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Auf den nachfolgenden Seiten habe ich versucht, die Entwicklungsgeschichte der wichtigsten Gedanken und Begriffe der wissenschaftlichen Chemie in Kürze so sachlich und unabhängig von äußeren Zufälligkeiten darzustellen, als es mir möglich war. Die gewählte Form einer Reihe von Vorträgen ergab sich daraus, dass ich den sachlichen Inhalt dieses Buches zweimal tatsächlich vorgetragen habe, und zwar auch wesentlich in dem Umfange, wie er hier vorliegt. Das erste Mal geschah dies im Herbst 1905 am Institute of Technology in Boston, das zweite Mal im Januar 1906 an der Columbia-Universität in New-York. Doch habe ich diese deutsche Ausgabe nicht nach dem Stenogramm jener Vorträge bearbeitet, sondern unabhängig davon neu geschrieben, so dass sie den Vorteil einer mehrmaligen Überlegung und Gestaltung des gleichen Stoffes hat.
Wie es die genannten Gelegenheiten ergaben, wo die Vorträge für einen grösseren Kreis bestimmt waren, bei welchem eine weitgehende Fachbildung nicht allgemein vorausgesetzt wurde, wendet sich auch dieses deutsche Buch an den weiten Kreis der naturwissenschaftlich Gebildeten, d. h. der Gebildeten im modernen Sinne. Auch hoffe ich, durch die zur Geltung gebrachte Auffassungs- und Darstellungsweise, bei welcher die allmählige Ausgestaltung und Reinigung der allgemeinen Begriffe viel mehr in den Vordergrund tritt, als die Erforschung einzelner Tatsachen und ihre praktischen Anwendungen, nicht nur einen Beitrag zur Geschichte der Chemie, sondern auch einen solchen zur allgemeinen Wissenschaftsgeschichte zu liefern. Hat sich doch mit grosser Regelmässigkeit der gleiche Gang bei der Ausgestaltung allgemeiner Begriffe, unabhängig vom besonderen Falle, nachweisen lassen: dass nämlich zu Anfang der Begriff unvermeidlich Bestandteile enthält, die für ihn nicht wesentlich oder zweckmässig sind und daher im Laufe der Zeit beseitigt werden. Dem Chemiker drängt sich bei derartigen Erfahrungen unwiderstehlich das Bild der stufenweisen Reinigung eines Stoffes durch Umkristallisieren auf: die fremden Bestandteile stammen in beiden Fällen aus der Umgebung, wie sie zu der Zeit vorhanden war, als der Begriff oder der Stoff zuerst feste Form annahm. Und ebenso, wie es gemäss der Theorie unmöglich ist, einen absolut reinen Stoff herzustellen, ebenso lehrt es uns die Geschichte der Wissenschaft, dass die vollständige Reinigung der Begriffe eine Arbeit von unbegrenzter Beschaffenheit ist. Dies erfahrungsmässig immer wieder bestätigte Gesetz von der Unerreichbarkeit des Absoluten im Endlichen sehe ich als eine der wertvollsten Früchte der modernen, geschichtlich gestützten Erkennungstheorie an.
Bezüglich des speziellen Inhaltes dieses Buches habe ich folgendes zu bemerken. Umfang und Form, wie sie gewählt waren, schliessen eine erschöpfende Darstellung der Geschichte der Chemie aus. Um dennoch zu einiger Abrundung und Körperhaftigkeit zu gelangen, habe ich das Verfahren der Morphologen nachgeahmt, welche das zu erforschende Gebilde durch eine Reihe von Querschnitten zerlegen und durch deren Nebeneinanderstellung die Auffassung der Gesamtgestalt gleichzeitig leichter und vollkommener machen. Jedes der sieben Kapitel bedeutet einen solchen Querschnitt durch die chemische Wissenschaft, und ich hoffe, dass alle zusammen so geführt sind, dass kein wesentlicher Teil im Gesamtorganismus der Chemie unberührt geblieben ist.
Wilhelm Ostwald.
Gross-Bothen, Landhaus Energie,
August 1906.
In dem Verlauf des Jahres, das zwischen der ersten Auflage dieses Werkes und der vorliegenden zweiten vergangen ist, fallen die ersten öffentlichen Mitteilungen Ramsays über die Transformation der Elemente mittelst Radiumemanation. Wiewohl der ganze Umfang sich noch lange nicht übersehen lässt, in dem diese fundamentale Entdeckung unsere allgemeinen Anschauungen beeinflussen wird, so erschien es mir doch notwendig, auf ihre Bedeutung an geeigneter Stelle wenigstens hinzuweisen. Auch sonst sind einige Druck- und andere Fehler beseitigt worden, auf die ich zum Teil von der Kritik aufmerksam gemacht worden bin, deren einstimmiges Wohlwollen den »Leitlinien« gegenüber mir eine ganz besondere Freude gewesen ist. Ebenso ist auf entsprechende Anregung ein Inhaltsverzeichnis und ein alphabetisches Register beigefügt worden.
Wenn ich ausserdem auch noch den Titel der ersten Auflage gegenüber geändert habe, so geschah dies, um den über die Fachwissenschaft hinausreichenden Zweck des Werkes deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Studien zur Psychologie der Forschung und der Forscher, denen ich mich im Laufe der letzten Zeit mit besonderem Eifer hingegeben habe, befestigten bei mir noch mehr als bisher die Überzeugung, dass an dem verhältnismässig einfachen Material der Wissenschaftsgeschichte die allgemeinen Gesetzlichkeiten der historischen Erscheinungen sich leichter und sicherer nicht nur nachweisen, sondern auch den Fernerstehenden zur Anschauung bringen lassen, als an dem verwickelten Gewebe der Universalgeschichte möglich ist. Und ich wünsche sehr, dass die vorliegende Arbeit in einem solchen Sinne auch über den Kreis der chemischen Fachgenossen hinaus sich als nützlich erweisen möchte.
W. Ostwald.
Gross-Bothen, Landhaus Energie,
Oktober 1907.