Georg Freiherr von Ompteda
Margret und Ossana
Georg Freiherr von Ompteda

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Sechstes Kapitel

Über dem Etschtal schwangen Hitzewellen; fast senkrecht schien die Sonne zu stehen. Tag um Tag blieb der Himmel wolkenlos. Während der Glut verkroch sich alles in den Häusern, die Straßen lagen tot. Nur früh am Morgen und spät am Nachmittage wurde in Weingärten und Obstangern gearbeitet. Rund um Göllan schimmerten in den Kalvilleanlagen die grauweißen Flecke der Papiersäcke, in denen jene kostbaren Früchte reiften. Allein die Durazzis hatten den neuen Erwerbszweig der Gegend nicht versucht; die alten Knechte mochten von der mühseligen Arbeit der Kalvillenzucht nichts wissen. Baron Durazzi, der es für unvornehm hielt, sich zu »schinden«, wo man doch gerade leben konnte, rührte keinen Finger. Der Herr von Göllan hielt an der gleichen Redensart fest wie alte Bauern: »A so hot's der Vater selig geton, und a so tuan mir a!«

Aber die neue Zeit schritt unbarmherzig weiter: Aus dem kleinen Meran da drüben, das einst nur wenige Fremde beschwerlich mit der Post erreicht hatten, war ein Weltkurort geworden, von Zehntausenden und aber Zehntausenden besucht. Unter schweren Wehen hatte es sich gewandelt aus der Zuflucht Lungenkranker zum Erholungs- und Vergnügungspunkt von Gesunden, die zu fesseln alles sich bemühte. Und mit dem Fremdenverdienst ging erhöhte Obstzucht Hand in Hand. Am Bahnhof wuchsen die Lagerhäuser: Reihe an Reihe standen die Wagen, Obst- und Weinsegen des Etschlandes fortzuführen. Nicht aus Göllan, denn in Göllan kannte man den Ernst der Arbeit nicht.

Tante Angiolina, zu schmutzigem Geiz erstarrt, daß sie den Töchtern kaum mehr neue Kleider gönnte, und es wegen jeden Taschentuchs, das mehr gewaschen wurde, einen Auftritt gab, weil es Seife kostete und Wasser – denn sogar das Wasser wollte sie sparen – Tante Angiolina sah im Vorwärtsschreiten der neuen Zeit keinen Fortschritt. Arbeit und Betriebsamkeit lenkte die Menschen ab »vom Einzigen, das not tut.« Dem hochwürdigen Herrn Pfarrer Niederwieser, einem lieben alten Herrn, treu seiner Kirche, seinem Gott ergeben, doch kein Eiferer, glaubte sie sonst aufs Wort, nur über eines schüttelte sie den Kopf. Als er sie ein Stück von Widum bis Göllan begleitet, hatte er einmal mit freundlichem Lächeln gesagt, während er die gefalteten Hände leise gerieben: »Unser Herrgott kann nit auf jeden einzelnen Obacht geben. Man muß sich schon selber helfen. Wer sich nit umtuat, den rettet er a nit.«

Sie meinte, die Mutter Gottes würde beistehen, deren Bild im Hof an der Torggelseite sie immer mit frischen Blumen kränzte, und hätte sie die schönsten abschneiden oder gar beim Gärtner kaufen müssen. Aber Pfarrer Niederwieser, auf dem letzten Hof droben im Tauferertal geboren, wo jeder verhungert wäre, der nicht die Hände geregt, schüttelte nur sein gütiges, grobes Bauerngesicht:

»Und wann alle Heiligen vom Himmel täten niedersteigen und alle lieben Engerln herunterg'flogen kämen, helfen würden's bei der Mahd und im Weingarten nur dem, der selber mit der Not kämpft. I hab' die Not kennen g'lernt da droben, i hab' mich schwer getan, bis i nach Brixen kommen bin; und dann, wie i als Kurat naufkommen bin droben nach Pirsens, wo bei Maria im Elend nur a paar Höf' stehen und a paar Stadeln. Meinen's, wann i nit selber zuagriffen hätt' zwischen Mess' und Versehgang in mei'm klein' Acker und Gartl', mir war von die paar Gulden, die so a Kooperat'r im hintersten Oetztal kriegt, was blieben für Kranke und Arme? Arbeiten hab' i müassen, arbeiten! Die heilige Jungfrau hat ihrem Diener koan g'flügelten Boten runterg'schickt extra nur für mi mit an Zehnkronenschein!«

Tanke Angiolina hatte es mit gebührender Demut hingenommen, aber daheim, als sie im Herrgottswinkel auf dem oberen Flur selbst das Öl in die ewige Lampe goß, die ihr mildes Licht unter dem bemalten Holzbild des Gekreuzigten rötlich durch den Raum strahlen ließ, war sie im stillen erschrocken gewesen über solche Gedanken eines Mannes, dem sie doch nach Bauernart die Hand zu küssen pflegte.

Die Weltabkehr war in ihr erst seit kaum zehn Jahren erwacht. Es wurde gemunkelt, sie habe ihren Gatten einmal, als die Mädchen noch kurze Kleider trugen, auf unrechten Wegen ertappt. Seitdem senkten sich streng und fromm ihre Blicke. Nur wenn sie über die Schlechtigkeit anderer Menschen herfiel, schien das alte Feuer in ihnen zu brennen, und man meinte Ossanas heiße Augen zu sehen. Merkwürdig vertraut war sie mit allen Schwächen und Schlichen der Menschenseele, als hätte sie in Jugend und erstem Frauenleben manch seltsame Kenntnis erworben. Es war erstaunlich, was sie doch an der Verworfenheit anderer für Anteil nahm.

Eines Nachmittags kam sie mit roten Wangen zur Jause aus Meran zurück. Der Baron war noch nicht erschienen. Tante Angiolina fragte, wo er sei, während sie sonst nicht immer heiße Sehnsucht nach ihm verriet. Als er nun wirklich eintrat, die Hände in den Taschen des leichten Leinenrockes, den er im Sommer zu tragen pflegte, rief sie erregt:

»Weißt du das Neueste, Leopold?«

Der dehnte die Arme: »I komm ja nit mehr hinaus.«

»Erinnerst du dich der Person, die immer auf der Promenad' gegangen ist? Im Theater soll sie in der Proszeniumslog' gesessen sein. Die mit dem gefärbten Haar –«

Der alte Herr zuckte die Achseln. Sie ereiferte sich:

»Tu doch nicht so, ihr seid's ja alle hinter ihr hergelaufen, seid's ganz verrückt gewesen in die Person, was sie für Kleider getragen hat und was für Hüt' – – als ob sie die Mode machen tät'!«

»I weiß schon, Angiolina, aber was is denn mit der g'scheh'n?«

»Der Siebenlehn ist mit ihr durchgegangen.«

Sie erwartete lähmendes Entsetzen, doch er lächelte freundlich: »Er hat ganz an guten Geschmack.«

Sie hatte sich an der heißen Teetasse verbrannt und setzte sie wütend hin:

»Das ist die Antwort? Schämen soll er sich, der... Und denken, daß man einen solchen Menschen im Haus g'habt hat! Da ist er g'sessen. Seine Kinder hat man ihm ruhig anvertraut. Du sagst natürlich immer – bei dem ist ja ka G'fahr. Mit die Mädeln is er im Garten gesessen, ganz allein. Den ganzen Marlinger Berg ist er mit ihnen 'naufgestiegen, ganz allein, wie ein Onkel, wie ein Vater ... und ... stundenlang allein. Pfui!«

Ossana und Henrietterl machten fromme Gesichter und starrten vor sich hin. Tante Angiolina aber wollte Zustimmung finden. Jemand sollte ihre Entrüstung teilen. So wandte sie sich zu Margret, die noch eben drüben den Tee gemacht: »Und so ein Mensch wagt es, hier freche Bemerkungen zu machen! Was, Margret?«

Die stand im Gehen, das Gesicht hinausgewandt. Da der Baron anfing zu lachen, entlud sich das Gewitter auf ihre Tochter, deren Zustimmung sie gesucht:

»Nun, da red' doch!«

Brennend rot drehte Margret sich um. Ihre sonst so ruhigen schwarzen Pupillen schossen Blitze: »Was geht mich der Kerl an? Wurscht ist's mir, was er tut!«

Es kam so leidenschaftlich heraus, daß alle Augenpaare erstaunt auf ihr ruhten. Aber sie hatte der Familie den Rücken gedreht und beschäftigte sich mit dem Tee.

Da hörte man Stimmen draußen. Der Diener meldete. Graf Meinhardt Aich und Graf Bernburg traten ein.

Baron Durazzi ging ihnen entgegen und umarmte Meinhardt zärtlich: »Ein seltener Gast! Hast denn ganz auf uns vergessen? Aber i mach' dir ja kein' Vorwurf nit, bin ja froh, daß du überhaupt da bist. Ich sag' dir, ledern ist's! Übrigens, was macht denn der Bernburg hier? Ich denk' der ist längst futsch?« Meinhardt dämpfte die Stimme: »Er behauptet, er sei auf der Durchreise nach Sulden. Er hat mir einen Besuch gemacht, ich weiß nicht, wie ich zu der Ehr' komm'; und weil er erzählt hat, daß er zu euch will, bin ich halt mitgekommen.«

Da trat Graf Bernburg hinzu, eine Sinfonie in Grau: grauer Anzug, perlgraue Handschuhe, grauer Schlips, einen grauen Hut in der Hand, grauweiße Strandschuhe an den Füßen. Ossana fing an zu lachen. Er sah sie von der Seite an: »Worüber freuen's sich denn so, Baronin?«

Tante Angiolina warf ihrer Tochter einen verweisenden Blick zu:

»Wir freuen uns, daß Sie gekommen sind. Und so schön sind's angezogen!«

Er verbeugte sich, nahm zwischen Margret und dem Henrietterl Platz und unterhielt besonders die junge Gräfin auf Tod und Leben. Er erzählte von Wien. Baron Durazzi rief herüber: »Wie war's?«

»Fesch!«

Das Henrietterl fragte, und er begann aufzuzählen, wo er gewesen: einen Abend in »Venedig in Wien«, gespeist habe er im Volksgarten, dann in »Venedig in Wien« und dann gespeist im Volksgarten und dann in »Venedig in Wien.«

Tante Angiolina hatte einmal gemeint, eine Neigung des jungen Grafen für Ossana zu entdecken; nun sagte ihr eine dunkle Ahnung, sein plötzliches Erscheinen hinge damit zusammen. Graf Bernburg galt für wohlhabend. Im Burggrafenamt waren der Freier eben nicht viel, so wollte sie den beiden Gelegenheit geben, sich auszusprechen. Obgleich die Sonne schon niederzusteigen begann, war es doch drückend heiß. Tante Angiolina schlug also vor, die Gaulschlucht in Lana zu besuchen: längs des tosenden Wassers war es kühl und romantisch. Und dann würde man gleich beim Theißwirt speisen. Das Nachtmahl konnte sie abbestellen, und die beiden Gäste zahlten beim Theiß jeder für sich. So hatte sie sogar noch einen Überschuß.

Im glühenden Sonnenbrand ging es zwischen den Weingartenmauern hin, die ihre aufgespeicherte Tagesglut ausstrahlten. In den Laubengängen hingen schon die blauen Trauben, umrahmt von den in allen Farben geschwefelten Rebenblättern. Die Äste der Obstbäume bogen sich unter dem Segen der Äpfel und Birnen. Ochsengespanne begegneten ihnen mit der in die Höhe stehenden Deichsel, darauf die schwarzgebrannte Hand des führenden Bauern lag. Für jeden hatte der alte Baron ein paar freundliche Worte, während Tante Angiolina unter dem weißen Dach ihres Schirmes schwitzend und schnaufend daherschritt, wortlos gegen die am Wege, halb aus Faulheit, halb aus Durazzistolz.

An berstenden Häusern kamen sie vorüber, die Dächer einsturzbereit, schon seit hundert Jahren mit Lücken im Hohlziegelbelag, die eine fleißige Hand schnell hätte schließen können.

Die Tram kam gebraust. Die Damen traten beiseite und hielten die Schirme gegen den Staub, wie einst die Alten ihre Schilde. Margret ging allein voraus, dann kam Tante Angiolina, endlich Meinhardt, der alte Herr und Ossana, während Graf Bernburg mit dem Henrietterl den Schluß bildete. Wo der Pulverstaub der Straße knöcheltief lag, hob sie mit einem Male ihren fußfreien Rock und dicht neben dem Ahnungslosen trat sie fest auf – patsch – daß der Staub nur so dampfte. Dabei wollte sie sich ausschütten vor Lachen. Aber er war weiter nicht böse.

Als sich nun die hohen Felswände der Gaulschlucht auftaten, wehte ihnen ein kühler Hauch entgegen. Von der letzten Schneeschmelze voll Wasser tobte und rauschte der Ultenbach unter ihnen, als sie auf schmalem, an die Porphyrmauern geklebtem Holzsteige schritten. Graf Bernburg und das Henrietterl waren hinter den anderen zurückgeblieben, von denen man schon nichts mehr sah. Das Wasser strudelte, fiel über Felsblöcke und schäumte auf in hohen Wellen. Er begann ihr allerlei vorzureden von seinen Neigungen, nicht viel anders als der Oberleutnant König aus Kremsmünster, nur war kein ernstes und vernünftiges Wort dabei. Mit seinem ewig lächelnden Gesicht erzählte er, wie es lustig sei, das Rennen in der Freudenau – bitte – und eine Praterfahrt – bitte und die Operett' – bitte – und das Varieté – bitte – und er tanze sehr gern – bitte. Er malte ein Bild des Lebens in Wien, von dem eine dunkle Ahnung in ihr war, es müsse sein, wie er es als höchsten und einzigen Ausdruck seiner Befriedigung zu preisen pflegte: fesch.

Als er so plauschte, bekamen ihre lächelnden Mongolenaugen, vor Sehnsucht all das »Fesche« zu sehen, einen fast ernsten Ausdruck.

Auf dem engen Holzsteg, hart an die Felsen gebaut, setzte sie sich auf ein schmales bankartiges Brett und starrte hinunter, wo das Wasser sprudelte oder in flachen Spiegeln hinzog. Er nahm neben ihr Platz und betrachtete das junge, hübsch gewachsene Ding, die Gräfin von alter Familie, wie er sie brauchte, denn sonst bekam er die Herrschaft vom »spinnenden, steinalten« Großonkel nicht vererbt, eine, die noch dazu Geld hatte und auch gewiß alles mitmachen würde, was seine Seele begehrte. Ein Schürzenjäger, eine Nachtlampe war er nicht. Seine Gedanken richteten sich zu sehr auf die eigene Erscheinung und Bequemlichkeit, als daß er für irgendeine Huldin Zeit und Geld gehabt hätte. In dem sicheren Gefühl, dies Mädel würde mit ihm nach seinem Geschmacke leben, auch mit dem Ring am Finger, machte er mit einem Male runde Augen und runde Nasenlöcher und begann eine Art Liebeserklärung. Sie verstand nur die Hälfte bei dem Rauschen der Wassermassen, doch sie erriet. Es sträubte sich etwas in ihr, alle Kobolde erwachten. Plötzlich sprang sie auf, verzog zum Weinen gramvoll das Gesicht, schluchzte, wischte sich die Augen und schrie in sehnendem Jammer: »I nehm mir's Leben!«

Dann stürzte sie mit wilder Gebärde davon. Er starrte ihr erschrocken nach. War das zu früh gewesen? Hatte Ossana etwas gesagt? Die verfluchten Mädel tratschten doch immer untereinander! Er lief ihr nach.

Dicht am Ultenbach, der gurgelnd rauschte, machte es: klatsch, patsch – das Wasser spritzte ihm ins Gesicht, und ehe er sich retten konnte, war sein schöner Anzug von oben bis unten durchtränkt.

Das Henrietterl kauerte am Wasser. Er packte sie: »Henrietterl! Jetzt muß i dich strafen!«

Sie warf den Oberkörper scharf zurück, so fiel er vornüber mit dem Kopf fast auf sie. Als er diese festen Glieder fühlte, den frischen warmen Duft ihres keuchenden Leibes, der aus dem Kleide ihm entgegenschlug, preßte er seine Lippen zwischen Haar und Kragen auf ihren braungebrannten Hals. Etwas kam über sie, wie damals als der Oberleutnant aus Kremsmünster, der ehrliche, ernste Mensch, ihr gegenüber gestanden. Graf Bernburg suchte ihren Mund, und da war ihr Lachen, ihr dummes Mädchengetu' dahin. Halb in Schreck, halb von irgendeinem seltsamen Neuen getrieben, überließ sie ihm ihre Lippen. Als sie die fremden fühlte, zuckten dunkle Gedanken blitzartig in ihr auf, wie sie einst als kleines Mädel mit dem Riffesser Sohn vom Gnadhof im Heu gespielt und sie dem braunen Bauernburschen einen Kuß gegeben. Da sagte sie stöhnend, denn er hielt sie eng an sich gepreßt: »So keck! Da, jetzt sollen's sehen!«

Und sie erwiderte wie eine Strafe den Druck seiner Lippen. Einen Augenblick. Dann kam Wut und Empörung über sie: dunkelrot wurde sie bis in den Hals hinein. Sie wollte ihn von sich stoßen, sie keuchte, bis die Glut auf ihren Wangen allmählich erschrockener Blässe wich:

»Jetzt – jetzt – müssen wir heiraten!« Er hielt ihre kleinen zitternden Hände: »Aber schau, deswegen bin ich doch gekommen!« Sie lachte wie ein dummes Kind, das ein Geschenk erhalten. Heiraten? Heiraten! Es war ihr etwas herzig Neues, das sie erfuhr. Er half ihr sich erheben und reinigte mit dem Taschentuch vorsorglich das Kleid, nachdem er sich selbst erst die Knie abgeklopft.

Das Henrietterl war noch immer ein wenig verwirrt. Doch plötzlich zeigte sie fröhlich die Zähne und ihre Mongolenaugen tauchten unter die Lidfalte: »Dann sind wir verlobt?« Er stand da und wippte mit dem Fuß: »Sozusagen!«

Er nahm sie noch einmal, küßte sie auf den Mund und sie gab ihm den Lippendruck zurück, nicht anders, als ob sie einer ihrer Kusinen einen Kuß versetzte. Nun hing sie sich in seinen Arm, während sie, die Büsche teilend, die Böschung hinaufstiegen. Erst als sie auf dem Wege irgendwo durch das Grün etwas Helles schimmern sahen, ließ sie ihn los: »Ich muß es der Tante sagen!«

Tante Angiolina war die erste, die umgekehrt, denn sie mochte nicht weit gehen. Mit dem Aufgebot ihrer größten Liebenswürdigkeit bat sie: »Lieber Graf Bernburg, tun's mir einen Gefallen, bitte schauen's einmal nach, wo die anderen bleiben, und sagen's der Ossana, sie möchten zurückkommen, sonst wird's zum Nachtmahl zu spät!«

Lässig bummelnd kam Baron Durazzi mit Margret daher, indem er sich von der Sonne den Rücken bescheinen ließ, pfiff und mit den Fingern schnalzte. Als der alte Baron den beschmutzten und zerknüllten Anzug des sonst wie aus dem Ei gepellten jungen Mannes gewahrte, schlug er die Hände zusammen:

»Ja, wie schauen's denn aus!«

Sie lachten alle drei, aber der junge Mann verkündete: »Ich hab' mich mit dem Henrietterl verlobt!«

Im ersten Augenblick war der alle Herr starr, noch mehr aber Margret, die durch Ossana von seiner Werbung vor ein paar Wochen gehört. Er mochte etwas davon fühlen: »Ja, mein Gott, man geht manchmal irr, aber wir haben das Richtige getroffen. Schauen's, i bin fidöl, und mein' Frau muß halt a lachen können! I glaub' schon, das Henrietterl passet nach Wien, denn in Wien werden wir doch leben! Wien ist Wien!«

Damit hatte er Baron Durazzis Herz gewonnen. »Ich freu' mi sehr, fürs Henrietterl und für Sie. lieber Freund.«

Er streckte ihm beide Hände entgegen. Der fragte: »Nachdem meine Braut bei Ihnen ist, darf ich doch um Ihr Einverständnis bitten?«

In der ersten Wallung, wie er mit jedem Menschen freundlich war, umarmte ihn der alte Herr und klopfte ihm von hinten auf die Schulterblätter: »Aber natürlich!«

Doch während sie langsam weitergingen, wurde er unsicher: »Schauen's... eigentlich müssen's schon den Meinhardt fragen. Er ist der älteste Bruder, der Majoratsherr –«

Der glückliche Bräutigam eilte also zurück, es Meinhardt zu sagen.

Ossana stand mit Meinhardt Aich am Ende des Gaulschluchtweges, wo in die für das Elektrizitätswerk gestaute Flut ein gemauertes Eck vorsprang, auf drei Seiten von brausenden Wassern umströmt, nur auf der vierten mit der Welt verbunden durch einen schmalen Tunnel, der, die letzte Felsnase durchbohrend, allein den Weg hierher ermöglichte. Immer wieder zeigte sie ihm neue Herrlichkeiten, den Bach hinauf, die Felsenwände hinan, auf denen man hoch oben gegen den Himmel einzelne Bäume schütteren Waldes sich abheben sah. Als er sich zum Gehen wandte, fragte Ossana: »Meinhardt, warum bist du nie mehr kommen?« Ihre dunklen Augen blickten ihn sehnsüchtig traurig an.

Er wich aus: »Ich hab' viel zu tun.«

Sie senkte den Kopf:

»Es ist vielleicht unzart, daß ich dir's sag', aber schau, Meinhardt, du bist doch nit so wie die anderen! I wollt' dir sagen, i bin nit bös g'wesen, daß du nit sehr höflich g'wesen bist und so – –«

Er nahm ihre Hände, zog sie sich auf die Brust und sagte in tiefster Bewegung, ihr ganz nah: »Ossana, weißt du denn nit, was geschehen ist? Wirklich nicht? Weißt du nicht, was sie mir angetan hat?«

Ihr Mund ging leise auf: »Was ist denn?«

»Einen Korb hat sie mir gegeben!«

»Margret, ja, ja – hast du denn – mit ihr gesprochen?«

»Ja. Schau, lieb hab ich sie, so lieb! Und dann sagt sie nein! Deswegen bin i nit mehr kommen. Und wenn der Tepp, der Bernburg, nit kommen wär' – wär' i auch nit da; mit jedem ist sie freundlich, nur mit mir nit, und i hab' sie doch so lieb!«

Ossana entwand sich seinen Händen; er merkte es nicht, sondern fuhr fort:

»Ossana, magst mich a bissel gern als Vetter? Ich kenn' dich doch, seit du so groß warst... so groß. Magst mich a bisserl gern?«

Ein flammender Blick traf ihn, aber sie schlug sofort wieder die Augen nieder und nickte. Er bat: »Ossana, red' a bissel für mich bei der Margret, hilf mir.«

Das Mädchen atmete heftig, und mit einem »Nein! Nein!« tauchte sie in die schwarze Öffnung des Tunnels und rannte, rannte... Erst kurz vor dem Ort, wo die Felswände zurücktraten, um bald in das breite Etschtal zu münden, holte sie die anderen ein. Margret ging mit dem Henrietterl weit voraus. Die Eltern folgten. Aber Ossana hielt sich zurück. Sie sah, wie die Mutter sich gegen den Papa wandte.

Der hatte ihr freudestrahlend die Verlobung mitgeteilt, sie aber herrschte ihn an:

»Da freust du dich? Ich versteh' di nit! Was fällt dir denn ein? Was soll denn nun mit uns werden?«

Leise setzte sie ihm auseinander, wie doch dann die Pension wegfiele, die das Henrietterl zahlte. Er hatte sich um die Geldverhältnisse nicht mehr gekümmert, seit sie dem lockeren Vogel von der tatkräftigeren Gattin weggenommen worden. Nun stellte sich heraus, was der alte Baron in der Angst, um seine Bequemlichkeit zu kommen, hatte auf sich beruhen lassen, daß sie vom Henrietterl eigentlich lebten. Die schönen Zinsen ihres Vermögens kamen ihnen zum großen Teil zugute. Die Baronin verteidigte es: das Henrietterl habe dafür ein Zimmer ganz allein, wo doch die eigenen Töchter in einem zusammen wohnten; die kleine Gräfin sei auch viel besser gekleidet, hätte sozusagen eine Jungfer für sich, es würde überhaupt viel mehr auf sie gehalten. Sie suchte sich zu rechtfertigen, daß sie seinerzeit das Henrietterl, als es vor der strengen, aber gerechten Hand der Stiefmutter entflohen, in Göllan behalten. Von dem Tage an war der Niedergang der Durazzi aufgehalten worden, zum mindesten aßen sie umsonst.

Wie Tante Angiolina so dastand, im Kreuz liegend, den starken Leib vorgestreckt, schwarz gekleidet, mit ihrem pechrabenschwarzen Haar und den funkelnden Augen, schien es erklärlich, daß der alte Baron kein Wort zu erwidern wagte. Als sie sich umblickte, sah sie Ossana hinter sich.

»Hast schon g'hört, daß der Bernburg ums Henrietterl angehalten hat? Nach fünf Minuten! Nachdem er sie vorher nit angeschaut hat?«

Ossana warf verächtlich die Lippen auf: »Dafür hab'ich ihn abblitzen lassen!«

Der Tante Arme sanken schlaff herab; fast wäre ihr der Schirm entfallen: »Was?«

In Ossanas Seele zitterten noch die Worte, die Meinhardt eben gesprochen: »Meinst, Mama, ich interessier' mich für den Affen? Für den? Hahaha, das wirst doch nit glauben!«

Tante Angiolina stockte fast der Atem: »Und... er... wird einmal... so reich...«

Plötzlich fiel sie über die Tochter her: Ob sie denke, daß sie Millionäre wären, einen dermaleinst in Gold schwimmenden Schwiegersohn so abfallen zu lassen? Aber als Tante Angiolina begann, da sie Vergleiche liebte, ihr Margret als Muster vorzuhalten, schoß es von Ossanas Lippen, scharf wie ein klirrender Pfeil: »Die Margret? Ha!«

»Ja, die Margret!«

»So, Mama, und mit dem Meinhardt?«

Tante Angiolina warf sich ganz ins Kreuz, daß ihre gewaltigen Formen vorstanden. Über ihr Gesicht glitt ein Strahl neuer Hoffnung:

»Ah, der Meinhardt! Na, da werden wir halt schauen!«

»Einen Korb hat's ihm geben!«

»Dem Meinhardt?«

»Ja freili, dem Meinhardt!«

Ossana strahlte. Tante Angiolina aber stammelte nur: »Und sie hat nix g'sagt...« »Die Margret sagt nie was.«

In diesem Augenblick blieben das Henrietterl und Margret stehen und drehten sich um. Der alte Baron machte eine Armbewegung, sie sollten weitergehen. Tante Angiolina rauschte davon. Langsam folgten Vater und Tochter. Sie sprachen beide kein Wort.

Beim Theiß wurden zwei Tische zusammengerückt. Rundum saßen Einheimische oder Meraner, einfache Leute, die den Samstag benutzt, einen Ausflug zu unternehmen, bei ihrem »Viertele«.

Tante Angiolina ließ mit rotem Kopf schweigend ihre Augen zwischen den Töchtern hin- und herpendeln. Auch dem Henrietterl war das Lachen vergangen. Da sah man zwei Gestalten von der Gaulschlucht her um die Ecke biegen: den großen Meinhardt, daneben den bummelig tänzelnden Bernburg, der seinem Begleiter, wie es schien, mit dem heitersten Gesicht allerlei vorschwatzte. Der aber war wohl einverstanden.

Da hatte Baron Durazzi einen der wenigen Augenblicke, wo er keinen Widerstand duldete. Er nahm seiner Ehehälfte Hand, drückte sie, daß sie den Mund verzog, und zischte mit einem Blitz seiner scharfen grauen Augen:

»Angiolina, i bin sonst a guater Kerl, aber wann du mir jetzt a Szen' machst, mach' i an Skandal hier auf der Stell'!«

Die drei Mädchen blickten auf den Teller. Er dämpfte seine Stimme und sagte, doch immer noch laut genug, daß sie es hörten:

»Neid kennt ein anständiger Mensch nit, das hat's in unserer Familie nie geben. Das san welsche Mucken!« Sie preßte die Lippen aufeinander, denn sie wußte, wenn er, der Deutschtiroler, von ihrer italienischen Abstammung anfing, dann wurde es ernst.

Da kam auch schon Graf Bernburg angewippt mit seiner strahlendsten Miene, daß auf des Henrietterls lustiges Gesicht das Lächeln wiederkehrte. Meinhardt ging zu seiner Schwester: »Du mußt wissen, was du tust!«

Dann streifte sein Blick Margret:

»Ich will dem Glück eines andern nit im Weg stehen! Niemand soll Herzleid haben. Durch mich g'wiß nit.«

Tante Angiolina fühlte, zu ändern gab es nichts mehr. So erhob sie sich, auch Ossana und Margret waren aufgestanden, und es folgte ein rührendes Händeschütteln und Küssen, wie es unter Damen nicht anders ging. Graf Bernburg wurde neben seine Braut gesetzt. Die beiden wisperten nun zusammen und wollten sich ausschütten vor Lachen.

Graf Meinhardt hatte einen guten Wein ausgesucht, auf das Wohl des Brautpaares zu trinken; dazu bestellte er ein kleines Essen. Der alte Herr aber feierte die Feste, wie sie fielen. Der erlesene Tropfen, so gut, wie ihm seine Frau keinen in Göllan vorsetzte, floß ihm feurig durch die Adern. Ja, Verlobung! Ja, jung sein und Lachen und Freude!

Einmal um das andere klirrte sein Glas bald gegen die vereinigten des Brautpaares, bald an denen seiner Töchter. Es gab sogar eine Versöhnung mit Tante Angiolina. In ihre schwarzen Feuerräder sah er und sprach: »Schau, das ist halt im Leben so. Der eine will und die andere nit, und die eine will und der andere nit – und so oder so, am Schluß geht's doch.«

Dann ließ er sein Glas gegen jenes seines Wahlverwandten und lieben jungen Freundes klingen und flüsterte, während sein Blick zu Margret hinüberirrte: »Wir Männer versteh'n uns! Wir sind eins gegen die Menscher, im Grunde immer und ewig. Aber Meini, du tust mir leid, schrecklich leid! Die Margret ist von den drei Mädeln die beste, wenn sie auch nit lacht und 's nit auf der Zungen trägt. Dir hätt' ich's vergönnt, und mei'm Mädel hätt' i dich gegönnt, 's wirklich ein Jammer! Am liebsten tat' i weinen. I möcht dich ja so gern als Sohn haben, das wär' mir das Liebste noch, eh' i in die Grube fahr'. Obwohl i dazu noch gar kei Lust hab', solang' die Welt so schön is und solang's noch Glück und Lieb' und junge Leut' gibt.«

Meinhardt leerte sein Glas und setzte es langsam hin, während vom anderen Tischende das Kichern des Brautpaares klang.

Die Dunkelheit war eingefallen. Elektrische Lampen strahlten von der Wand, auf den Tischen standen Windlichter. Schon waren Gäste aufgebrochen. Auf die Brüstung gelehnt, eng aneinandergedrängt, schwatzte das Brautpaar, und man hörte ab und zu das Lachen der beiden Glücklichen. Auch die Schwestern beugten sich über das Geländer und sahen hinab auf die grau schimmernde Straße, wo Paare wandelten, die Arme um die Schulter geschlungen, als ob die Wärme die Menschen zueinander triebe. Meinhardt trat zwischen Margret und Ossana, und sie sprachen gedämpft über Bernburg und das Henrietterl. Baron und Baronin Durazzi waren am Tisch geblieben. Er tröstete seine Frau, vielleicht konnte man eine neue Grundschuld auf das Haus aufnehmen. Das kam ihm vom Munde, als könne kein Mensch einem Durazzi solch albernen Gefallen abschlagen. Tante Angiolina aber, die den wahren Einblick in die Verhältnisse hatte, warf ein: »Leopold, das hilft doch nur ein paar Jahr'! Und wenn's aufgegessen ist?«

»Wir zwei allein, pah! Und die Mädeln sind ja dann unter der Hauben!«

Ihre Augen leuchteten: Margret und Ossana! Eine schöner wie die andere, ihr Blut. Daran zweifelte sie nicht. Nur leben mußte man bis dahin. Mit einemmal flüsterte sie ihm zu:

»Ich werd' den Meinhardt fragen.«

Er fuhr zurück, nahm eine großartige Haltung an, der Ehrenmann und alte Offizier regle sich in ihm:

»Angiolina, das darfst nit. Den Mann anpumpen, der von Margret einen Korb kriegt hat?«

Der alte Baron stand auf und legte seiner Ehehälfte die Hand auf die Schultern: »Angiolina, ich verbiet' dir's. Fertig. Schluß.«

Dann ging er, die Zigarette im Mundwinkel, die Hände in den Taschen, eine Weise summend, zwischen den Tischen auf und nieder. Er hatte Grundschuld und Sorgen schon längst vergessen, hier unter dem sternenstrahlenden Himmel seines Vaterlandes, hier auf dieser Erde, die solche Schönheiten barg wie die rundum. Er blieb stehen und sah hinauf, wo eben die Mondscheibe hinter den Zacken des Ifingers erschienen war und nun ihr ruhiges, weißes Licht herübersandte. In der Ferne hörte man den Ultenbach rauschen. Unten auf der Straße war alles still, nur weit draußen im hellen Licht des Mondes sah man auf der weißen Straße die Pärchen wandeln, die Wangen einander genähert, der süßen Nacht entgegen.


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