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Schon waren rund um das alte Göllan die Weingärten begrünt, und nach Süden, wo der breite hölzerne Söller weit vorsprang, hingen an armstarken Stämmen um das Gebälk gerankt die traubenartigen lila Blüten der Glyzinien. Darum ein Summen und Surren von Kerbtieren, die der betäubende Duft angelockt. Der Garten, verwahrlost ein wenig, stieg lehnan. Von alten Kastanien beschattet und allmählich in den Anger übergehend, verlor er sich im Buschwald, den Marlingerberg hinauf. Bauernblumen blühten auf den Beeten, mit niedrigen Buchsbaumhecken eingefaßt, schief geschnitten von unlieber Hand. Seit Jahren wurden die Wege nicht beschottert, so wucherte auf ihnen Gras und Grün, darin wie über eine häufig begangene Wiese Pfade getreten waren. Auf den zerfallenen Einfriedigungsmauern des Gärtleins sonnten sich Eidechsen, alle Viere ausgestreckt, den platten Kopf aufgelegt, regungslos, nur mit den kleinen Äuglein sichernd, jeder Störung gewärtig. Eine grüne Lazerte, wohl eine Spanne lang, hatte den Vorzugsplatz auf einem feinen Marmorkapitäl, das einst vielleicht der Stolz eines Durazzi gewesen, nun aber wie jeder andere gemeine Stein mit eingemauert worden, ein Sinnbild gleichmachender Zeit. In einer Senkung von Dornen und Gestrüpp, von wild wuchernden Schlinggewächsen und dichtem Bambusgebüsch umrahmt, spiegelte grünlich schillerndes Wasser. Träge ruhte die Fläche, bis plötzlich etwas darüber huschte. Nun sah man den Kopf und die Bewegungen: eine Äskulapnatter schlängelte sich von einem Ufer des Tümpels zum anderen. Dann wieder sengende Stille und nur das Summen und Schwirren des Geziefers an den schweren Dolden der Glyzinien.
Über die dunkeln Hohlziegel des alten Ansitzes hinweg sah man in der Taltiefe auf dem geraden Strich der eingedämmten Etsch das Sonnengleißen, dann unregelmäßige Vierecke der Wiesen, mit Obstbäumen bestanden, deren Zweige aus alter Gewohnheit früchteschweren Tragens niederhingen. Erlenbüsche umfaßten graugrün das breite Ablagerungsfeld des Ultenbaches. Ein Sonnenflimmern lag über dem flachen Land, in dem etwas durcheinanderziehend sich bewegte. Erst bei genauerem Hinblicken entdeckte das Auge Abteilungen der Kaiserjäger jenseits der Etsch. Über der Unruhe ruhte in der Ferne, in grüne Gärten gebettet, das Häusermeer von Meran und Mais. Darum standen zackige Berge. Weingärten zogen ihre Lehnen hinan, dann Kastanienhaine grün und dicht, endlich Nadelholz schütterer mehr und mehr, daraus Geröll blinkte, und, gegen den Himmel abgesetzt, auf den Hochflächen des Mittelgebirges, Wald wie der Rücken einer haarigen Hand, endlich aber nackter, zerrissener, scharfer Fels. Und immer blieb in dem Bilde ein Punkt, der die Augen bannte: die weiße Rochusburg.
Da huschten, aus dem Ansitze tretend, die hellen Kleider junger Mädchen und Frauen. Offiziere, Herren im Tennisanzug waren mit ihnen. Bald sah man die roten, weißen, lila Pilze der Sonnenschirme aus dem Grün hervorwachsen. Gelächter klang. Einer der Herren hatte versucht, einen alten Kastanienbaum zu erklettern. Nun hing er zwischen Himmel und Erde und tat, als könne er nicht wieder hinab. Immer trostloser wurde die Miene dessen da oben. Er zog den Rock aus und warf ihn ins Gras, er ließ die Weste folgen, dann hakte er vorsichtig Uhr mit Kette an einen Zweig, und unter grauslicher Anstrengung und Gefahr kam er endlich ganz bequem und leicht herab. Ossana rief: »Jesses, die Uhr!«
Dort oben hing sie. Da mußte sich dann der Kletterer entschließen, den furchtbaren Weg hinauf abermals zu versuchen. Er tat auch, als träte er seine letzte Reise an. Eine Schnur hatte er mitgenommen, band die Uhr an und leierte sie hinab. Ohne Fährnis kam sie herunter. Nicht so der junge Mann, der ab und zu daneben trat, nur noch an einem Arm pendelnd, wobei er ein Zittern spielte. Schließlich, als er sich ganz verstiegen, zog er sein Taschentuch und begann herzbrechend zu weinen. Nun ward die Absicht gemerkt, und schallendes Gelächter belohnte den Kühnen für seine Vorführung.
Vorsichtig öffnete indessen Baron Durazzi die Tür zum Wohnzimmer, doch da drinnen achtete man nicht auf ihn. In der Mitte des Raumes um den Tisch saßen eine Anzahl Damen. Tassen und Teller standen zwischen ihnen mit Überresten von Teegebäck – nur wenig, Tante Angiolina berechnete knapp die Zahl der Menschen. Man sah ihren schwarzen Kopf und, wenn sie sich zur Seile beugte, die gelbliche Farbe ihrer Wangen. Sie tuschelte mit halblauter Stimme:
»Die Baronin hat mir's unter vier Augen gesagt. Sie sind nach Bozen gefahren. Im ›Greif‹ haben's mitsammen gespeist. Und ›Magdalenas Tränen‹ haben's getrunken. Sie sollt' lieber selber Magdalenas Tränen vergießen, das wär' passender. Auf die Virglwarte sind's gefahren. Und da ist es passiert – Gott behüte einen, von einem Nebenmenschen was Schlechtes zu sagen, weil die Welt eh schon so schlecht ist – aber nach dem Magdalener hat sie sich den ganzen Kaffee aufs Kleid g'schüttet. Da haben's ein Zimmer genommen, und während das Kleid getrocknet ist, hat sie so dasitzen müssen: aber meinen's, er wär' hinausgegangen?«
Eine zarte, unschuldige Stimme klang: »Ist das abends gewesen!«
»Aber nein, sonst könnt' man überhaupt nicht mehr mit ihr verkehren!«
Und wieder die süße Stimme: »Aber er ist doch nicht verheiratet!«
Tante Angiolina griff sofort ein:
»Bitte, geschieden ist er, und wenn er geschieden ist, gilt er auch noch als verheiratet. Daran darf man nit rütteln! Über sie steht's Urteil fest, und er ist schon ein ganz gemeiner Lump.«
In dem Augenblick ging die Flurtür auf, der Diener erschien, hinter ihm ein kleiner Herr mit dunkelblondem Spitzbart, lächelnd, daß die weißen Zähne glänzten. Die Damen starrten ihn an wie ein Gespenst, dann blickten sie eine der anderen entsetzt in die Augen. Tante Angiolina ging ihm entgegen mit dem freundlichsten Gesicht:
»Das ist aber eine Freud', lieber Baron. Wir haben schon gemeint, Sie kommen heut gar nimmer mehr. Die Mädeln sind im Garten, aber bleiben's ein bissel sitzen bei uns und erzählen's uns was.«
Von einer Dame ging er zur anderen, küßte jeder die Hand, sah jede lächelnd an und fand für jede ein artiges Wort. Tante Angiolina hatte mit Hilfe heißen Wassers den Teeresten eine letzte Tasse abgerungen. Schnell schob sie ein paar Keks zusammen und bot sie mit lächelnder Miene Baron Siebenlehn an. Der sagte: »Nein, gnädigste Baronin, ist das heut ein herrlicher Tag! Wie ich hier heraufgekommen bin, hab' ich mich gar nit trennen können von dem Blick. Immer wieder bewundere ich, wie man von Göllan weit hinunterschauen kann, noch weiter als von Meran, das ganze Etschtal hinab.«
Die zarte, unschuldige Stimme tönte abermals: »Bis Bozen?«
Die Damen machten strenge Gesichter. Baron Siebenlehn aber war keinen Augenblick aus der Ruhe zu bringen. Er ließ seine Augen im Kreise wandern:
»Bozen ist ein sehr nettes Städtchen. Ich bin vor ein paar Tagen erst dort gewesen.«
Etliche sahen sich entrüstet an. Er aber griff hinein ins Wespennest: »Gewiß, und ich hab' einen reizenden Tag verlebt in Bozen. Die Sonne schien genau wie in Meran über Gerechte wie Ungerechte. Und ich hab' Magdalener getrunken, hab' aber nicht geweint wie die Heilige auf der Flaschen. I hab' gar keinen Sinn für reuige Sünder, im Gegenteil, ich bin, rein um ihr zu entfliehen – denken's, meine Damen – auf die Virglwarte gefahren. Und da hab' ich etwas erlebt! Denken Sie, die Kellnerin hat das ganze Kaffeebrett auf den Schoß einer Dame fallen lassen. Die Menschen da zu sehen rundum! Die Schadenfreud'! Sie müssen nämlich wissen, gnädigste Baronin, es gibt Menschen, die sich freuen, wenn einem anderen ein Unglück passiert. Hat man da Studien machen können! Die G'sichter! Gelacht hab' ich! Übrigens, die Dame ist eine Stund' fortgeblieben, bis das Kleid gereinigt und getrocknet war, währenddessen bin ich im Restaurant g'sessen und hab' hinunterg'schaut vom Fenster auf Bozen, wo die Sonne schien auf Gerechte wie Ungerechte, und hab' gedacht: In Meran scheint sie genau so auf Gerechte wie Ungerechte.«
Er blickte die Damen der Reihe nach an, die plötzlich in ihren geleerten Tassen die Zuckerreste zusammenzukratzen begannen.
Tante Angiolina fragte in dem großen Schweigen ein wenig gezwungen: »Haben Sie meinen Mann schon gesehen? Ich glaub', er wird sich sehr freuen. Vielleicht holen Sie ihn uns her. Er hat nur müssen einen eiligen Brief schreiben!«
Der junge Baron lachte: »Ich bin eben eine Viertelstund' bei ihm in seinem Zimmer gesessen.«
Er drehte sich um. Unwillkürlich folgten ihm die Blicke: die Tür stand halb offen. Da fanden sich manch erschrockene Augen. Der junge Mann erhob sich: »Wir hatten an der Schwelle gewartet, Baronin, denn wir mochten die angeregte Unterhaltung nicht unterbrechen. Aber gestatten Sie, daß ich in den Garten geh', ich hab' die Damen dort noch nicht begrüßt.«– –
Nach den Aufregungen der Kletterei lastete die Hitze des Tages auf den jungen Leuten. Man suchte schattige Orte auf. Unter den »Köstbäumen« blendete hier und da ein helles Kleid, daß das Grün des Angers mit leuchtenden Flecken betupft schien. Oberleutnant König war mit dem Henrietterl so weit nach Marling zu gegangen, daß nur noch verlorene Laute lachender Stimmen bis zu ihnen drangen. Im ruhigen Schatten der Edelkastanien schien der Offizier, der so schmal neben dem Mädchen herschritt, ernster geworden zu sein. Er erzählte von seinem Leben im Bataillon, vom Dienst, er setzte auseinander, wann er etwa Hauptmann werden könnte, und das alles stand dem heiteren Manne wenig zu Gesicht. Das Henrietterl lachte dann auch immer weiter. Jetzt kam er vom Regiment zu seiner Familie, erwähnte mit einer gewissen Absichtlichkeit einen Onkel, der es zum Feldmarschall-Leutnant gebracht; die Gestalt eines Hofrates tauchte auf, irgendwie mit ihm verwandt, der durch die Eiserne Krone den Adel erhalten. Das Henrietterl lachte:
»Aber schaun's, was erzählen's mir denn von lauter alten Leut'?«
»Gräfin, wer sagt Ihnen denn, daß ich von alten Leuten sprechen will?«
»Sie reden ja nix anderes! Lachen wollen wir!«
»Mir ist net zum Lachen.«
Er trat so nahe an sie heran, daß sie seinen Atem fühlte und bei der Nähe des Mannes ihr Lächeln nicht mehr ganz natürlich blieb.
»Sie sind lieb und heiter. Ich hab' auch schon immer gedacht, wie ich noch ein Bub gewesen bin in Kremsmünster, eh' wir nach Wien gezogen sind, und dann als Kadett und als Leutnant und als Oberleutnant. Immer hab' ich meine Freud' g'habt, wenn einer lustig ist. Das gefallt mir so an Ihnen.«
Er hob beide Hände, als wolle er sie berühren. Da kam die Angst des Weibes über sie. Sie trat einen Schritt zurück. Er folgte, und nun wurde das kecke Henrietterl mit einemmal ernst und fürchtete sich eigentlich. Er griff nach ihren Armen. Sie mußte sie ihm lassen, denn sie konnte nicht mehr ausweichen.
»Gräfin, sagen Sie mir ganz ehrlich, Sie und ich – ist das ein Unsinn?«
»Wa–a–s?«
Noch mehr brannten seine Augen: »Ist's ein Unsinn? Aber spielen's net mit mir, ja oder nein, ein Unsinn, ein Unsinn?«
Zitternd kam es heraus:
»Schon.«
Da ließ er sie los, zuckte die Achseln, warf die Arme und sagte bitter ein paarmal hintereinander:
»Ich Esel, ich Esel!«
Sie blickte ihn erschrocken an mit Augen, die durch die hängende Lidfalle etwas Mongolisches hatten: »Was haben's denn?«
Er schrie sie plötzlich an: »Ein Esel bin ich! Hätt' mir's doch können denken. Der Oberleutnant König aus Kremsmünster bleibt immer der Oberleutnant König aus Kremsmünster.«
Erschrocken gab sie zurück: »Und Sie sind doch ein so lieber Mensch!«
Er höhnte: »Ja, ja, Sie haben gut reden, net wahr. Die Gräfin Aich von und zu Nayspur und der Oberleutnant König aus Kremsmünster, haha!«
Das Henrietterl machte ein erstauntes Gesicht: »Aber davon ist gar nit die Red'.«
Doch der Offizier ärgerte sich über sich selbst: »Gnädigste Gräfin, ich hab' mich geh'n lassen; rechnen Sie mir's net an, bitte! Es war halt eine Dummheit!«
Das Henrietterl begriff nicht: »Ja, was haben's denn getan?«
Plötzlich fand sie ihr Lachen wieder, sie kicherte und blickte ihn aus halb verschlagenen, halb kindlichen Augen an:
»Ihr seid's a G'sellschaft. Was soll man euch noch glauben? Der eine fallt beinah' vom Baum herunter, der andere stellt sich, als wollt' er einen auffressen vor Wut, – i bin nit so dumm. Aber wie der da oben im Baum g'sessen ist – das Weinen hat er doch noch besser gekonnt als Sie. Hahaha, i laß mi nit fangen! Das ist ein lustiger Tag heut! Kommen's, jetzt gehen wir aber zurück, es wird sonst zu spät.« – –
Graf Bernburg saß zwischen Margret und Ossana unter einem Nußbaum. Unausgesetzt ging seine plätschernde Rede. Die Mädchen lächelten einander zu über ihn hinweg; er aber war so überzeugt von der Unwiderstehlichkeit der Leistung seines Schneiders, daß er nichts davon merkte.
In einem Durchblick zwischen einer Zypressengruppe und Lorbeerbüschen sah man eine Gestalt den Weg heraufkommen. Wenn sie den Kopf hob, herumzuspähen, gewahrte man den spitz geschnittenen Bart, und weiße Zähne leuchteten. Margret stand unmerklich auf, ging ein Stück abseits und blickte zurück nach ihrer Schwester und dem Grafen. Aber die schwatzten und schienen nichts zu merken. Da huschte sie die paar Schritte hinab, der Gestalt entgegen. Er zog den Hut, lässig, flüchtig. Ihre Hände ruhten eine Weile ineinander. Dicht vor ihm blieb sie stehen und redete in ihn hinein. Man sah, wie er die Achseln zuckte, dann die Hand hob, mit lebhaften Gebärden sich abwandte und davonging. Sie eilte ihm nach. Und beide waren hinter den wuchernden Schlingpflanzen und dem dichten Gebüsch des verwilderten Gartens verschwunden.
Ossana hatte ihr weißes Kleid hinten vorsichtig emporgeschlagen, daß beim Sitzen nur der Unterrock die Erde berührte. Sie strich den Rock gerade, zog ihn bis zu den Fußspitzen hinab und blickte aus dem Bergschatten, der schon über den Garten gesunken war, nach der anderen Seite des Tales, noch immer in blendendstem Sonnenschein:
»Wie schön man die Rochusburg sieht!«
»Was Sie nur immer mit der Rochusburg haben, Ossana?!«
»Baronin heiß' ich!«
»Gewiß, aber doch Ossana.«
Sie sprang auf: »Sie haben mich nit so zu nennen!«
Er legte beteuernd die Hände zusammen und blieb in bewegungsloser Haltung, damit er die Falten der Hose nicht verdürbe: »Alte Freunde wie wir –«
»Wir sind gar keine alten Freunde, überhaupt, seit wann sind's denn hier?«
»Na, jedenfalls länger als der da droben!« Und er deutete mit dem Kopf zu den leuchtenden Mauern der Rochusburg.
Ossana trat auf ihn zu: »Graf Bernburg, das verbitt' ich mir, verstehen's!«
»Aber, Ossana!«
»Wenn Sie mich noch einmal Ossana nennen, werd' ich's dem – dem – Pa – meinem Vetter Meinhardt Aich werd' ich's sagen.«
»Hat etwa der Meinhardt Aich ein Recht auf seine verehrte Kusine, oder die Ossana Durazzi auf den Meinhardt Aich?«
Sie verlor ihre Sicherheit: »Wer sagt das?«
Einen Augenblick darauf gewann sie die Geistesgegenwart zurück: »Mich geht der Meinhardt nix an, gar nix. Aber Sie – das will ich Ihnen nur gleich sagen – Sie mag i nit!« Sie wandte sich leidenschaftlich herum und stieß ihn mit der Fußspitze so hart ans Schienbein, daß er schmerzlich den Mund verzog. – – –
Immer tiefer sanken die Schatten über das Tal, langsam kletterten sie jenseits in die Höhe, die Häuser von Mais ins Dunkel bettend. Die älteren Damen waren in den Garten gekommen; man sammelte sich am Haus, fragte nach der Tram. Ein paar Wagen standen im Hofe des Ansitzes, die von Marling herüber die verwahrloste, steile Straße sich heraufgequält. Einen nach dem anderen sah man verschwinden, und als die Sonne nur noch die Spitzen der Berge vergoldete, führte die Tram die letzten Gäste davon.
Tante Angiolina war mit dem Schal, den sie auch bei der größten Hitze um die Schultern legte, doch nach welscher Art in bloßem Kopf, den Sonnenschirm aufgespannt, das kleine Buch in der Hand, zur Kapelle nach Lana gegangen.
Tiefe Stille herrschte in Göllan. Der Diener im blau und weiß gestreiften Arbeitsrock putzte am Hoffenster Silber und lächelte einem Mädchen zu, das drüben vor der Torggel stand und mit derben, sonnenbraunen Armen auf der Bank die Wäsche zum Bügeln zusammenlegte, die es, der Gäste wegen, schnell hatte abnehmen müssen.
Die Eidechsen waren von der Mauer verschwunden. Still und träumend lag der Garten. Nur am kleinen Weiher bewegten sich die hohen, grünen Wedel des Bambus um ein eng verschlungenes Paar, und leise klangen zwei gedämpfte Stimmen gegeneinander. Sie schwollen, wurden erregt, nahmen wieder ab, dann blieb es still. In der sinkenden Dämmerung sah man ein helles Kleid dicht an eine dunkle Gestalt geschmiegt, ein paar weiße Hände versuchten um einen Männernacken zu greifen. Zwei andere schüttelten die zärtlichen ab. Dann rauschte der schilfartige Bambus, knisterte, Zweige schienen zu brechen, an der zerfallenen Mauer polterten Steine herab, zwei auseinandergebogene Zypressen, zwischen denen sich eine Gestalt durchgezwängt, schwippten wieder zusammen, pendelten eine Meile und blieben stehen. Der Garten schwieg. Stille lag um den alten Ansitz Göllan.
Aber bald klangen helle, lustige Stimmen auf der anderen Seite, dazwischen die ernste des Grafen Meinhardt, der mit seiner Schwester und Ossana durch den Weingarten heraufkam. Der alte Baron schickte einen Juchzer in die tiefer und tiefer sinkende Dämmerung hinaus: »Schau, Meinhardt, das ist nett, daß du kommst, wenn alle die alten Tratschen zum Teifel sind. Du bleibst doch zum Nachtmahl?«
»Sehr gern.«
»Ah, das ist schön. Aber wo ist denn die Margret?«
Ossana brummte eigenwillig: »Wie soll ich's denn wissen?«
Dann saßen sie im Zimmer und warteten darauf, daß Tante Angiolina zurückkäme. Die Fenster standen offen: daß die Abendluft hereinzöge, den Dunst von Tabak und Menschen fortzufegen. Da fiel dem alten Baron Margret wieder ein: »Ihr Mädel, schaut's einmal nach, wo sie steckt! Vielleicht ist sie auf ihrem Zimmer.«
Während die beiden sich entfernten, rief er in den Garten hinaus: »Margret, Margret!« Vom kleinen Weiher klang es herüber: »Ja, Papa!«
Graf Meinhardt war schon aufgesprungen und zur Tür hinaus. Als die beiden Mädchen wiederkamen, hatte der alte Herr seinen Schreibtisch aufgeschlossen, um die Bridgekarten herauszuholen. Dabei sagte er mit freundlichstem Ausdruck: »Der Meinhardt ist ein lieber Kerl. Henrietterl, du hast dir den Bruder g'scheit ausgesucht.« – – –
Graf Meinhardt schritt den Garten hinauf. Mit gedämpfter Stimme rief er ab und zu: »Margret?«
Da kam sie ihm entgegen, den Kopf gesenkt.
»Wo bist du denn gewesen?«
Sie stotterte, sie habe etwas verloren. Er fragte, ob sie es gefunden. Immer tiefer sank ihre Stirn. Er nahm sie bei beiden Händen, und der große Mann kniete fast nieder, ihr in die Augen zu blicken: »Ja, aber mein Gott, Margret, Margret! Was hast du denn? Du weinst?«
Mit erstickter Stimme kam zurück: »Nein, i wein' nit!«
In dem Augenblick fiel ihm eine Träne auf die Hand.
»Margret, was fehlt dir denn? Magst's nit sagen?«
Ihre Gedanken schienen so weit fort zu sein, daß sie es nicht merkte, wie er den Arm um sie legte.
Da sah er, daß ihre Uhrkette herabhing: »Die Kette ist ja zerrissen! Das Kleid ganz zerdrückt! Was hast du denn gemacht?«
Aber sie gab keine Antwort; nur die Tränen rannen.
»Weißt was, Margret, die Uhrkette haben wir gesucht, nit wahr? Du bist hängengeblieben. Du arm's Hascherl! Du mein Gott, hat dir jemand etwas getan?«
Sie schüttelte lange den Kopf. Da lächelte er vor sich hin: »Ah, ich versteh' dich schon, ich versteh' dich schon.«
Und eine süße Seligkeit zog ihm ins Herz: »Ich hab' dich ja so gern, nein, mehr, ich hab' dich lieb, Margret!«
Er nahm ihre kleinen weißen Hände und drückte die Lippen darauf. Sie ließ sie ihm willenlos.
Er bat leise: »Komm, wisch deine Tränen ab.«
Dann zog er sein Taschentuch, und wie ein Vater einem Kinde tupfte er ihr die Wangen: »Jetzt darfst aber nit mehr weinen! Ich hab' dich ja lieb.«
Ein heftiges Erschrecken kam über sie, ein Entsetzen, gleich einem Erwachen. Fröstelnd, zitternd, wie im Fieber bat sie: »Sag' das nicht, bitte, sag' das nicht.«
Er lächelte: »Du lieb's, klein's närrisches Ding! Gut, nur jetzt nicht mehr weinen. Keiner da drin darf was merken! Das behalten wir für uns. Ist dir's recht?«
»Ja.«
»Aber erst gehst auf dein Zimmer. So darf dich keiner sehen!« Er hätte die Arme öffnen mögen und sie an seine Brust ziehen. Doch da fiel sie ihm um den Hals, schluchzte, und nur abgerissen kamen die Worte: »Du bist so gut, so lieb, und ich so schlecht! Du weißt gar nit wie. Das kann ja auch keiner wissen. Am wenigsten du. Ich bin... bin... du armer, armer Meinhardt, verstehst mich nicht! Sonst würdest du am End'... nit so gut sein... Ach Gott, ach Gott!«
Es kam wieder wie ein Krampf aus ihrer Brust. Er aber preßte sie an sich, und in Glück und Rührung lächelte er ohne ein Wort. Kurz vor dem Haus fragte er zurück: »Geht's jetzt?«
Sie huschte davon. Tante Angiolina war zurückgekehrt. Sie warteten aufs Nachtmahl. Der alte Baron blickte auf, als Meinhardt eintrat. Der lachte fröhlich: »'s ist weiter nichts Schlimmes, Margret ist hängengeblieben und hat ihre Uhrkette zerrissen.«
Tante Angiolinas schwarze Augen klappten unheilverkündend.
Graf Meinhardt sagte sofort: »Ich nehm' die Kette mit, ich werd' sie machen lassen, da kannst du ganz ruhig sein!«
»Aber nein, Meinhardt, das mag sie doch selbst zahlen«, meinte der Baron, bekam aber einen verweisenden Blick seiner Frau, deren Mienen sich schon aufgeklärt:
»Na, wenn der Meinhardt seiner Kusine eine Freud' machen will!«
Als Margret eintrat, blickte gleichsam auf Verabredung keiner sie an. Nur Graf Meinhardts Auge blieb zärtlich auf ihr ruhen. Beim Abschied sagte er leise: »Gib mir die Kette!«
Sie sah ihn erstaunt an.
»Ja, ich will sie doch machen lassen, ich hab's mit Tante Angiolina verabredet.«
Und sie sprach: »Was du willst, tu' ich gern, du bist gut.«
Beim Abschied im Flur rückte der Baron ein paar Bilder gerade, die schief hingen, aber sie kehrten in ihre alte Lage zurück, und wie er gewohnt war, alles in Göllan in süßem Nichtstun gehen zu lassen, so wurden sie dann auch in ihrer Ruhe nicht weiter gestört.
Als Meinhardt den Weg durch den Weingarten hinabschritt, blickte er sich um: in der Tür gewahrte er vier winkende Gestalten, sich abhebend gegen die Helle des Flurs. Man hörte des Henrietterls Stimme: »Komm gut nach Haus'!«
Margret war nicht zu sehen.