcourt und Esson, die Norweger Guldberg und Waage und der Holländer J. H. van 't Hoff.

Die Arbeiten von Harcourt und Esson sind 1866 veröffentlicht worden und zeigen einen hohen Grad von Selbständigkeit. Sie beziehen sich auf Reaktionen aus dem anorganischen Gebiete: Oxydation von Jodwasserstoff durch Wasserstoffperoxyd und von Oxalsäure durch Kaliumpermanganat. Die recht verwickelten Verhältnisse wurden hierbei in mustergültiger Weise klargelegt. Der grundsätzliche Fortschritt, der in dieser Arbeit, wie in denen der genannten anderen Forscher enthalten ist, besteht in der Erkenntnis, dass wenn zwischen den vorhandenen Stoffen mehrere verschiedene Reaktionen möglich sind, dann eine jede Reaktion so verläuft, als fände sie allein nach Massgabe der jeweils vorhandenen Konzentrationen der beteiligten Stoffe statt. Da unter solchen Bedingungen die verschiedenen Konzentrationen von mehreren Vorgängen gleichzeitig abhängen, so werden hierdurch die rechnerischen Verhältnisse zwar ziemlich verwickelt; der Grundsatz selbst bleibt aber stets derselbe und spricht in der Tat die einfachste Annahme aus, die man unter den vorhandenen Bedingungen machen kann.

Guldberg und Waage entwickelten ihre Theorie der Reaktionsgeschwindigkeiten im unmittelbaren Zusammenhange mit dem von ihnen aufgestellten und experimentell belegten Gesetz der chemischen Massenwirkung beim Gleichgewicht (S. 220). In ihrer Arbeit kam dieser wichtige Zusammenhang zwischen beiden Gebieten zuerst klar zutage: ein chemisches Gleichgewicht kann man als das Ergebnis zweier entgegengesetzter Reaktionsverläufe auffassen, und wenn sich die Konzentrationen der beteiligten Stoffe so eingestellt haben, dass durch die eine Reaktion ebensoviel von den Produkten erzeugt, wie durch die entgegengesetzte Reaktion verbraucht wird, so findet keine Veränderung der Konzentrationen mehr statt und es ist ein von der Zeit unabhängiger Zustand, eben das Gleichgewicht erreicht. Das chemische Gleichgewicht ist also ein dynamisches, kein statisches. Dies ist eine Auffassung, die sich seitdem stets bewährt hat. Sie ist von Guldberg und Waage allerdings nicht zum ersten Male ausgesprochen, wohl aber zum ersten Male zu einem richtigen Ansatz in der chemischen Kinetik verwertet worden.

Der gleiche Gesichtspunkt kommt in der etwas später erschienenen entsprechenden Arbeit von van 't Hoff besonders deutlich zum Ausdruck. Während noch Guldberg und Waage sowohl die Reaktionsgeschwindigkeit wie auch das Gleichgewicht als durch chemische »Kräfte« veranlasst darstellen, von denen beide Erscheinungen in übereinstimmender Weise abhängen, fasst van 't Hoff hypothesenfreier und sachgemässer das Gleichgewicht als eine unmittelbare Folge der vorhandenen entgegengesetzt gerichteten Reaktionsgeschwindigkeiten auf.

Damit waren zunächst die theoretischen Grundlagen der chemischen Kinetik gelegt. Wie gewöhnlich in derartigen Fällen wurden die Beispiele, an denen sich diese Grundlagen am deutlichsten in die Erscheinung bringen, erst später gefunden. Sie schienen erst nur spärlich aufzutreten, doch hat insbesondere die Entwicklung der physikalisch-chemischen Messmethoden, durch welche man auf sehr verschiedenartige Weise Einblicke in den Zustand chemischer Gebilde erlangen kann, ohne dass man in deren Bestand auf irgendeine Weise einzugreifen braucht, bald ein reichliches Material ergeben. Da ausserdem die Untersuchungen sich meist auf Fälle richteten, in denen die Reaktionsgeschwindigkeit so gering ist, dass die zum Eintreten messbaren Veränderungen Stunden, ja Tage erforderlich sind, so gelingt es nicht selten, mittelst sehr schnell ausführbarer chemischer Analysen hinreichend genaue Bestimmungen zu machen, obwohl man die vorhandenen Bedingungen ändert. Beispielsweise gewinnt man die erforderlichen Daten über die Esterbildung einfach, indem man den Säuregehalt der Lösungen mit Alkali titriert. Allerdings geht die Esterbildung (bezw. -zersetzung) auch während der Titration vor sich, und das zum Schluss anwesende überschüssige Alkali verseift den vorhandenen Ester, indem es sich neutralisiert. Beide Vorgänge erfolgen aber so langsam, dass sie in keiner Weise die Bestimmung verhindern oder auch nur erheblich erschweren.

Erinnern wir uns aus der letzten Vorlesung des Umstandes, dass das Massenwirkungsgesetz der chemischen Gleichgewichte nicht nur ein Ergebnis der unmittelbaren Beobachtung ist, sondern auch in allgemeiner Weise auf Grundlage des sichersten Wissens, das wir besitzen, aus den beiden Hauptsätzen der Energetik mittelst der Gas- und Lösungsgesetze abgeleitet werden kann, so werden wir uns mit einem gewissen Eifer fragen, ob ähnliches auch für die Gesetze der chemischen Kinetik gilt. Leider muss die Antwort darauf wesentlich verneinend lauten. Zwar die allgemeine Form des Massenwirkungsgesetzes der Kinetik steht allerdings mit dem der Statik insofern im Zusammenhange, als jeder statische Zustand als ein Ergebnis gleich schneller entgegengesetzter Reaktionen aufgefasst werden kann, und insofern ein übereinstimmendes Gesetz die Geschwindigkeiten und die Gleichgewichte bei verschiedenen Konzentrationen regeln muss. Aber ein jedes dynamische Gleichgewicht wird durch ein Verhältnis zweier entgegengesetzter Reaktionen bestimmt, d. h. es könnte die eine von den beiden Reaktionsgeschwindigkeiten jeden beliebigen Wert haben und man kann dennoch die andere so bestimmen, dass das vorgeschriebene Verhältnis zwischen beiden besteht. Somit werden auch die beiden Hauptsätze der Energetik nur derartige Verhältnisse regeln können, nicht aber die Einzelwerte der Geschwindigkeiten; in bezug auf letztere besteht eine zunächst unbegrenzte Freiheit.

Einige Einschränkungen werden wir indessen noch aussprechen können, die mit jenen Verhältniswerten im Zusammenhange stehen. Wir werden beispielsweise fordern müssen, das wenn durch irgendeinen Umstand der Absolutwert der einen Geschwindigkeit eine Beeinflussung erfährt, die gleiche Beeinflussung auch für die entgegengesetzte Reaktion unter den Bedingungen des Gleichgewichts bestehen muss. Wenn beispielsweise die Temperatur auf die eine Reaktion ihren eben angegebenen sehr grossen Einfluss ausübt, so muss erwartet werden, dass auch die entgegengesetzte Reaktion in entsprechender Weise beeinflusst wird. Der Einfluss der Temperatur auf das Gleichgewicht ist nämlich meist nicht sehr gross, wenigstens unvergleichbar geringer, als der auf den Absolutwert der Geschwindigkeit. Ausserdem ist er energetisch berechenbar, indem das Gleichgewicht sich mit steigender Temperatur in ganz bestimmter Weise zugunsten derjenigen Reaktion verschiebt, welche unter Wärmeverbrauch erfolgt. Wenn also diese auf das Gleichgewicht bezüglichen Daten bekannt, bezw. aus anderen energetisch abgeleitet sind, so lässt sich stets aus der einen Geschwindigkeit die andere berechnen. Weiter geht aber die Berechenbarkeit nicht und somit besteht hier ein Punkt, wo sich ganz andere Einflüsse geltend machen können, als die, welche das Gleichgewicht und seine Änderungen bestimmen.

Diesen Umstand muss man im Auge haben, wenn man die absoluten Werte der Reaktionsgeschwindigkeiten untersucht. Handelt es sich um einen Vorgang, der praktisch gesprochen überhaupt nur in einer Richtung erfolgt, so fällt auch die Möglichkeit und damit die Notwendigkeit fort, die Geschwindigkeit der entgegengesetzten Reaktion irgendwie in Betracht zu ziehen und damit verschwindet jene energetische Festlegung des fraglichen Wertes. So wird es uns nicht wundern dürfen, wenn wir finden, dass Umstände, welche keine irgendwie in Betracht kommende Arbeitsleistung bedingen, dennoch die Reaktionsgeschwindigkeit um enorme Beträge ändern können. Gerade diese ausser Verhältnis mit etwaigen Arbeitsleistungen stehenden Umstände, beispielsweise die Anwesenheit geringer Spuren reaktionsfremder Stoffe, haben von jeher das Erstaunen derjenigen erregt, denen zufällig solche Beeinflussungen zu Gesicht kamen und die entsprechenden Erscheinungen sind lange als wunderbar und mit dem regulär zu Erwartenden in Widerspruch angesehen worden, bis die eben dargelegte allgemeine Auffassung ihnen das Unverständliche nahm und den Weg zu ihrer Erklärung ebnete.

Es handelt sich hier um die sogenannten katalytischen Vorgänge. Noch vor wenigen Jahren setzte sich jeder Chemiker, der das Wort katalytisch zu benutzen wagte, dem Vorwurfe der Unwissenschaftlichkeit aus, der um so bereitwilliger erhoben wurde, je weniger der betreffende Tadler selbst von der Sache verstand. Jetzt ist dies bereits wesentlich anders geworden und das lange verpönt gewesene Wort wird regelmässig angewendet, wie irgendein anderer wissenschaftlicher Terminus, der seine klare Definition und seinen regelmässigen Inhalt erhalten hat. Die Geschichte dieser Angelegenheit beginnt ziemlich früh: bereits im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts. Damals teilte der Apotheker Kirchhoff in St. Petersburg mit, dass durch Kochen mit verdünnten Säuren Stärke erst in »Gummi« (Dextrin) und dann in Zucker übergeht. Abgesehen von dem technischen Interesse, welches diese Entdeckung erregte, waren auch derartige Erscheinungen ganz unbekannt. Denn Kirchhoff hatte gleichfalls mitgeteilt, dass die angewandte Säure hierbei gar keine Veränderung erleidet; man kann sie unvermindert aus der zuckerhaltigen Flüssigkeit wieder gewinnen. Ferner entwickelt sich auch kein Gas bei der Reaktion und es wird kein Sauerstoff aufgenommen, denn man kann die Umwandlung bei offenen wie geschlossenen Gefässen durchführen. Endlich ist auch das Gewicht des entstehenden Zuckers nicht geringer, als das der angewendeten Stärke, man bekommt eher etwas mehr, doch lässt sich dies bei der syrupartigen Beschaffenheit des Zuckers nicht gut feststellen.

Die Zweifel, welche anfangs bezüglich der Richtigkeit dieser Meldung auftauchten, wurden bald zerstreut, denn die Versuche wurden vielfach wiederholt und bestätigt. Auch wurde gefunden, dass es zwar nicht unbedingt auf die Natur der Säure ankommt, denn man erhält beispielsweise Zucker ebensogut mit Salzsäure wie mit Schwefelsäure, aber die Natur der Säure macht sich doch unter Umständen geltend, denn Phosphorsäure wirkte viel schwächer und mit Essigsäure hat man überhaupt keine Zuckerbildung erreicht. Anderseits wird Stärke bereits bei langem Kochen mit reinem Wasser allmählich verwandelt, doch nur in »Gummi«.

Es blieb der Wissenschaft damals nichts übrig, als diese Tatsachen zu registrieren, ohne einen Versuch zu ihrer Deutung zu machen. Die Industrie bemächtigte sich bald dieser wissenschaftlich so geheimnisvollen Entdeckung und verwertete sie, lange bevor die Erklärung gefunden wurde.

Etwa ein Jahrzehnt später wurde auf ganz anderem Gebiete eine Reihe von Tatsachen entdeckt und beschrieben, die mit der eben erwähnten zunächst nichts als ihre Unverständlichkeit gemein zu haben schienen. Der französische Chemiker Thenard hatte bei der Einwirkung verschiedener Säuren auf Baryumperoxyd Lösungen erhalten, die sehr merkwürdige Eigenschaften aufwiesen. Salze des Baryumperoxyds konnten es nicht sein, denn man konnte mit Schwefelsäure alles Baryum aus der Lösung ausfällen, dass nur die angewendeten Säuren zurückblieben, doch blieben auch jene Eigenschaften bestehen. Er glaubte daher, dass es sich um Verbindungen der verschiedenen Säuren mit dem überschüssigen Sauerstoff des Baryumperoxyds handelte und beschrieb seine Erfahrungen zunächst in der Auffassung, dass er eine ganze Reihe neuer Säuren entdeckt habe, die alle von den gewöhnlichen sich durch einen Mehrgehalt von Sauerstoff unterschieden, im übrigen aber mit ihnen in den meisten chemischen Reaktionen übereinstimmten. Schliesslich überzeugte er sich, dass die neuen Eigentümlichkeiten auch bestehen blieben, wenn er aus den Lösungen die freien Säuren entfernte, und so kam er zu der Entdeckung des Wasserstoffperoxyds, das sich bei der Einwirkung von Säuren auf Baryumperoxyd bildet.

An und für sich ist es ja nicht besonders wunderbar, dass Wasserstoff ausser dem Wasser noch eine andere Verbindung mit dem Sauerstoff zu bilden vermag. Das Wunderbare war, dass die neue Verbindung für sich in ihrer wässerigen Lösung ziemlich beständig verhielt, ihren Sauerstoff aber unter stürmischem Aufbrausen, das sich bis zur Explosion steigern konnte, verlor, wenn man gewisse Stoffe in die Lösung brachte, die ihrerseits durchaus nicht sauerstoffbedürftig waren und überhaupt dabei gar keine Veränderung erfuhren. Solche Stoffe waren beispielsweise Platinschwamm oder Braunstein d. h. Manganperoxyd. Diese waren aber keineswegs die einzigen, welche die merkwürdige Wirkung ausübten; frisch hergestelltes Fibrin aus Blut war ganz ebenso tätig, das Wasserstoffperoxyd zu zersetzen, ohne selbst hierbei eine Änderung zu erfahren; der Sauerstoff entwickelte sich einfach in Gasform und Wasser blieb zurück.

Auch diese Tatsachen wurden registriert, ohne dass die Wissenschaft ein aufklärendes Wort dazu zu sagen wusste.

Um dieselbe Zeit lebte in Jena ein Chemiker namens Döbereiner, der ein eifriger Experimentator war und mancherlei interessante Versuche erfunden und beschrieben hat. Dieser beobachtete, dass Platinschwamm, den man in den Strahl des in die Luft ausströmenden Wasserstoffgases hält, glühend wird und bei geeigneter Anordnung den Strahl entzündet. Damals gab es keine Zündhölzchen. Man kann sich zwar jetzt einen solchen Zustand kaum vorstellen, doch war es so; wollte man Feuer machen, so musste man Stahl, Stein, Zunder und Schwefelfaden brauchen, wenn man sich nicht eines der neuerfundenen Fixfeuerzeuge bedienen wollte, die meist nicht gingen oder einem durch unerwartete Explosionen die Finger verbrannten. Diese reinliche Art, Feuer zu bekommen, gefiel dem praktischen Professor ausserordentlich und so konstruierte er einen kleinen selbstregulierenden Wasserstoffentwickler, auf dem nebst einem Hahn eine Pille von Platinschwamm so angeordnet war, dass beim Öffnen des Hahns die Schutzkappe auf der Platinpille abgehoben und der Wasserstoffstrahl entzündet wurde. Diese Erfindung hat in nahezu unveränderter Gestalt nunmehr ein Jahrhundert überdauert und ist noch keineswegs ausser Gebrauch gesetzt. Ja, in den modernen selbsttätigen Gasanzündern hat sie in den letzten Jahren eine Wiederauferstehung gefeiert, durch welche die ohnedies schon viel zu grossen technischen Ansprüche auf das spärlich vorhandene Platinmetall eine weitere, sehr unerwünschte Steigerung erfahren haben.

Die bisher beschriebenen Erscheinungen sind verschiedenartig genug, so dass es kein Wunder ist, dass man sie nicht als Ausdrucksweisen eines gemeinsamen Prinzipes erkannte. Und als dies später geschah, war der Anlass dazu eine Untersuchung auf einem scheinbar noch entlegeneren Gebiete.

Aus der Schilderung der Entwicklung des Konstitutionsproblems (S. 82) wird noch in Erinnerung sein, dass die Bildung des Äthers aus Alkohol unter dem entwässernden Einflusse der Schwefelsäure eine sehr wichtige Rolle gespielt hat. Die gleiche Reaktion gab auch auf dem jetzt zur Besprechung stehenden Gebiete Anlass zu einem bedeutsamen Fortschritte. Der Vorgang vollzieht sich bekanntlich so, dass man Alkohol mit Schwefelsäure mischt und destilliert; es geht dann ein Gemenge von Äther und Wasser über. Während der Destillation kann man nun Alkohol in dem Masse nachfliessen lassen, als die umgewandelten Flüssigkeiten abdestillieren und die gleiche Menge Schwefelsäure kann benutzt werden, um fast unbegrenzte Menge Alkohol in Äther und Wasser zu verwandeln.

Die genaueren Einzelheiten dieses merkwürdigen Prozesses wurden im Jahre von Eilhard Mitscherlich (1794 bis 1863) studiert, der die eben angegebenen experimentellen Verhältnisse klarstellte. Hierdurch wurde bewiesen, dass nicht etwa eine einfache wasserentziehende Wirkung der Schwefelsäure vorliegt, denn andere wasserentziehende Stoffe bewirken die Ätherbildung nicht, und ausserdem lässt die Schwefelsäure unter den Versuchsbedingungen gerade soviel Wasser abdestillieren, als sich bildet. Wenn sie also das Wasser nicht festhalten kann, so kann sie es auch nicht entziehen. Ferner besteht durchaus kein festes Verhältnis zwischen der Menge der Schwefelsäure und der des umgewandelten Alkohols. Mitscherlich fasst die Ergebnisse seiner von sehr grosser Unabhängigkeit des Geistes und kritischem Scharfsinne zeugenden Arbeit dahin zusammen, dass hier ein Fall vorliege, wo ein Stoff durch seine Anwesenheit chemische Wirkungen bewirkt, ohne selbst dauernd für die Ergebnisse dieser chemischen Wirkung in Anspruch genommen zu werden. Er bezeichnete, ohne damit irgendwelche theoretischen Anschauungen ausdrücken zu wollen, Wirkungen solcher Art, deren es noch mehrere gebe, als Wirkungen durch den Kontakt.

Diese Arbeit gab Berzelius den Anlass, in seinem Jahresberichte wieder einmal eine jener genialen Zusammenfassungen auszuführen, durch welche zerstreute Einzeltatsachen unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt gebracht und neue Begriffe in der Wissenschaft heimisch gemacht wurden. Er wies auf die vorstehend angeführten Arbeiten von Kirchhoff, Thenard, Döbereiner u. a. hin, berichtete über die eingehende Studie von Mitscherlich (der sein Schüler war und auf den er sehr grosse Stücke hielt) und stellte als zusammenfassenden Begriff den der katalytischen Kraft auf, welche er folgendermassen definierte: Die katalytische Kraft scheint eigentlich darin zu bestehen, dass Körper durch ihre blosse Gegenwart und nicht durch ihre Verwandtschaft die bei dieser Temperatur schlummernden Verwandtschaften zu erwecken vermögen, so dass zufolge derselben in einem zusammengesetzten Körper die Elemente sich zu solchen anderen Verhältnissen ordnen, durch welche eine grössere elektrochemische Neutralisierung hervorgebracht wird.

Auf den ersten Blick sieht diese Definition recht hypothetisch aus mit ihrer Bezugnahme auf den inzwischen als allgemeines Verwandtschaftsprinzip verlassenen elektrochemischen Dualismus. Doch erweist sich dieser bei näherem Hinsehen als eine blosse Ausdrucksform, welche den grundsätzlichen Inhalt jener Definition nicht stört. Dieser besagt, dass es chemische Zustände gibt, welche keine Gleichgewichtszustände sind, aber trotzdem sich in der Zeit nicht ändern; das ist der Sinn des Ausdruckes »schlummernde Verwandtschaften«. In solchen Gebilden wird durch die Anwesenheit katalytisch wirkender Stoffe der chemische Vorgang zum Geschehen gebracht; dies Geschehen muss, wie alle chemischen Vorgänge, zu grösserer Befriedigung der Verwandtschaften, d. h. zu einer beständigeren Gleichgewichtslage führen. Hierin ist also der wichtige Satz enthalten, dass durch Katalyse keinerlei sonst unmögliche chemische Vorgänge zuwege gebracht, sondern nur die grundsätzlich möglichen, aber aus irgendwelchen Ursachen nicht stattfindenden Vorgänge ausgelöst werden.

Insbesondere verwahrt sich Berzelius dagegen, dass er durch den Ausdruck katalytische Kraft eine neue unbekannte Qualität in die Wissenschaft einführen wollte. Es handele sich für ihn nur um einen zusammenfassenden Namen für tatsächliche Erscheinungen von noch unaufgeklärter Beschaffenheit. Ja, er warnt ausdrücklich davor, dass man durch voreilige, auf hypothetische Anschauungen gestützte Theorien nicht die Forschung von der experimentellen Ausarbeitung dieser Probleme aufhalten möchte. Wie berechtigt und gleichzeitig wie vergeblich die Warnung gewesen ist, hat die Folgezeit nur zu deutlich erwiesen.

Wir kommen hier zu einem recht unerfreulichen Kapitel in der Geschichte unserer Wissenschaft. Es ist leider nicht möglich, es zu übergehen, wie so viele andere Dinge, in denen sich die menschliche Unvollkommenheit nicht nur als Kurzsichtigkeit, sondern auch als Übelwollen im Kleide der Wissenschaft betätigt, denn die hier geschehenen Missgriffe haben einen so grossen Einfluss gehabt, dass die Entwicklung der Frage über Gebühr hintangehalten worden ist. Man braucht sich nur des Zustandes zu erinnern, der noch vor wenigen Jahren bezüglich des Namens katalytisch herrschte: jeder, der ihn gebrauchte, setzte sich dem Verdachte wissenschaftlichen Leichtsinnes und der Gefahr aus, von den unzulänglichsten Fachgenossen darüber belehrt zu werden, dass der Name Katalyse durchaus keine Erklärung der fraglichen Erscheinungen wäre. Als wenn Berzelius nicht die Warnung gegen ein derartiges Missverständnis förmlich an die Spitze aller seiner Erörterungen über den Begriff Katalyse gesetzt hätte!

Der Führer im Kampfe gegen den durch Berzelius bewirkten Fortschritt war niemand anders als Liebig. Liebig hat sich, wie dies bei einem jeden Reformator unvermeidlich ist, während eines grossen Teiles seines Lebens im Kampfe gegen die retardierenden Tendenzen seiner Zeitgenossen befunden, und er hat bei mancherlei Irrtümern im einzelnen doch in der Hauptsache fast immer recht gehabt. Auch hat er fast immer daran recht getan, dass er mit der ganzen Schärfe und Energie seines Geistes den Kampf aufnahm, wo er ihn für nötig hielt, denn ohne solche überschüssige Energiebetätigung lässt sich die träge Masse nicht in Bewegung setzen. Hier aber hat er eine unglückliche Hand gehabt, nicht nur insofern er das Rechte verfehlte, als vielmehr noch dadurch, dass er einem populären Irrtum die Stütze seiner mächtigen Persönlichkeit lieh. Irrtümer der grossen Männer verbreiten und betätigen sich viel schneller und leichter, als ihre richtigen neuen Gedanken, weil sie den Tribut darstellen, den sie dem Denken ihrer Zeit zahlen. Deshalb stehen solche Irrtümer den Denkwegen der Zeitgenossen nicht entgegen, wie jene neue Gedanken und haben den stets vorhandenen Trägheitswiderstand nicht zu überwinden, welcher den erheblichen Fortschritten der gleichen Persönlichkeiten entgegensteht.

Den Anlass für Liebig, Berzelius auf dem Gebiete der Katalyse entgegenzutreten, war der Gegensatz der sich zwischen diesen beiden grossen Männern in bezug auf die Frage der Konstitution der organischen Verbindungen entwickelt hatte. Nachdem für Berzelius die Anschauungsformen des elektrochemischen Dualismus ein unabscheidbarer Bestandteil der Wissenschaft geworden waren, hatte er Liebig und dessen reformatorische Gedanken oft genug ungerecht in seinen Jahresberichten beurteilt. Dies hatte ausserdem eine Voreingenommenheit gegen Liebigs weitere Bestrebungen, insbesondere auf chemisch-physiologischem Gebiete zur Folge gehabt, die Berzelius verhinderte, diesen grundlegenden Forschungen volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Hierzu kam ein äusserst gespanntes Verhältnis zwischen Liebig und Mitscherlich, das bei den nahen Beziehungen des letzteren zu Berzelius gleichfalls zur Schärfung des Gegensatzes beitrug.

Alle diese Umstände mögen erklären, dass Liebig sich gegen die von Berzelius eingeführte Begriffsbildung aussprach und trotz Berzelius' ausdrücklichen Warnungen gerade das Gegenteil davon tat, was dieser aus reifer Kenntnis der Entwicklungsgesetze der Wissenschaft für notwendig erklärt hatte. Er verwarf den von Berzelius eingeführten Namen, eben weil er (wie dies Berzelius beabsichtigt hatte) keine Erklärung der Erscheinungen enthielt oder versprach, und stellte seinerseits eine Erklärung auf, welche gerade mit dem von Berzelius befürchteten Fehler, die weitere Forschung zu hemmen, im höchsten Grade behaftet war. Es war dies die unfruchtbare Hypothese der molekularen Stösse.

Liebig sprach nämlich die Ansicht aus, dass die katalytischen Vorgänge in nichts anderem beständen, als in der Übertragung von Bewegungen seitens des Katalysators auf den katalysierten Stoff. Diese Ansicht entstand aus seiner Vorstellung von der Wirkungsweise der Hefe, über welche er eben in einen Streit mit Pasteur geraten war. Während dieser die organisierte Natur der Hefe verfocht, und die Umwandlung des Zuckers in Alkohol und Kohlensäure für ein Ergebnis der unmittelbaren Lebenstätigkeit der Hefezelle ansah, betrachtete Liebig die Sprosspilznatur der Hefe als unwesentlich (ebenso unwesentlich, nach seinem eigenen Vergleich, wie die Pflanzen, die auf einem vermodernden Baumstamme wachsen, für dessen Vermoderung sind) und erklärte die Wirkung der Hefe, die Berzelius den katalytischen angereiht hatte, für einen Bewegungsanstoss, der aus der im Zersetzungszustande befindlichen organischen Substanz der Hefe auf den Zucker übertragen würde.

Es ist ganz lehrreich, hier unsere Geschichtserzählung einen Augenblick zu unterbrechen und die weitere Entwicklung dieser Angelegenheit ins Auge zu fassen. Bekanntlich hat damals Pasteur den Sieg gegen Liebig gewonnen, insbesondere durch den Versuch von Lüdersdorff, der Hefe auf einem Reibstein solange zerrieb, bis alle Zellen zertrümmert waren. Der entstandene Brei rief keine Gärung hervor, und daraus wurde geschlossen, dass das Leben der Zelle im Sinne Pasteurs für die Gärung notwendig sei.

Dass auch die lebende Zelle ihre chemischen Wirkungen schliesslich auf chemischem Wege ausführen muss, blieb damals unerörtert; vielmehr beruhigte man sich bei dem Gedankengange, dass das Leben eine so geheimnisvolle Erscheinung ist, dass auch das Geheimnis der Zuckergärung ganz wohl in die Gesellschaft hineinpasst. Diese Wendung ist offenbar von allen möglichen die unwissenschaftlichste, weil sie die weitere Forschung einfach abschneidet. Vielmehr hätte man umgekehrt sagen sollen, dass wenn von dem Geheimnis des Lebens einiges entschleiert werden könnte, dies auf dem Wege der Erforschung der katalytischen Vorgänge in sehr wirksamer Weise geschehen könnte. Indessen war Pasteur durch seinen glänzend gelungenen Nachweis der notwendigen Anwesenheit von Lebewesen für die Erscheinungen der Fäulnis, Gärung usw. so sehr von diesem Ziel seines Beweisthemas erfüllt, dass er die ganze Angelegenheit unwillkürlich als wissenschaftlich erledigt ansah, wenn er in jedem bestimmten Falle die Anwesenheit und Notwendigkeit von Lebewesen nachgewiesen hatte. Obwohl auch er bereits Fälle kannte, in denen organische Katalysatoren oder Fermente vom Organismus losgelöst und unabhängig von ihm zu gleicher Wirkung gebracht werden konnten (beispielsweise die Diastase der keimenden Gerste, die auch im Reagensglase Stärke verzuckert), so berücksichtigte er sie doch nur insofern, als er hier »ungeformte« Fermente annahm und von ihnen die an Lebewesen gebundenen und nur während des Lebens tätigen »geformten« Fermente unterschied.

Bekanntlich hat sich inzwischen die naturgemässere Ansicht wieder durchführen lassen, dass es sich bei diesem Unterschiede nur um das technische Problem handelt, das Ferment aus dem Organismus herauszuziehen, ohne es dabei zu zerstören. Haben diese Stoffe eine grosse Beständigkeit, so macht dies keine Schwierigkeit, und sie sind demgemäss bereits früh als ungeformte Fermente bekannt geworden. Macht dies dagegen Schwierigkeit, so kann die vom Leben unabhängige Wirkung dieser Fermente erst nachgewiesen werden, wenn ein Weg zum unveränderten Ausziehen gefunden worden ist. Der oben angeführte Versuch von Lüdersdorff hätte den umgekehrten Erfolg ergeben, wenn nicht das Zerreiben der Hefe so lange gedauert hätte, dass inzwischen das Ferment durch die Berührung mit der Luft oder andere Ursachen vernichtet worden war. Nachdem in neuerer Zeit Buchner das Ausziehen des Ferments vorsichtiger und schneller hat bewirken können, ist auch das Hefeferment als ungeformtes nachgewiesen und Pasteur wieder ins Unrecht gesetzt worden.

Allerdings hat Liebig hierdurch mit seiner Anstosshypothese nicht recht erhalten, sondern es hat sich nur ergeben, dass die organischen Katalysatoren, die Fermente oder wie man sie jetzt nennt, die Enzyme, durchaus ähnlich wirken, wie entsprechende anorganische Katalysatoren. Die Theorie solcher Wirkungen ist dadurch allerdings noch nicht gegeben, wir gewinnen aber den wertvollen Hinweis, dass es sich um einen sehr allgemeinen Vorgang handelt und dass eine sachgemässe Theorie daher gleichfalls einen solchen allgemeinen Charakter tragen muss.

In der Polemik, welche sich zwischen Liebig und Berzelius in der Frage entspann, blieb Liebig zunächst der Sieger, wenn man nach der Aufnahme seiner Anschauung durch die Zeitgenossen und Nachfolger urteilen darf. Immer wieder wurde der gleiche Gedanke von den verschiedensten Seiten vorgetragen, und zwar schien jeder, der ihn vorbrachte, unter dem Eindrucke zu stehen, als habe er selbst eine »diesbezügliche« hervorragende Entdeckung gemacht. Noch aus dem Jahre 1894 kann ich folgende »Theorie« eines namhaften Chemikers verzeichnen, der sich insbesondere eifrig und erfolgreich mit physiologischen Fragen beschäftigt hatte: »Katalyse ist ein Bewegungsvorgang der Atome in den Molekülen labiler Körper, welcher unter dem Hinzutritt einer von einem anderen Körper ausgehenden Kraft erfolgt und unter Verlust von Energie zur Bildung stabilerer Körper führt.«

Der geringste Fehler dieser Auffassung ist noch, dass man die angenommenen Bewegungen nicht nachweisen oder messen kann. Auch die Atome kann man nicht nachweisen, und dennoch hat sich die Atomhypothese lange Zeit als ein sehr nützliches wissenschaftliches Werkzeug erwiesen. Der grosse, ja fundamentale Fehler liegt darin, dass man keinerlei mehr oder weniger wahrscheinliche experimentelle Schlüsse aus der Ansicht von den molekularen Stössen ziehen kann, deren Richtigkeit dann an der Erfahrung zu prüfen wäre. So mangelhaft die Abbildung einer vorhandenen Wirklichkeit durch ein hypothetisches Bild sein mag, sie muss jedenfalls die Bedingung erfüllen, dass das Bild wenigstens vermutungsweise Auskunft über Verhältnisse gibt, die man noch nicht kennt, die man aber experimentell prüfen kann. Das Bild muss mit anderen Worten das Abgebildete mit irgendwelchen anderen Tatsachen verbinden und damit Anlass geben, nachzusehen, ob diese vermutete Beziehung wirklich besteht. Beschränkt sich das Bild auf die darzustellende Tatsache allein, so ist es ein leerer Name, der keinerlei Folgen hat.

Gerade von dieser Beschaffenheit ist nun die mechanische Theorie der Katalyse. Man kann freilich Bewegungen und Anstösse beliebig annehmen, aber wie kann man erkennen, ob ein als Katalysator zu prüfenden Stoff gerade solche Bewegungen macht, welche einen anderen, vorgelegten Stoff zu chemischer Reaktion veranlassen? Hierauf gibt keiner von den vielen Vertretern der mechanischen Hypothese irgendeine Auskunft. Ebensowenig gehen von der Hypothese bestimmte Fragen über die möglichen Gesetze der Wirkung aus, und das ganze Problem bleibt mit der Hypothese ebenso stehen, wie es vor der Hypothese stand.

Dieser Mangel an befruchtender Wirkung macht sich nun auch auf das deutlichste in der geschichtlichen Entwicklung der ganzen Frage geltend. Die Chemie ist voll von Katalysen. Schon Berzelius hob hervor, dass insbesondere die lebenden Organismen überall katalytische Wirkungen zu Hilfe nehmen, um ihre Bedürfnisse der Zeit und dem Raume nach zu befriedigen, und der grosse Physiologe Karl Ludwig sah in den katalytischen Erscheinungen den Hauptteil der physiologischen Chemie. Ebenso hat sich herausgestellt, dass die präparative Chemie, die anorganische wie die organische, überall von katalytischen Hilfsmitteln Anwendung macht. Man braucht sich nur zu erinnern, dass Schwefelsäure nach dem alten wie dem neuen Verfahren mittelst Katalyse hergestellt wird; dort ist Stickstoffdioxyd der Katalysator, hier Platin. In der organischen Chemie sei aus den zahllosen Katalysen nur die Wirkung des Chloraluminiums in der Reaktion von Friedel und Crafts genannt, welche seinerzeit von berufener Seite mit dem Tischlein-deck-dich des Märchens verglichen worden ist, so erleichtert sie den Zugang zu allerlei schwierig zu erlangenden Stoffen. Dass die alten chemischen Industrien des Haushaltes, insbesondere Backen und Brauen, gleichfalls auf katalytischen Reaktionen beruhen, ist aus der Geschichte des Gärungsproblems bereits teilweise anschaulich geworden. Kurz, wohin wir sehen, treffen wir katalytische Vorgänge an.

Und wenn wir mit dieser Häufigkeit und Wichtigkeit solcher Tatsachen die Aufmerksamkeit vergleichen, welche die Wissenschaft der grundsätzlichen Aufklärung des Problems zugewendet hat, so erstaunen wir über den andauernden Mangel jedes Versuches eines experimentellen Eindringens in die etwaigen Gesetze der Katalyse. Während weitaus geringere Dinge das eingehendste Studium erfahren haben, hat sich die Wissenschaft von der Katalyse wie von einem verrufenen Orte fern gehalten; alles was von Zeit zu Zeit geschah, war eine Aufwärmung jener mechanistischen Hypothese. So bestand die ganze Lehre in dieser Sache aus unzusammenhängenden Tatsachen, die nicht einmal gesammelt und zusammengestellt wurden; nach einem Kapitel über Katalyse sucht man in den Lehrbüchern vergebens. Dazu kommt noch, dass die erste Reaktion, an welcher das Grundgesetz der chemischen Dynamik begründet wurde, die Inversion des Rohrzuckers durch Säuren, gleichfalls eine katalytische in reinster Form ist; hier lag also der Zugang zu dem. Gebiete seit einem halben Jahrhundert offen; doch niemand betrat es.

Dies ist der Zustand, welchen die mechanistische Hypothese hervorgerufen hatte. Heute ist es anders. Das Wort Katalyse hat seinen übeln Klang verloren; es findet sich häufiger und häufiger in der wissenschaftlichen wie technischen Literatur. Monographien und zusammenstellende Arbeiten haben sich auf dem literarischen Markte eingestellt und es ist offenbar nur eine Frage kurzer Zeit, dass wir unsere Gesamtkenntnisse über Katalyse in einem wohlgeordneten, wenn auch recht dickleibigen Handbuche werden überschauen können. Wodurch ist diese Wendung eingetreten?

Sie ist eingetreten durch eine sachgemässe Begriffsbildung. Die Erkenntnis, dass es sich bei der Katalyse um ein Problem der chemischen Kinetik handelt, hat den ganzen Umschwung bewirkt. Ich weiss kein Beispiel in der Geschichte der Wissenschaft, wo die Ausführung der Begriffsbildung allein, ohne irgendwelche erhebliche Vermehrung des tatsächlichen Materials, ihre entscheidende und fördernde Wirkung auf die Fortentwicklung der Wissenschaft so glänzend offenbart hätte, wie in diesem Beispiel.

Wie schon Berzelius gesehen hatte, und wie das später auch mehr oder weniger klar begriffen worden ist, kann durch Katalyse kein Vorgang erzwungen werden, welcher den Energiegesetzen widerspricht; es kann weder rohe noch freie Energie geschaffen werden, und die ausserordentlich kleinen Mengen fremder Stoffe, welche oft ausreichend sind, um die erheblichsten katalytischen Wirkungen hervorzurufen, schliessen irgendwelche erhebliche Energiezufuhren durch den Katalysator aus, zumal man diesen meist am Schlusse der Reaktion unverändert wiederfindet. Welche Freiheit besteht denn noch, über die durch den Katalysator verfügt wird? Die Antwort findet sich bereits in unseren früheren Erörterungen (S. 273). Das Zeitmass oder die Geschwindigkeit der chemischen Reaktionen ist energetisch nicht festgelegt; hier haben also andere Ursachen ihr Betätigungsgebiet und hier ist auch das Gebiet der Katalyse. Es sind mit anderen Worten nur solche Vorgänge, die ohnedies möglich wären, welche überhaupt katalytisch beeinflusst werden können. Und diese Beeinflussung kann sich nicht etwa auf das Gleichgewicht beziehen, denn dieses ist ja energetisch bestimmt, sondern sie kann sich nur auf die Geschwindigkeit beziehen, mit welcher das Gleichgewicht erreicht wird. Somit ist ein Katalysator ein Stoff, welcher die Geschwindigkeit einer chemischen Reaktion ändert, ohne seinerseits in den Endprodukten dieser Reaktion zu erscheinen.

Prüfen wir diese Definition in dem Sinne von Berzelius, so finden wir sie seinen Ansprüchen genügend, denn sie sagt über etwaige Ursachen der Geschwindigkeitsänderung nichts aus und lässt das ganze Feld der eingehenderen Experimentalforschung frei. Anderseits entspricht sie auch den Forderungen, die ich oben an eine fruchtbare Theorie stellen musste: sie gibt zu bestimmten Fragen und Experimenten Veranlassung. Denn wenn es sich um die Änderung einer Reaktionsgeschwindigkeit handelt, so entstehen sofort zahllose Fragen nach den Gesetzen dieser Änderung. Die Reaktionsgeschwindigkeit ist eine messbare Grösse, und alles, was sie beeinflusst, ist an der Änderung ihres Zahlenwertes gleichfalls messbar. Was vorher ein unzugängliches Geheimnis schien, wird eine übersichtliche Aufgabe für stetige Arbeit und wenn wir die Gesetze einer Erscheinung kennen, so ist uns damit alles bekannt, was wir über sie fragen können, d. h. wir kennen auch ihr Wesen.

Welche unerwarteten Zusammenhänge sich hier der unbefangenen Forschung offenbaren, wird gerade an dem klassischen Problem der Zuckerinversion ersichtlich. Wir haben gesehen, wie an ihm zum ersten Male das allgemeine Gesetz der chemischen Dynamik entwickelt und experimentell belegt wurde; an ihm ist auch die erste Anwendung der messenden Erforschung der Katalyse entstanden. Bereits Biot hatte gelegentlich bemerkt, dass die Untersuchung der verschiedenen Geschwindigkeiten, mit denen verschiedene Säuren den Zucker invertieren, zu interessanten Ergebnissen führen könnte. Solche Messungen sind in einigem Umfange auch später ausgeführt worden, ohne dass es indessen gelang, einen Zusammenhang zwischen den hier beobachteten Konstanten und anderen Eigenschaften der Säuren zu ermitteln. Erst als die Affinitätsgrössen der Säuren auf verschiedene Weise gemessen wurden und sich als unabhängig von der besonderen Reaktion, die zu ihrer Messung diente, herausstellten, da fand sich auch, dass die Geschwindigkeit der Zuckerinversion diesen Affinitätsgrössen oder Stärken der Säuren proportional ist. Und als später die Deutung dieser Zahlen als der Konzentration des freien Wasserstoffions proportional auf Grund der Theorie von der elektrolytischen Dissoziation gegeben wurde, lag auch gleichzeitig die Deutung dieses Ergebnisses offen: die katalytische Wirkung der Säuren gegenüber dem Rohrzucker ist nichts als eine Wirkung des Wasserstoffions, und diese katalytische Wirkung ist proportional der Konzentration desselben. So war nicht nur ein interessantes Gesetz für die Katalyse gefunden, sondern diese diente sogar dazu, eine der brauchbarsten Methoden zur Messung der Stärke der Säuren abzugeben, und somit Erhebliches zur Lösung eines der ältesten Probleme der Chemie beizutragen.

Zwei weitere Fragen von allgemeiner Beschaffenheit drängen sich hier alsbald auf: ist es möglich, alle die vielen Vorgänge, die uns erst durch die Katalyse sichtbar werden, auch als ohne Katalysator stattfindend anzusehen? Und zweitens: wenn ein Stoff durch seine Gegenwart eine Reaktion beschleunigt, wird die Reaktion dann nur in bezug auf ihr Zeitmass geändert, oder treten auch sachliche Änderungen der Reaktionsart, etwa durch Auftreten besonderer Zwischenstufen, ein? Beide Fragen können insofern befriedigend beantwortet werden, als kein grundsätzliches Rätsel nachbleibt, wenn auch natürlich die denkbaren und möglichen Auffassungen in jedem einzelnen Falle erst an der Erfahrung geprüft und mit zahlenmässigem Inhalt versehen werden müssen.

Was die erste Frage anlangt, so sieht ihre Beantwortung auf den ersten Blick einigermassen bedenklich aus. Es scheint uns eine schwierige Annahme, dass z. B. eine Zuckerlösung von selbst in Alkohol und Kohlensäure zerfällt, sei es in noch so kleinem Massstabe. Und dennoch stehe ich keinen Augenblick an zu sagen: wenn wir künftig einmal eine so empfindliche Reaktion auf Alkohol besitzen werden, dass wir etwa tausend oder hunderttausendmal kleinere Mengen entdecken können, als gegenwärtig, so werden wir auch in jeder Zuckerlösung unter passenden Umständen ohne Mitwirkung des Hefeferments Alkohol nachweisen können. Zu dieser Überzeugung gibt vor allen Dingen die Auffassung Grund, zu der man aus allgemeinen energetischen Betrachtungen gelangt, dass nämlich jede Reaktion in einem homogenen Gebilde, die möglich ist, auch wirklich stattfindet, wenn auch meist mit unmessbar kleiner Geschwindigkeit. Um ein Beispiel zu geben, mit welchen Geschwindigkeiten man wissenschaftlich rechnen darf und muss, betrachten wir die Zuckerinversion. Diese erfolgt um so langsamer, je verdünnter die Säure ist, oder allgemeiner, je kleiner die Konzentration des Wasserstoffions in der Lösung ist. Ferner nimmt die Geschwindigkeit mit steigender Temperatur sehr schnell zu; sie verdoppelt sich in runder Zahl für je zehn Grade. Für gewisse Zwecke sind Reaktionen gemessen worden, bei denen eine messbare Inversion erst in 24 Stunden eintrat, wenn die Flüssigkeit bei 100° gehalten wurde. Wenn man dieselbe Flüssigkeit bei 0° aufbewahrt, so ist ihre Geschwindigkeit 210-mal geringer. Man könnte also eine messbare Reaktion erst nach 1024 Tagen, d. h. im dritten Jahre nach dem Ansetzen beobachten. Dass wir in den meisten Fällen keine Ahnung davon haben, was aus einem gegebenen Stoffe oder Stoffgemisch nach zwei oder drei Jahren geworden sein wird, braucht keinem Chemiker erst ausführlich dargelegt zu werden. Meist wissen wir nur, was nach Stunden daraus wird; die Ausdehnung der Beobachtung über Tage ist bereits ungewöhnlich und einige Wochen pflegen die praktische Grenze unserer Kenntnis zu bilden.

Somit steht keine grundsätzliche Schwierigkeit der Auffassung entgegen, dass die möglichen Reaktionen in der Tat auch alle wirkliche sind. Zwar ist gelegentlich behauptet worden, dass in gewissen Fällen das Gebiet der langsam verlaufenden Reaktionen von einem Gebiete, wo die Reaktion absolut zum Stillstande kommt, durch eine scharfe Grenze getrennt sei und wir besitzen auch mathematisch sauber ausgearbeitete Theorien, welche die Konsequenzen dieser Voraussetzung darstellen. Indessen hat die Nachprüfung der experimentellen Beispiele, durch welche jene Behauptung gestützt werden sollte, deren Unnahbarkeit nachgewiesen und einen vollkommen stetigen Verlauf der langsamen Vorgänge nach der Seite der zunehmenden Langsamkeit bestätigt. Wir können allgemein aussprechen, dass bezüglich der Zeit noch nirgendwo das kleinste Anzeichen von wesentlicher Unstetigkeit beobachtet worden ist.

Somit ist die Annahme, dass alle Reaktionen, welche katalytisch betätigt werden, sich als Beschleunigungen solcher Reaktionen darstellen lassen, welche auch für sich erfolgen, nur mit anderer Geschwindigkeit, überall durchführbar und stösst nirgend auf eine grundsätzliche Schwierigkeit. Von solchen Fällen, wo man die Geschwindigkeit der nichtkatalysierten Reaktion noch bequem messen kann, durch andere, wo sie nur eben nachweisbar ist (Zucker wird z. B. auf die Dauer auch von reinem Wasser invertiert), bis zu solchen endlich, wo wir diesen Nachweis noch nicht führen können, gibt es vollkommen stetige Übergänge und keinerlei Anzeichen einer wesentlichen Grenze. So dürfen wir die erste Frage als befriedigend erledigt ansehen.

Die Tatsache, dass je nach der Beschaffenheit des Katalysators dieselben Stoffe verschiedene Produkte geben können, braucht uns keine Sorgen zu machen. Wenn man z. B. Chlor auf Benzol einwirken lässt, so erhält man, je nachdem man Jod oder Zinnchlorid als Katalysator anwendet, das Additionsprodukt Benzolhexachlorid oder das Substitutionsprodukt Chlorbenzol. Hier müssen wir die Annahme machen, dass ohne Katalysator beide Reaktionen vor sich gehen, und die beiden genannten Katalysatoren dadurch verschieden sind, dass in einem Falle die eine, im anderen die andere Reaktion vorwiegend beschleunigt wird. Dass eine solche Annahme wirklich statthaft ist, wird dadurch belegt, dass Gemenge der beiden Katalysatoren die beiden Produkte in vergleichbaren Mengen nebeneinander entstehen lassen. Diese Einsicht, dass je nach der Natur des Katalysators von den zahlreichen möglichen Vorgängen, die insbesondere in einem etwas verwickelteren Gebilde stattfinden können, der eine oder andere so in den Vordergrund geschoben werden kann, dass er praktisch ausschliesslich verläuft, ist namentlich für das Begreifen der physiologischen Prozesse wertvoll, die uns zeigen, dass aus derselben Blutflüssigkeit je nach den Organen, die durchströmt werden, die mannigfaltigsten Produkte entstehen können. Schon Berzelius hat darauf hingewiesen, wie wenig diese Tatsache mit unseren Erfahrungen über die chemischen Vorgänge im Laboratorium im Einklange erscheint; durch die genauere Kenntnis der katalytischen Vorgänge wird das Rätsel in ein Problem verwandelt, für dessen Lösung die Wege gewiesen sind.

Die zweite Frage ist die nach der näheren Beschaffenheit der katalytischen Reaktionen oder nach ihrem »Mechanismus«, wie man sich bildlich auszudrücken pflegt. Wenn auch die Hauptsätze der Energetik keinen ausreichenden Bestimmungsgrund für die Geschwindigkeit einer gegebenen Reaktion enthalten, so muss doch der Wert dieser Geschwindigkeit seinerseits einen ausreichenden Grund haben, d. h. es müssen sich Beziehungen zwischen dieser Geschwindigkeit und anderen Eigenschaften des Gebildes nachweisen lassen, und diese Eigenschaften müssen irgendwie vom Katalysator beeinflusst werden, damit die Geschwindigkeit beeinflusst wird.

Nun gehört die chemische Reaktionsgeschwindigkeit zu einer ausgedehnten Gruppe von Erscheinungen, die man allgemein als Dissipationserscheinungen bezeichnet. Sie bestehen darin, dass irgendein Vorrat von freier Energie sich in andere Formen umwandelt, und dabei seine weitere Umwandlungsfähigkeit mehr oder weniger einbüsst. Das reinste Beispiel für derartige Vorgänge ist die Wärmeleitung. Haben wir eine Wärmemenge, die sich auf höherer (oder auch niederer) Temperatur befindet, als die Umgebung, so setzt alsbald ein Vorgang ein, durch welche diese unterschiedene Wärme auf die mittlere Temperatur absinkt und dadurch für weitere Umwandlungen unbrauchbar wird. Ist dann die Temperatur ausgeglichen, so kann nur durch Aufwand von anderweitiger freier Energie wieder der frühere Zustand hergestellt werden; in sich selbst ist das Gebilde unfähig dazu, weil niemals eine Wärmemenge freiwillig von niederer zu höherer Temperatur geht.

Wenn nun auch dies Ergebnis notwendig und der Ausgleich der Temperatur ein Zustand ist, der jedenfalls früher oder später erreicht wird, so ist doch die Zeit, welche für dies Endergebnis erforderlich ist, ausserordentlich verschieden. Je nachdem der höher erwärmte Körper durch gute oder schlechte Wärmeleiter mit seiner Umgebung verbunden ist, tritt der Ausgleich schnell oder langsam ein; auch hängt er von der geometrischen Form des Gebildes usw. ab. Sei etwa der warme Körper von seiner Umgebung durch einen leeren Raum getrennt, so wird der Wärmeausgleich sehr langsam erfolgen. Ein Stück Kupfer, das man zwischen beide einschaltet, bewirkt alsbald eine sehr bedeutende Beschleunigung des Ausgleiches und wirkt somit ganz wie ein Katalysator. Selbst wenn man die Kupfermasse gar nicht mit beiden Gebieten gleichzeitig in Berührung bringt, sondern zwischen ihnen hin und her pendeln lässt, wird sie einen beschleunigten Wärmetransport bewirken, wobei sie, wieder ganz wie ein Katalysator, zum Schlusse sich in demselben Zustande befindet, wie am Anfange.

Ähnliche aber verwickeltere Beispiele finden sich in allen Gebieten der Physik. Zwei elektrisch geladene Körper von verschiedenem Potential können sich gleichfalls durch einen Leiter ausgleichen, wobei je nach der Natur, Gestalt, Temperatur usw. des Leiters alle beliebigen Geschwindigkeiten, von Null bis zur Lichtgeschwindigkeit, erzielt werden können. Diese Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass ein Teil der vorhandenen freien Energien bei solchen Ausgleichvorgängen in Wärme überzugehen pflegt, welche ihrerseits durch Leitung einen unwiederherstellbaren Ausgleich erfährt. Hierdurch wird auch der Gesamtvorgang nicht umkehrbar, und diese Eigenschaft der Nichtumkehrbarkeit haftet allen natürlichen Geschehnissen an.

Solche dissipative Vorgänge sind auch alle chemischen Reaktionen. Auch für sie ist energetisch zwar der Endzustand eindeutig gegeben, wenn das Gebilde vollständig definiert ist, nicht aber der Weg, auf welchem dieser Endzustand erreicht wird, und noch weniger die Geschwindigkeit, mit welcher das Gebilde sich ihm nähert. Hier treten Gesetze in Kraft, die von den beiden Hauptsätzen der Energetik unabhängig sind. Eine sehr allgemeine Theorie eines dieser Geschehnisse ist von J. Fourier (1768 bis 1830) in seiner Theorie der Wärmeleitung entwickelt worden; später hat sich durch G. S. Ohm und A. Fick herausgestellt, dass die gleiche Theorie auf die Vorgänge der Elektrizitätsleitung und der Diffusion Anwendung findet. Auf chemische Vorgänge lässt sie sich allerdings nicht unmittelbar anwenden, weil sie unter der Voraussetzung eines räumlichen Vorganges beim Ausgleiche entwickelt worden ist, und der chemische Hauptfall, die Reaktion in homogener Lösung, ohne jede räumliche Änderung erfolgt oder wenigstens erfolgen kann. Doch kann man immerhin die vorher skizzierte allgemeine Theorie der chemischen Reaktionsgeschwindigkeit als einen ins Chemische übersetzten Fall der Fourierschen Theorie auffassen, ja insofern als den einfachsten und typischsten Fall der Dissipationserscheinungen, als hier die räumliche Veränderlichkeit ausgeschlossen werden kann und nur eine zeitliche vorhanden ist.

Die Mannigfaltigkeit der Faktoren, von denen beispielsweise die Leitung der Wärme und gar der Elektrizität abhängig ist, gibt eine brauchbare Analogie für die sicher noch weit grössere Mannigfaltigkeit der Faktoren, welche die chemische Reaktionsgeschwindigkeit beeinflussen. Jeder dieser Faktoren, soweit er von den reagierenden Stoffen trennbar ist, kann als katalytischer Faktor angesehen werden. Indessen ist es üblich geworden, beispielsweise die Beschleunigung durch Temperaturerhöhung nicht katalytisch zu nennen, sondern diesen Namen ausschliesslich für solche Fälle vorzubehalten, wo die Beeinflussung von der Anwesenheit wägbaren Stoffes abhängig sich erweist.

So werden wir recht haben, wenn wir schliessen, dass voraussichtlich eine einzige Theorie der katalytischen Geschwindigkeitsbeeinflussungen nicht ausreichen wird, um alle hergehörigen Fälle wissenschaftlich zu beschreiben. Die Aufgabe besteht somit zunächst darin, die einzelnen Katalysen ihrer Gesetzmässigkeit nach zu untersuchen, und wenn ausreichendes Material vorhanden ist, die allgemeinen Beziehungen zwischen den Sonderfällen auszusprechen.

Ein anscheinend sehr häufiger Grund für die katalytische Beschleunigung ist das Auftreten von Zwischenreaktionen. Beispielsweise wandelt sich die glasartige arsenige Säure sehr langsam in eine porzellanartige, kristallinische Form um. Bringt man ein wenig Wasser dazu, so erfolgt diese Umwandlung sehr viel schneller. Der Einfluss des Wassers beruht sehr wahrscheinlich darauf, dass sich in diesem die arsenige Säure auflöst. Nun ist es ein allgemeines Gesetz, dass die unbeständigen Formen sich reichlicher lösen als die beständigen; hat sich somit das Wasser in bezug auf die glasartige Säure gesättigt, so ist es in bezug auf die porzellanartige übersättigt und muss arsenige Säure in dieser Form auf den vorhandenen Kristallen ausscheiden. Hierdurch wird die Lösung ungesättigt in bezug auf die glasartige Form, es müssen von dieser neue Mengen in Lösung gehen und die Reihenfolge der Reaktionen beginnt von neuem. Das Wasser dient also hier als Beschleuniger, indem es abwechselnd die arsenige Säure als Glas auflöst und als Porzellan wieder ausscheidet.

Man kann sich natürlich fragen, ob denn nicht auch die unbeständige glasartige Form unmittelbar, insbesondere in Berührung mit der porzellanartigen, in diese übergehen kann. Dies ist allerdings der Fall, es erfolgt aber äusserst langsam, während die Auflösung und Ausscheidung verhältnismässig schnelle Vorgänge sind. Wenn also (was keineswegs immer der Fall ist) in Summa die Vorgänge über die Zwischenreaktionen schneller erfolgen, als auf direktem Wege, dann wirkt ein solcher Zwischenstoff als Beschleuniger und es liegt ein Fall von Katalyse vor. Brauchen im Gegenteil die Zwischenreaktionen mehr Zeit, als der unmittelbare Vorgang, so betätigt sich der betreffende Stoff eben nicht als Katalysator. Da aus allgemeinen Gründen erwartet werden darf, dass die Zahl der Fälle, wo die unmittelbaren Reaktionen die schnelleren sind, im allgemeinen grösser sein wird als die der umgekehrten Fälle, so ist es begreiflich, weshalb katalytische Beschleunigungen zwar keine Seltenheiten sind, ja viel häufiger vorkommen, als man bisher anzunehmen geneigt war, aber doch wie Ausnahmefälle erscheinen, zu deren Zustandekommen besondere Bedingungen eintreten müssen.

Der Gedanke, katalytische Vorgänge durch Zwischenreaktionen zu erklären, ist viel älter als der Begriff der Katalyse selbst, denn er stellt die erste sachgemässe Theorie der Schwefelsäurebildung dar und ist vor genau hundert Jahren aufgestellt worden. Wie bekannt, gewann man die Schwefelsäure früher durch Destillation von Eisenvitriol bei hoher Temperatur. Zwar war bekannt, dass schweflige Säure, wie man sie durch Verbrennen von Schwefel erhält, sich langsam in wässeriger Lösung in Schwefelsäure verwandelt, doch geht dies so langsam vor sich, dass eine technische Darstellungsweise nicht darauf begründet werden konnte. Die Geschichte hat uns den Namen des Mannes nicht aufbewahrt, welcher auf den Gedanken kam, durch Zusatz von Salpeter zum verbrennenden Schwefel den fehlenden Sauerstoff nachzuliefern; auch würde man ihn von vornherein nicht für besonders weise angesehen haben, da die Schwefelsäure durch diesen teuren Sauerstoff auch ihrerseits viel zu teuer gemacht werden würde. Immerhin, der Versuch wurde ausgeführt, und das Ergebnis war, dass man sehr viel mehr und schneller Schwefelsäure erhielt. Es stellt sich weiter heraus, dass man mit viel weniger Salpeter ausreichte, als dem fehlenden Sauerstoff entsprach, denn schon mit wenigen Prozenten davon trat die Wirkung ein. So entwickelte sich bald eine Schwefelsäureindustrie auf Grund einer unverstandenen Reaktion, und Clément (gest. 1841) und C. B. Desormes (1777 bis 1862) unternahmen 1806, dies Rätsel aufzuklären, was sie in einer meisterhaften Arbeit auch ausführten.

Das Ergebnis ihrer Untersuchung war, dass die Salpetersäure, oder vielmehr ein niederes Oxyd des Stickstoffs den Sauerstoff auf die schweflige Säure überträgt, indem es sich abwechselnd auf Kosten des Luftsauerstoffs höher oxydiert und wieder von der schwefligen Säure auf die niedere Stufe reduziert wird. Der Apparat, in welchem sie dies durch Einleiten von Schwefeldioxyd, Wasserdampf und Stickstoffoxyd in einen grossen Glasballon zur Anschauung brachten, ist noch bis auf den heutigen Tag für den Unterricht im Gebrauch, und ebenso ihre Theorie. Hier liegt also die Beschleunigung ganz wie in dem Falle der arsenigen Säure darin, dass einerseits die Oxydation der Stickoxyds zu Stickstoffdioxyd durch den Luftsauerstoff, anderseits die Oxydation der schwefligen Säure durch Stickstoffperoxyd sehr viel schneller vor sich gehen als die unmittelbare Oxydation der schwefligen Säure durch den Luftsauerstoff. Demnach bildet sich aus schwefliger Säure und Sauerstoff in Gegenwart geringer Mengen von Stickoxyden die Schwefelsäure so schnell, weil die letzteren den Sauerstoff an die schweflige Säure übertragen.

Diese Theorie wurde alsbald angenommen und hat sich bis heute erhalten, indem die inzwischen erhobenen Zweifel sich nicht auf die Theorie selbst bezogen, sondern auf die Natur der möglichen Zwischenprodukte, auf welche wir hier nicht einzugehen haben. Merkwürdigerweise unterliess Berzelius in seiner Erörterung der bereits bekannten katalytischen Vorgänge, diesen klassischen Fall zu erwähnen, und erst verhältnismässig spät wurde man gewahr, welch ein vorzügliches Beispiel zum Verständnis solcher Vorgänge man hier besass.

Es kann deshalb nicht wundernehmen, dass dies Hilfsmittel zunächst missbraucht wurde, indem man es auf alle anderen Fälle der Katalyse ohne experimentelle Kritik ausdehnte. Offenbar bedingt eine Zwischenreaktion nur dann eine Beschleunigung des Hauptvorganges, wenn alle ihre Teile schneller verlaufen als es der Hauptvorgang tut. Durch den Umstand aber, dass in einem Falle durch eine Zwischenreaktion ein katalytischer Vorgang zulänglich erklärt worden war, entstand die Vorstellung, als genüge in allen anderen Fällen der Nachweis, oder sogar nur die Annahme einer Zwischenreaktion, um eine Katalyse zu erklären. Und eine Zwischenreaktion erachtete man als nachgewiesen, wenn es gelang, das angenommene Zwischenprodukt irgendwie in dem Reaktionsgemisch aufzufinden. Ob dieser Stoff wirklich ein Zwischenstoff war, oder nur das Produkt einer zufälligen Nebenreaktion, blieb schon deshalb unerörtert, weil es kein Mittel gab, diese beiden Fälle zu unterscheiden.

Auch hier hat erst die Entwicklung der chemischen Kinetik die nötigen Hilfsmittel gebracht, und auf deren Grundlage ist in einigen für die Demonstration besonders geeigneten Fällen durch genaue Messungen aller in Betracht kommenden Geschwindigkeiten nachgewiesen worden, dass wirkliche katalytische Reaktionsbeschleunigungen durch Zwischenreaktionen zahlenmässig erklärt werden können. Damit ist grundsätzlich die Zulässigkeit derartiger Erklärungen nachgewiesen worden; ob eine solche aber in einem gegebenen Falle wirklich die richtige ist, muss jedesmal wieder durch entsprechende kinetische Untersuchungen bewiesen werden.

Fragt man sich, ob nicht die Theorie der Zwischenreaktionen sich zur allgemeinen Theorie der Katalyse entwickeln könnte, so muss die Antwort lauten, dass dies wahrscheinlich nicht der Fall sein wird. In einzelnen Fällen hat sich gezeigt, dass wenigstens die bisher angenommenen Zwischenprodukte nicht die ihnen zugeschriebene Rolle spielen können, denn als man diese Stoffe dem Reaktionsgemisch an Stelle des eigentlichen Katalysators zusetzte, blieb die erwartete Wirkung aus. In anderen Fällen, z. B. dem klassischen Falle der Inversion des Rohrzuckers durch verdünnte Säuren, weiss man nicht, welches Zwischenprodukt wirksam sein könnte. Doch muss man immerhin zugestehen, dass eine so allgemeine Frage, wie die oben aufgestellte, nicht kurzer Hand beantwortet werden kann, und dass die Anzahl wirklich zulänglich untersuchter Katalysen noch nicht gross genug ist, um ein halbwegs abschliessendes Urteil zu rechtfertigen.

Wie sich dies Urteil aber schliesslich auch gestalten mag: wir sehen die Wege vor uns, die wir gehen müssen, um zum Ziele zu gelangen.

 


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