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Wie jedes Jahr noch war die Zahl der Fremden allmählich bis zu Ostern gewachsen, um ebenso allmählich wieder abzunehmen. Der alle Baron Durazzi, sonst Barometer und Thermometer von Meran, fehlte jetzt ab und zu auf der Kurpromenade. Seit er immer weniger Widerspruch gefühlt und Tante Angiolina ihn wie ein großes Kind tun ließ, was er wollte, wohnte nicht mehr so stark das Bedürfnis in ihm, sein Haus zu fliehen. Er kümmerte sich plötzlich auch um Göllan. Weil er bei seinem Freunde Meinhardt alles so sauber und ordentlich sah, war ihm der Gedanke gekommen, auch in seinem Garten Ordnung zu schaffen. Nun sah man ihn im Schweiße seines Angesichts das Unkraut von den Wegen jäten.
Tante Angiolina saß dann mit ihrer ständigen Handarbeit dabei, auf einem Stuhl, den der Diener heruntergebracht; aber sie durfte dabei den Rasen nicht mehr betreten. Darüber wachte der alte Baron eifersüchtig. Er hatte von Meinhardt ein Gartenbuch geschenkt erhalten, das las er nun beinahe so eifrig wie den Gotha. Englische Rasenpflege wollte er einführen. Die neue Terrasse der Rochusburg spukte vor seinen Augen, und die Zwangsvorstellung, die Anlagen geometrisch zu gestalten. Nun lief er mit einer großen Gartenschere herum und suchte aus allen immergrünen Gewächsen Pyramiden, Kegel, Kugeln, Würfel zurechtzustutzen. Tante Angiolina mußte ihr Urteil abgeben. Wenn er einen runden Busch zu einer halb kahlen Kerze verschnitten, rief sie dann wohl erschrocken:
»Leopold, die Spitze ist ja schief!«
Er prüfte von allen Seiten, holte ein Lot, das die Maurer vor Jahren einmal in der Torggel hatten liegen lassen, begann die Senkrechte zu messen und schnitt so lange an der Spitze herum, bis er das Unglück nur noch durch den kühnen Entschluß bannen konnte, eine Kugel daraus zu machen. Wie ein Kind in verdächtigem Schweigen an seinem Spielzeuge so lange gearbeitet, bis es ganz entzwei ist, hörte und sah man jetzt oft von dem alten Herrn nichts mehr, bis er ermattet erschien und bei der Jause Frau und Tochter einlud, das neue Werk zu betrachten. Tante Angiolina faltete die Hände über dem starken Leib, schüttelte den Kopf und lächelte betrübt.
Nur Ossana wagte ihrem Vater entgegenzutreten, denn sie fühlte sich sozusagen verantwortlich, da sie sich jetzt allein um Haus und Hof kümmerte. Mit Meinhardt sprach sie von Landwirtschaft und Garten: Wässern, Rigolen, Scheiben machen, Düngen, Pflanzen, Beschneiden, Schwefeln, Verkauf und Neubestellen. Auch mit den Anrainern stand sie oft eine Stunde am Grenzsteinwall und ließ sich über Obst- und Weinbau unterrichten. Blieben ihres Vaters etwas zweifelhafte Bemühungen um die Verbesserung von Göllan nur auf Wege und Büsche beschränkt, so suchte sie in die ganze Verwaltung einzudringen. Der Entschluß wurde gefaßt, ein Stück alten Weingartens, der, weil lange vernachlässigt, erhebliche Kosten verursacht hätte an Erneuerung der Stöcke und Lauben, auszuroden und dort, trotz allem mürrischen Widerstände des alten Sepp wie des jüngeren Knechtes, Kalvillenzucht zu beginnen.
Ossana hatte es bei dem Vater durchgesetzt und der alte Baron den Knechten die Kündigung angedroht, wenn sie die neue Ordnung nicht mitmachen wollten. Der jüngere war einverstanden zu bleiben. Der Sepp aber kratzte sich die Stoppeln: er hätte »eh koa Zeit nit« zur Neuordnung der Dinge, ein Ausdruck, der in seinem Munde etwas gewagt klang. Er packte also seine Siebensachen. Beim Abschied hielt er dem Herrn eine lange Rede. Er wäre nun so viel Jahre hier und sei immer zufrieden gewesen, aber wenn die Weibsbilder anfingen zu regieren... Des »Weibsbildes« wegen bekam Baron Durazzi schon einen roten Kopf. Der Alte aber redete ruhig weiter: gegen den Herrn Baron und gegen die Frau Baronin hätte er gar nix, – aber wenn jetzt hier alles zugrund ginge, dann wollte er wenigstens nicht dabei sein, denn er hätte sich im Dienste seines Herrn geschunden von früh bis abends. Er sei ein ehrlicher Mann, arm wie eine Kirchenmaus gekommen, ginge er auch arm wie eine Kirchenmaus davon. Nicht einmal für seine alten Tage habe er sich etwas erübrigen können.
Schon begann der alte Baron weich zu werden, als der Sepp die Unvorsichtigkeit beging, auf die Fremden zu schimpfen. Sie wären am Werk, den Bauer aus seiner eigenen Heimat zu vertreiben, und ihr Einfluß hätte gewiß auch das »Weibsbild« vergiftet und auf solche verrückte Neuerungen gebracht.
Der Angriff auf Ossana, die Fremden, seine Hauptzerstreuung, ließ das Maß überlaufen, und wo der alte Baron noch eben beinah' weich geworden wäre, schlug es um zu jäher Wut. Er streckte die Hand aus und mit aderpochender Schläfe, während die Augen, die alterstief in ihren Höhlen lagen, plötzlich alle Schärfe wiederbekamen, brüllte er den Sepp an: »Hinaus!« Der nahm ruhig seine Pfeife aus der linken Brusttasche, klappte den Deckel auf, strich ein Streichholz an und entzündete den Tabak. Dann warf er das brennende Streichholz auf die Diele und langsam, seinen von langer, bedächtiger Arbeit gebeugten Bauernrücken ganz krümmend, stapfte er auf den schweren Nagelschuhen zur Tür.
Der alte Baron hatte das Herumwerfen von Zündhölzern schon so oft und so oft verboten. Nun schrie er zitternd vor Wut:
»Willst mir's Haus anschüren, Sepp? Aufheben!«
Der Sepp blieb stehen, die Pfeife im Mundwinkel und drehte sein grinsendes Gesicht um:
»I bin nit mehr in Dienscht.«
»Aufheben!«
»I bin nit mehr in Dienscht.«
Ohne sein Tempo auch nur ein tausendstel Sekunde zu beschleunigen, ging er hinaus.
Der alte Herr sah das noch glimmende Holz auf dem Boden liegen, er wollte es austreten, doch er wankte und fiel in den Stuhl vor dem Tisch, auf dem immer noch wüst die Papiere umherlagen.
Ossana hatte den Lärm gehört und kam hereingestürzt. Sie sah den Papa, fragte, was geschehen, aber plötzlich sank er zurück, mit dunkel verfärbtem Gesicht, dick geschwollenen Adern an der Stirn. Ossana kam eben noch zurecht, daß der zu Boden gleitende Körper nicht mit dem Kopf aufschlug. Sie schrie um Hilfe. Der Diener erschien. Sie richteten den alten Baron auf, der die Augen geschlossen hatte. Allmählich wich die Farbe aus dem Gesicht und er wurde totenbleich. Ossana und der Diener versuchten ihn wieder auf den Stuhl zu setzen – vergeblich.
Inzwischen war Tante Angiolina eingetreten. Als sie den scheinbar Leblosen sah, wurde sie schwach und mußte sich setzen. Auch die Jungfer war gekommen, und da sie die Tür offen ließ, hörte man rufen im ganzen Haus. Die Köchin steckte ihr Gesicht herein, kreischte und rannte wieder fort. Nun kamen auch die Magd und der jüngere Knecht. Ganz zuletzt trat sogar der Sepp ins Zimmer. Die Pfeife im Mundwinkel ging er langsam auf seinen einstigen Herrn zu. Als er ihn so ausgestreckt sah, stotterte er:
»I han nix wollen tuan. Um a Zindholz streitet ma si nit.«
Aber er griff mit zu, und der jüngere Knecht wie der Diener trugen mit Ossana den alten Herrn die Treppe hinauf. In seinem Zimmer ward er aufs Bett gelegt. Tante Angiolina aber blieb in ihrem Stuhl sitzen. Ihre Knie zitterten. Sie stöhnte:
»I kann nit gehn, i kann nit gehn!«
Doch mit einem Male sprang sie auf und rannte die Treppe hinan. In ihres Mannes Zimmer fiel sie wieder in einen Sessel. Der Sepp sagte gutmütig:
»I geh' nach Lana, i wer' 'n Doktor holen!«
Aber Ossana verließ sich nicht darauf, sondern schickte den Diener mit der Tram. Nach wenigen Metern schon hatte er den Sepp überholt, der langsam, einen Kasten und ein Bündel mit darumgeknotetem Tuch in der Hand, die Straße schritt.
Ossana war es, als ob ihres Vaters linke Seite sich kalt anfühle, doch die Frauen wußten nicht, was tun. Die Jungfer riet, dem Kranken einen heißen Ziegelstein unter die Füße zu legen, die Magd war für Eis auf die Brust, und die Köchin holte den Bonifaziuskalender und blätterte wütend von vorne nach hinten und von hinten nach vorne, ohne das passende Hilfsmittel zu finden.
Der Arzt war zufällig zu Haus gewesen, und der Diener brachte ihn gleich mit. Ossana bemühte sich während der Untersuchung Handreichung zu leisten. Tante Angiolina sprach ein Gebet. Der alte Baron schlug die Augen auf. Er wußte von nichts mehr, klagte auch nicht, doch ein Versuch, sich im Bett herumzuwenden, mißlang, und nun wurde eine Lähmung der linken Seite festgestellt. Das linke Augenlid hing herab. Auch der linke Mundwinkel blieb unbeweglich, während der rechte sich dafür desto mehr abquälte, zu sprechen.
Eine Schwester sollte gerufen werden, doch Ossana erklärte, sie würde die Pflege übernehmen. Tante Angiolina beanspruchte sie zwar zuerst für sich, bald aber meinte sie, ihr sei der Schreck so in die Glieder gefahren, daß sie sich erst erholen müsse. Dann wankte die dicke Frau hinüber in ihr Zimmer, und dort drüben hörte man sie lange schluchzen.
Ossana hatte den Arzt ins Wohnzimmer hinunterbegleitet. Sie sagte:
»I kann die Wahrheit vertragen. Also was ist?« Als er sich nicht gleich äußerte, wurde sie leidenschaftlich und sprach so laut, daß der Doktor nach oben deutete. Sie dämpfte die Stimme:
»Sagen's mir die Wahrheit. Bleibt er am Leben?«
»Aber natürlich! Es ist ein Schlaganfall. Da er ihn überstanden hat, muß man hoffen, daß es zurückgeht–«
Sie sah ihn scharf an:
»Im Alter von Papa?«
»Gewiß, es kommen sehr viele Fälle vor... wo...«
»Das ist durchaus nicht nötig!«
»Aber wahrscheinlich?«
Der vorsichtige Mann, der nur seine ärztliche Pflicht erfüllte, wehrte sich:
»Das kann man nit sagen!«
Sie blickte ihn so scharf an, daß er die Augen wegwandte:
»Baronin, lassen's ihn jetzt nit so lang allein. Und noch einen Rat: daß die Frau Mama nur nit jammert und weint, sonst regt's ihn auf!«
Tante Angiolina war ganz hin. Als Margret mit Meinhardt erschien, fiel sie ihr um den Hals und begann wieder zu schluchzen. Gräfin Aich brachte sie in ihr Schlafzimmer. An den alten Täfelungen der Wände hingen ein paar Buntdrucke: die Muttergottes mit den sieben Schwertern im Herzen, St. Stephani Steinigung, und der heilige Vitus, im Öle brennend. Auf dem Nachttisch stand ein kleines Madonnenbild, gewöhnliche Töpferware, und der Rosenkranz hing über einem kupfernen Weihwasserkessel. Margret versuchte ihre Mutter zu trösten. Die aber klagte nur immer:
»I hab' ihn so wenig g'habt, und jetzt, wo er wieder zu mir kommen ist... Margret, wenn du wüßtest, wie das für mich ist! Aber i weiß schon, i soll g'straft werden, weil i schon lang nimmer zum Rosenkranz gangen bin.«
Margret sagte:
»Mama, du kannst ruhig gehen, i werd' täglich herüberkommen, und Ossana ist doch da!«
»Ja, die Ossana, die ist gut! Die ist gut!«
Und dann fing sie vor Rührung über die Hingebung ihrer Tochter wieder still an zu weinen.
Und Ossana war gut. Immer saß sie am Krankenbett. Sie unterhielt den Papa, der jetzt unausgesetzt nach Zerstreuung verlangte. Sie las ihm die ganze Kurliste vor von oben bis unten, und bei jedem dritten Namen sagte er lallend, den Mund verzogen, daß Ossana ihn gar nicht anblicken mochte, sonst verlor sie die Festigkeit:
»Den hab' i gekannt!«
Dann versuchte er zu erzählen, doch man verstand nur halb, und dabei schlief der alle Herr meist ein. Man hatte zuerst Angst, die Nächte möchten schlaflos sein, wenn er am Tage nicht wach blieb, aber der alte Körper, der in den letzten Jahren nur wenig Schlaf gebraucht, schien jetzt der Ruhe zu bedürfen.
Dann schlich Ossana davon. Sie rechnete mit der Köchin. Sie hielt auf Ordnung im Haus. Von einem Nachbar mit gutem Rat unterstützt, gab sie dem Knechte Anweisungen. Der, ein ruhiger, fleißiger Mensch – Meinhardt hatte ihn geschickt – arbeitete unverdrossen.
Ossana ließ nachts die Tür zum Zimmer ihres Vaters offen. Sie hatte einen leichten Schlaf. Wenn er nur leise gerufen hätte, wäre sie aufgewacht. Margret kam auch zur Ablösung. Täglich erschien sie mit ihrem Mann, der nur dann fehlte, wenn ihn dringende eigene Geschäfte abhielten. Und die beiden Aich brachten immer Neues mit. Margret wußte, was dem Vater Spaß machte, so erzählte sie von Bekannten und Fremden. Meinhardt seinerseits berichtete von Ernteaussichten für dieses Jahr, und daß der Poldi von seinen Pferden geschrieben. Jeden Brief des Henrietterls las er vor, obgleich in allen das gleiche stand: sie hätten sich bei der Mizzi, der Pepi, der Hansi, dem Sopherl sehr gut unterhalten und hätten bei der alten Fürstin gespeist, und das kleine Henrietterl habe wieder einmal um dreihundert Gramm zugenommen und sei zu herzig. Es hätte Grüberln und lache den ganzen Tag.
Wenn die Rochusburger nachmittags kamen, fanden sie meist Tante Angiolina nicht zu Hause. Sie mühte sich ehrlich um ihren Mann, aber sie konnte es nicht lassen, ihn mit ihrer Art von geistlichem Zuspruch zu quälen. Einmal fragte er ganz erbost:
»Geht's mir denn so schlecht?«
Tante Angiolinas Bande mit dem Himmel knüpften sich wieder enger. Sie nahm die regelmäßigen Kirchgänge früh und nachmittags von neuem auf. Manchen Wachsstock opferte sie und zündete manche Kerze an. Bei jedem Herrgottsbild kniete sie nieder und schickte inbrünstige Worte zum Himmel, er solle ihr helfen. Einige Zeit fand sie Trost, doch bald kehrten ihre schweren Stimmungen wieder und sie weinte. Dann suchte sie Pfarrer Niederwieser im Widum auf und klagte ihm ihr Leid. Der tapfere, fest auf der Erde stehende Bauernsohn faltete die weißen, starken Hände mit den kurzgeschnittenen Nägeln und redete ihr freundlich zu. Da werktätige Hilfe ihm in seiner Gemeinde immer noch das beste gedünkt, empfahl er allerlei Bauernmittel aus dem Tauferertal, die die Familie bei seinem Großvater selig angewendet, denn der Arzt war zu teuer und zu weit. Der Pfarrer wollte den Kranken besuchen, doch Tante Angiolina gestand ihm zögernd von ihren Ängsten. Der bescheidene Mann hob die Hand:
»I will mi nit eindrängen. Kann auch wahrhafti unsern Herrgott nit ersetzen. Bin nur sein einfacher Diener. Aber wenn's mi können brauchen, und war's a mitten in der Nacht, i komm gleich. Und Frau Baronin, sagen's nur dem lieben Herrn Baron, es ging' nit ums Sterben, erzählen will i ihm, daß er schon lachen soll, und Jagerg'schichten, als ob i nit a scho an Gamsbock ang'schlichen hätt'.«
Jetzt war es still geworden in Göllan. Stiller noch als damals, als des Henrietterls Lachen verklungen war. Die Wege im Garten hatten allmählich wieder Moos und Gras angesetzt, die Baumschere klapperte nicht mehr, und die schiefen Pyramiden, die der alte Baron in greisenhaftem Beschäftigungstrieb zurechtgestutzt, begannen wieder zu treiben.
Allmählich wich die Lähmung des linken Armes. Der Kranke durfte nun aufrecht im Bett sitzen, und da auch das linke Auge die Sehkraft nicht verloren, sondern nur das Lid ein wenig hing, konnte er lesen. Er nahm seine alten Bücher wieder vor: Eggers »Geschichte von Tirol«, Brandts »Ehrenkränzlein«. Als es ihm noch besser ging, verlangte er selbst einmal nach dem Geistlichen. Pfarrer Niederwieser erschien sofort. Mit so fröhlichem Gesicht trat er ein, daß an einen Versehgang wohl nicht zu denken war. Der alte Baron aber blinzelte ihn vielsagend an und sagte jetzt schon mit viel deutlicherer Sprache, wenn auch der Mundwinkel gespannt blieb:
»Mir geht's ganz guat!«
»Das freut mi, Herr Baron.«
»Mi a, Herr Pfarrer, i zeig's Ihnen gern!«
Der geistliche Herr erzählte von den schmalen Jahren, wie er als Hütbub sich selbst Lesen und Schreiben beigebracht, wie er dann in Brixen studiert, sich durchgehungert und dann »seine Hochzeit gefeiert«. Der alte Baron sah ihn beinah' erschrocken an.
Da lachte der Priester und schlug sich mit der rechten Hand auf den rundlichen Schenkel:
»Ja, bei der Primiz, mei' Hochzeit mit'm Himmel!«
Und er freute sich kindlich über den Scherz.
Wie ein Leiden, das Dauer wird, nicht mehr ganz die Teilnahme beansprucht wie anfangs, als es jäh aufgetreten, und da auch die Notwendigkeiten des Tages an die Rochusburger herantraten, kamen sie bald weniger häufig zu Besuch.
Als es nun ruhiger um den alten Baron ward, begann er immer häufiger nach dem Pfarrer zu verlangen. Der unterhielt ihn am besten, und sie lachten gern zusammen. Als der kurze Winter im Burggrafenamt einzog, saß der Kranke schon im Lehnstuhl, wohin er getragen wurde, denn Gehversuche konnten noch nicht unternommen werden.
Tante Angiolina erschien wohl getreulich, aber sie war ihm kein Trost, denn sie klagte und seufzte nur immer: zur Fröhlichkeit vermochte sie sich nicht mehr aufzuschwingen. An ihrem Herzen fraß es, daß sie die jungen Jahre ihres Lebens in Uneinigkeit mit dem Gatten vertan und die Rückkehr nun eigentlich zu spät kam.
Des Kranken Bewegungsfähigkeit wuchs. Dem Mund war beim Sprechen kaum mehr etwas anzusehen. Nur wenn der alte Herr lachte, hatte das Gesicht etwas wie eine unbewegliche Maske. Nun fing auch der alte Lebenslauf wieder an. Tante Angiolina lud zum erstenmal ihre Bekannten zum Tee.
Der alte Baron fragte jetzt öfters nach dem Henrietterl. Er wollte ihr Lachen hören, denn Ossana lachte nicht. Sie tat ernst ihre Pflicht für den Vater und im Haus. Meinhardt schrieb also seiner Schwester. Baron Durazzi war glückselig, als er es hörte.
Da erschienen denn eines Tages auf der Rochusburg Rudi und Henrietterl Bernburg. Eine Jungfer hatten sie mit und eine dicke, stramme Person mit schwarzem hängenden Kopftuch, die aus den durch keinen Ausdruck getrübten blauen Augen sich Meran ansah. Sie grinste über den Himmel, über die Berge, am meisten aber über das kleine Henrietterl. Das hatte wirklich die Grüberl, von denen das große Henrietterl geschrieben, und lachte wirklich immerfort, wie es im Wagen zwischen den Eltern saß, lachte ins Land hinein, in die Sonne, lachte die Menschen an – genau das gleiche versprechend wie die Mutter.
Die war stärker geworden, die Sitzfläche breiter. Der Rudi schmal und schlank wie nur je, und mit entzückender Krawatte.
Margret war dabei, wenn die Kleine gewaschen und wenn sie zu Bett gebracht wurde, und sie ging mit ihr und der mit dem Kopftuch spazieren, während das Henrietterl und Rudi hinüberfuhren nach Göllan.
Als sie ankamen, schlief der alte Herr. Sie mußten warten und warten, doch es wurde so spät, daß es Zeit schien, nach der Rochusburg zurückzukehren. Schließlich ging Ossana nachschauen. Und siehe, der alte Baron schlug die Augen auf. Er wehrte ab: »Jetzt nit!« Ossana sah in seiner Gleichgültigkeit mit Staunen die Veränderung, die Alter und Krankheit hervorgebracht.
Am nächsten Tage aber saß das Henrietterl bei dem Onkel und erzählte ihm Geschichten aus Wien, daß er manchmal laut auflachte mit einem etwas heiseren Greisenlachen, wobei das gelähmte Lid sich schloß und das andere Auge etwas seltsam Starres bekam.
Von »Venedig in Wien« war freilich nicht mehr die Rede, auch nicht vom Essen im Volksgarten, denn sie speisten daheim. Dafür desto mehr von dem kleinen Henrietterl. Baron Durazzi nickte zwar, aber er hatte das Kind nicht gesehen, und im Grunde schien es ihn nicht besonders zu beschäftigen. Der alte Herr schloß müde die Augen. Und als das Henrietterl kreischend vor Wonne und Mutterstolz etwas berichtete, was der kleine Wurm geleistet, verzog er schmerzlich das Gesicht und hielt die Hand ans Ohr.
Da gab Ossana dem Besuch einen Wink, und die junge Mutter ging.
Ossana begleitete das Henrietterl und den Rudi den alten lieben Weingartenweg hinab zum Tor, wo der Aichsche Wagen wartete:
»Wie find'st du denn den Papa, Henrietterl?«
»I bin eigentlich – Ossana, i bin erschrocken!«
»Schaut er so schlecht aus?«
Das fröhliche Menschenkind wurde ganz ernst:
»I hätt' ihn nit erkannt.«