Georg Freiherr von Ompteda
Margret und Ossana
Georg Freiherr von Ompteda

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Zweites Kapitel

Graf Meinhardt Aich fuhr durch Obermais' ewiggrüne Gärten. Die Nadelhölzer erwachten schon aus stumpferem Wintergrün zu helleren Farben. An den Laubbäumen ahnte man erst die Knospen, die bei dauernder Wärme sich in wenigen Tagen zu Blättern entfalten würden. Rund um den Postplatz träumten die alten Schlösser Rottenstein, Rosenstein, Reichenbach und Rundeck, und durch die lange Gasse lugten die in den Tiroler Farben weiß und rot prangenden Läden des adligen Ansitzes Knillenberg. Am plätschernden Brunnen sogen Kühe gierig das Wasser aus dem Becken.

Höher strebte der Wagen die Straße hinan, die Wohnsitze lagen jetzt weiter auseinander, die Zahl der Anger wuchs, von alten Edelkastanien umsäumt, mit Obstbäumen bestanden, die schief gewachsen, verknorrt und verknorpelt, die Zweige niederhängen ließen vom jährlichen Segen, den das Land fast ohne Mühe den Menschen schenkte. Jenseits der Ralf kamen die welschen Zinnen des Schlosses Rametz in Sicht, in Weingärten gebettet. Wein wuchs hier, überall Wein. Nun tauchte das Schloß Labers auf, den Eingang zum Naißtal hütend, dann führte die Straße am Berge hin, hoch über der Tiefe, in der winzig das Kirchlein St. Valentin lag. Bauernburschen, die braunen Röcke mit den roten Aufschlägen über die Achsel gehängt, daß darunter die grünen Hosenträger weithin leuchteten, am Hut die rote Schnur, ihr Ledigsein kündend, gingen vorüber. Ein alter Mann, mit grauen Bartstoppeln, wohl der Vater, folgte allein. Die jungen Leute achteten nicht auf das Gefährt. Der Alte aber wich, wie in augenblicklichem Erschrecken, zur Seite.

»Grüaß Gott, Kuntner!«

Meinhardt ließ den Magen halten, und die beiden schüttelten sich die Hände. Der Bauer strich sich das weiße Haar aus der Stirn:

»Mir hab'n schon g'moant, Sie mögen gor nimmer kemmen.«

»Es geht nit immer, wie man will!«

Der Alte blinzelte listig:

»Sell woll, i verstea schon, man hat eppes g'hört. Aber kehren's nit a mol zua bei ins, Herr Grof? Möcht' ins schon sehr frein, mein Suhn und mei Tochter – –«

»Ja, i komm', grüaßt mir die Frau.«

Der Alle sah ihn mit offenem Munde an:

»Der Herr gib ihr die ewige Rua, am Pfingstig sein's zwoa Johr, daß mir sie begraben heben.«

»Ach!«

»Ja, du mei! Sterben müassen mer olle. Und die Muatter hat koa Freid mehr g'hobt am Leben, arbeiten hat s'a nimmer kinna, und der Bauer muaß arbeiten, sonst geat nix mit ihm!«

Die Knie auseinander bei seinen krummen Beinen in den dicken Hosen, die eine Handbreit über die Knöchel hinausstanden, zog er bedächtig den Lederbeutel mit dem Tabak und begann, seine Pfeife zu stopfen. Während er das Streichholz an der Hose anstrich, fuhr er fort:

»Na die Frau Muatter, Herr Grof, ischt koa schlechte Frau nit, wia man a so hört. Ja, und der Herr Vater ischt halt schun alt g'wesen. Olte Leit sein nix mehr nutz. Bald i nimmer arbeiten kinnt – i wollt', i war glei hin. Aber die Frau Gräfin ischt no guat beieinand. Wann i so oane fand', i tat's no amol wagen, denn fleißig ischt sie, wia man schun a so hört.«

Die Pfeife war in Brand. Der alte Bauer erstickte das glühende Zündholz in der hohlen Hand. Eine Weile schmauchte er. Auch Meinhardt schwieg. Dann blickte der Alte zum blauen Himmel auf und sagte unvermittelt:

»'s geat a guater Wind!«

Und er fuhr mit den rissigen, knorpligen Fingern, daran die schwarzen Nägel saßen, einen weiten Bogen von der Mutspitze herüber nach Süden: »Woll, woll, Pfüat Gott!«

Sie drückten sich die Hand: dann stolperte der Alte in schwerfälligem Gang, eng die Beine voreinander setzend, wie die Bergler es tun, den Fahrweg hinab, ohne sich umzusehen.

Immer weiter ward, wie der Wagen nun um die Ecke kam, der Blick. Mit einemmal tat sich das ganze lachende Etschland auf, darüber die Berge: der Lodner dort, der hinter dem Tschigat emporgewachsen war, das Vinschgau, zum Ortler hinanführend, das Passeier mit seinen schneebedeckten Höhen, und nach Süden, der Sonne zu, die dort als Feuerball am Himmel stand, die steil abfallende Nase des Gantkofels. Unten lag Meran: man sah die grünen Flecke der Gärten, die hellen Striche der Straßen, dann Weingärten, Obstanger. Hier und da schimmerte ein Dorf: Algund, Plars, Partschins, dort gegenüber Marling, und dann hineinfressend wie eine Hafenbucht, Lana, dabei Göllan, winzig nur, doch zu erkennen, mit dem Auge dessen, der dort seine halbe Heimat sieht.

Meinhardt ließ die Blicke zurückschweifen: da – tiefer als er stand – Schloß Katzenstein, höher darüber die Fragsburg, und zwischen ihnen schauten ihn die uralten Mauern der Rochusburg an, mit langgestrecktem Pallas und dem gewaltig trotzigen Bergfried, auf dessen Turm die Tiroler Farben, rot und weiß, halbmast wehten.

In dichtem, dunklem Geflecht umspann der Efeu die riesenhohe Mauer, darin die Fenster gotisch spitz, romanisch rund, mit Renaissancefassungen andere und mit glatten Spiegelscheiben. Schon bogen sie in den Kastanienhain und fuhren durch das Tor, Rest eines alten Vorwerkes, an dem schiefstehend, der Topfhelm darüber, das Aichsche Wappen angebracht war. Auf dem weißen Felde stand ein Männchen, geschmiert mit ungeschickter Kindernarrenhand. Das hatten sie einst als Buben gemalt, der Poldi und der Meinhardt. Und noch immer war es da. Nun fuhren sie durch den gewaltigen Torturm, an dem die mächtigen Falzsteine herausstanden, darinnen einst das Fallgatter gelaufen. Auf den Steinplatten hallte der Hufschlag. Der geräumige, dreieckige Hof tat sich auf mit der dunklen Efeuwand. Und wieder ein Wappen über der Tür. Ein grauer Kopf erschien, eine schwarze Livree, und Graf Meinhardt streckte dem alten Diener die Hand entgegen: »Ich wär' lieber zwei Wochen früher gekommen.«

»Ja, sie haben Exzellenz fortgebracht.«

»Ich war am Friedhof! Traurig, traurig!«

»Herr Graf sind lang' nimmer hier g'wesen!«

»Sehr lang' nicht! – Wie geht es Ihrer Frau?«

»Halten zu Gnaden, Herr Graf, wann's vielleicht Herrn Grafen hernach einmal begrüßen dürft'...«

»Gern. Was machen die Kinder?«

»Der Ält'ste ist in der Lehr'!«

»Und das Moidele?«

Über des Dieners glattes Gesicht ging ein Strahlen: »Verheiratet, Herr Graf!«

»Wer ist's denn?«

»Er ist Sattler in Meran!«

Graf Meinhardt brach ab:

»Wir sprechen noch mitsammen. Ist Exzellenz zu Haus?«

»Exzellenz erwartet Herrn Graf!«

Während der Diener den Läufer der breiten Wendeltreppe hinaufschritt, blickte Graf Meinhardt um sich. Vor dem großen Fenster der Halle streckte der Feigenbaum wie immer die winterkahlen Äste gleich dicken knorpeligen Fingern in die Luft. Da hingen noch die Waffen, die sie einst als Kinder so bewundert, der Schild, auf den sie verstohlen geklopft, damit es den schauerlich dumpfen Ton gäbe. Dort drohten die gotischen Rüstungen mit den seltsam spitzen Schuhen, den breiten Schallern, die aussahen, als hätten die alten Ritter Hüte aufgehabt. Nur ein Ungewohntes war zu erblicken: eine Anzahl Koffer standen am Eingang, jemand schien abzureisen. Oben aber, am großen Fenster, das der Papa einst hatte durchbrechen lassen wegen der Aussicht ins Etschland hinab, erhob sich eine schwarze Gestalt, und eine ruhige, weiche Stimme klang:

»Ich wollte, wir hätten uns früher gesehen!«

Er wich aus: »Ich wollt', ich hätt' meinen Vater wiedergesehen!«

Sie machte eine Bewegung, daß er Platz nehmen sollte. Da stand alles noch so wie früher. Mit einem Blick umfaßte Graf Meinhardt Bilder, Schränke, Leuchter, Tische, Stühle und die Truhen an der Wand. Er sah keinen einzelnen Gegenstand und hätte doch jede Veränderung wahrgenommen. Nein, es war, als sei er niemals fortgewesen.

Sie setzten sich. Nun, wo das halbe Licht auf das Gesicht der Dame da im schwarzen Kleide fiel, erblickte er ein paar kluge Augen, Züge, ernst, wie es dem Augenblick entsprach, und doch nicht geknickt. Faltenlos war das Antlitz, nur das ergraute Haar und die ein wenig schlaffen Wangen deuteten die Jahre an.

»Gnädigste Gräfin, ich hielt es für meine Pflicht, nun, wo ich dies Haus wieder betreten darf...«

»Es ist Ihr Eigentum.«

»Aber das Haus meines Vaters war mir verboten.«

»Ich hab' öfters versucht, Ihren Vater zu bewegen, Ihnen zu schreiben. Ich fühlte mich freilich auch nicht berechtigt, einen Druck auszuüben, wo meine Lage doch schwierig und peinlich war – –«

»Daran waren Sie doch selbst schuld.«

Ihre Augen richteten sich fest auf den Besucher:

»Ja, wenn man so will – ich war schuld, gewiß. Ich würd' es aber ein zweites Mal genau so machen.« Sie fuhr weicher fort: »Ich möcht' Ihnen aber erst einmal herzlich danken, Graf Meinhardt, daß Sie gekommen sind und mir so eine Aussprache ermöglichen. Ich bin sehr gerührt davon. Und ich freu' mich um so mehr, als ich dieses Haus ja verlasse –«

»Bitte, Gräfin, ich dränge Sie nicht etwa...«

»Doktor Kofler hat es mir gesagt. Ich bin auch dankbar dafür, aber ich hab' schon gepackt. Ich bin nur noch hier, weil ich hoffte, Ihnen die Rochusburg selbst übergeben zu können, Ihnen, dem Sohn, ich, die Mutter.«

Graf Meinhardt zog die Brauen zusammen: »Meine arme Mutter ruht seit vielen Jahren in ihrer Gruft. Und sie liegt an der Seite ihres Mannes.«

Die Gräfin antwortete ganz ruhig: »Gewiß, und zwar auf meinen Wunsch, denn eine Bestimmung seitens meines Mannes, dessen zweite Frau ich war, lag nicht vor. Ich hab' Ihren Vater auch nicht etwa kennengelernt, nachdem Ihre liebe Mutter gestorben war, hab' mich nicht – wie manche Leute zu denken scheinen – eingeschlichen in die Familie. Nein, ich hab' Ihren Vater gekannt, längst ehe er verheiratet gewesen ist. Er war damals in Wien im Ministerium und ich ein kleines Komtesserl. Bei uns waren die Verhältnisse nicht eben glänzend. Da kam Ihr Vater, klug, ernst, feinfühlig, am Beginn einer sicheren Karriere. Ich brannte lichterloh. Aber es ihm zeigen – niemals. Er näherte sich mir. Er war nahe an einer Erklärung. Da machte ein Kamerad von ihm Anspielungen auf die ›Komtesserln, die Versorgung suchen‹. Bei einem Charakter, wie ich ihn leider hab', ist das sofort das Signal gewesen, abweisend zu sein. Und als er um mich anhielt, lachte ich ihn aus. Er betrat unser Haus nicht mehr. Kurzum – dann hat sich Ihr Vater verheiratet. Und dann starb mein Vater und auch meine Schwester. Mein Schwager half mir, und ich nahm's an, doch bald fiel auch das weg, denn eines Tages sollte ich die Nachfolgerin meiner Schwester werden. Ich sagte nein – einfach weil ich – das mag den Oberflächenmenschen lächerlich erscheinen – nach zwanzig Jahren noch an Ihren Vater dachte. Von dem abgewiesenen Schwager wollte ich kein Geld nehmen. Und da ging mir's schlecht, so schlecht, wie's einem armen angejahrten Komtesserl nur gehen kann. Kurz darauf starb jedoch auch mein Schwager und setzte mich zur Erbin ein. Ich ward ein recht vermögendes Menschenkind und hab' keine Versorgung mehr gebraucht, gar keine. Da eines Tags in Wien trat Ihr Vater bei mir ein und sagte kurz: ›Ich bin Witwer. Ich war sehr glücklich, hab' nie wieder an Sie gedacht, seit ich damals von Wien fortgegangen bin vor fünfundzwanzig Jahren. Aber allein kann ich's nicht aushalten, gerad' weil ich so glücklich verheiratet gewesen bin. Meine Söhne sind beide fort, und die Kleine... Nun, Graf Meinhardt, das übrige wissen Sie ja!«

Einen fast harten Ausdruck hatte sie angenommen und ihre Augen blickten Meinhardt ohne Wimperzucken an: »Wir heirateten sofort. Ich bin nicht die Frau, sich vor Tratsch zu fürchten. Es gibt ein einziges, das uns Menschen Richter sein sollte: unser Gewissen. Auch war mir etwas, das Ihr Vater besonders betont hat, verlockend: ein mutterloses und, wie es schien, auf unsicherem Wege befindliches Kind zu einer vernünftigen Frau zu erziehen. Mir ist es nicht gelungen. Hoffentlich anderen. Kurz – so bin ich hierhergekommen.«

Graf Meinhardt erhob sich. Als er sich ihr näherte, erhob sich auch die schwarze Gestalt, die nun, nicht viel kleiner als er, vor ihm stand. Er sagte nur das eine Wort: »Mama!«

Sie öffnete die Arme, einen Augenblick berührten sich ihre Wangen. Dann mußte ihm die zweite Frau seines Vaters lange erzählen, von den letzten Stunden, Tagen, Jahren. Als er mit ihr zum Sterbegemach seines Vaters ging, sah er sich allein. Erst draußen trafen sie sich wieder, und mit einem dankbaren Blick belohnte er ihr Zartgefühl. Dann bat er, die Dienstboten zu besuchen mit ihr zugleich, und – wenn auch ein wenig zögernd – flocht er das Wort »Mama« ein, es klingen lassend vor den Leuten, die gewiß vom Zwist der Familie mehr noch wußten als irgendeiner der Beteiligten selbst...

Zu Tisch war Meinhardt wieder unten im Hotel. Als er dem Rittmeister mit warmen Worten von der Stiefmutter erzählte, machte der ein bedenkliches Gesicht:

»Meinhardt, du hast dich hineinlegen lassen!«

Doch der ältere Bruder ärgerte sich nicht, sondern steckte sich, ohne ein Wort zu erwidern, eine Zigarette an. Der Poldi sog den feinen Duft ein: »Geh, schenk' mir eine!«

»Ich laß dir welche schicken, Poldi.«

»Na, nehm's schon an, dank schön. Nachdem du der Majoratsherr bist...«

Doch Meinhardt gab keine Antwort. All seine Gedanken waren in Göllan. Er nahm seinen Bruder beim Arm, und erst als sie in der Tram saßen, die nach Lana fuhr, schien er zu erwachen.


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