Georges Ohnet
Der Hüttenbesitzer – Erster Band
Georges Ohnet

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Sechstes Kapitel

Am Tage nach der Ankunft des Barons und der Baronin von Préfont in Beaulieu erschien Philipp Derblay, von seiner Schwester begleitet, im Schlosse. Er kam gerade zur rechten Zeit, um der Baronin wieder etwas Interesse am Landleben einzuflößen, das sie schon heute entsetzlich langweilig gefunden hatte.

Unter einem großen Zelte von grau- und rotgestreifter Leinwand sitzend, überließen sich die Schloßbewohner dem Zauber eines schönen Herbsttages, diesem letzten Lächeln der Saison, die sich schon zum traurigen Erstarren bereitet. In den Gebüschen des Parkes zwitscherten die Vögel, getäuscht durch die warmen Sonnenstrahlen, so hell und lustig wie im Sommer. Auf dem glänzenden Kies der Terrasse stritten zwei Amseln um die Brotkrümchen, welche ihnen der Marquis zugeworfen hatte. Die Marquise, in ihre Shawls gehüllt, hörte mit zerstreutem Ohr der Baronin und Claire zu, die, an die Balustrade von rotem Sandstein gelehnt, miteinander plauderten. Der Baron stieß langsam dichte Rauchwolken zum blauen Himmel empor, während Octave heimlich die von dem klaren Hintergrunde des Horizontes elegant und graziös sich abhebende Silhouette der beiden jungen Frauen in sein Notizbuch skizzierte. Eine tiefe Ruhe umgab diesen reizenden Winkel und eine köstliche, unbezwingliche Mattigkeit bemächtigte sich allmählich des Körpers und schläferte den Geist ein.

Die Schritte eines Dieners, welche sich knirschend auf dem Kies der Allee näherten, weckten die Gesellschaft aus ihrer physischen und geistigen Schlaftrunkenheit. Die Marquise öffnete die Augen, Claire und die Baronin wendeten sich um, der Marquis steckte schleunigst sein Notizbuch in die Tasche, nur der Baron, ein Feind jeder unnützen Bewegung, begnügte sich, bloß mit dem Kopfe zu nicken.

»Herr und Fräulein Derblay fragen, ob die Frau Marquise heute empfängt,« meldete der Diener.

Bei diesen Worten umdüsterte sich Claires stolze Stirne. Der Besuch dieses Mannes, gegen den sie sich instinktiv eingenommen fühlte, mißfiel ihr im höchsten Grade. Wie eine Vorahnung überkam es sie, daß dieser Fremde einen mächtigen Einfluß auf ihr Leben üben sollte, und sie fühlte sich im voraus darüber empört.

Eine plötzliche Bitterkeit beschlich ihr Herz, denn der Gedanke an eine mögliche Untreue Gastons hatte im Grunde ihrer Seele bereits heimlich Wurzel gefaßt. Sie fragte sich, wie Herr Derblay nach den Andeutungen seiner Leidenschaft, so schüchtern dieselben auch waren, es wagen konnte, sich im Schloß vorzustellen. Herr Bachelin hatte zwar diesen Besuch angekündigt und es sollte sich dabei nur um einen geschäftlichen Ausgleich handeln . . . aber konnte diese Geschäftsfrage nicht bloß zum Vorwande dienen? Alle diese Betrachtungen durchkreuzten in einer Sekunde ihren Kopf und wurden der Ausgangspunkt ihrer Abneigung gegen Philipp.

»Empfangen Sie ihn doch, beste Tante, bitte, empfangen Sie ihn,« hatte die kleine Baronin ausgerufen. »Ich bin so neugierig, ihn zu sehen, diesen Hüttenbesitzer. Er soll uns ein bißchen amüsieren und seine Schwester muß uns von allen Vorgängen im Dorfe erzählen. Oh, das wird reizend werden! Trägt sie auch das hier übliche Bauernkostüm?«

»Aber, liebes Kind, ich wünsche ja gleichfalls, ihn zu empfangen,« erwiderte lächelnd die Marquise, und sich zu dem wartenden Diener wendend, erteilte sie ihm den Auftrag, Herrn und Fräulein Derblay hereinzuführen.

Nach einigen Augenblicken erschien Philipp, von Susannen begleitet, auf der Terrasse. Ein Sonnenstrahl vergoldete sein braunes männliches Gesicht. Seine Haltung zeigte Energie, Ernst und Ruhe und, von einem langen schwarzen Ueberrock engumschlossen, schien seine ohnedies hohe Gestalt noch größer als sie wirklich war. Susanne in einer einfachen dunkelblauen Toilette, von innerer Aufregung belebt, hielt ihre Augen mit unruhigem, aber zugleich entschlossenem Blicke auf ihren Bruder gerichtet, wie um ihm Mut einzuflößen.

Die Marquise hatte sich erhoben, um ihren Gästen entgegenzugehen.

Philipp verbeugte sich tief vor ihr und stammelte einige unzusammenhängende Worte, deren Verwirrung ein Lächeln auf die Lippen der Weltdame lockte. Um der Verlegenheit des jungen Mannes zu Hülfe zu kommen, ergriff sie die Hand Susannens und sagte mit gewinnender Freundlichkeit: »Sagen Sie Ihrem Bruder, mein liebes Kind, daß er uns sehr willkommen ist.«

Philipp richtete sich empor und mit dem Ausdrucke tiefgefühlter Dankbarkeit erwiderte er:

»Ich weiß nicht, wie sehr ich Ihnen danken soll, Frau Marquise, für den wohlwollenden Empfang, den Sie meiner Schwester zu teil werden lassen. Sie ist noch ein Kind, ohne mütterliche Sorge erzogen und bedarf der Unterweisung und des Rats, die sie nirgends besser als in Ihrer Nähe finden könnte, wenn Sie ihr die Gunst erweisen wollten, sich ein wenig für sie zu interessieren.«

Frau von Beaulieu betrachtete Susanne mit erhöhter Teilnahme und gerührt von ihrer zarten, naiven Anmut, berührte sie mit ihren Lippen das blonde Haar des jungen Mädchens.

»Die Stirne dieses Kindes trägt den Stempel des Friedens und der Seelenreinheit,« sagte sie zu Philipp. »Alle Ihre Sünden seien Ihnen deshalb vergeben, mein lieber Nachbar, und nun will ich Sie mit meiner Familie bekanntmachen.«

Mit der Hand nach Octave weisend, der eben hinzutrat, fügte sie hinzu:

»Der Marquis von Beaulieu, mein Sohn.«

»Die Vorstellung ist überflüssig, Mama,« sagte Octave, indem er mit ungezwungener Miene Herrn Derblay die Hand reichte. »Herr Derblay und ich kennen uns bereits. Diable, lieber Nachbar, Sie haben flinke Beine und Ihre Hasen, die ich stets so wunderbar verfehle, laufen nicht so rasch, als Sie, wenn Sie nicht hören wollen.«

»Entschuldigen Sie, Herr Marquis,« entgegnete lächelnd Philipp, »wenn ich mich Ihnen gestern nicht vorstellte . . . Aber Sie schienen von so wenig sympathischen Gefühlen für mich erfüllt, daß ich aus Furcht, schlecht aufgenommen zu werden, mein Inkognito nicht lüften wollte.«

»O, mein Gott, ich kannte Sie ja bloß von unserem Grenzstreite her. Nun ist derselbe geordnet und ich hoffe, daß wir gute Freunde werden, und nun machen Sie mir das Vergnügen, mich Fräulein Derblay vorzustellen.«

Susannens Reiz begann zu wirken. Mit größter Aufmerksamkeit näherte sich Octave dem jungen Mädchen, während Frau von Beaulieu, Philipp der Baronin und ihrer Tochter vorstellend, sagte: »Herr Derblay, der Hüttenbesitzer von Pont-Avesnes . . .« Dann auf die beiden jungen Frauen deutend: »Die Baronin Préfont, meine Nichte, und Fräulein von Beaulieu, meine Tochter.«

Eine dunkle, heiße Glut überflog das Gesicht Philipps, und ohne zu wagen, diejenige anzublicken, die er im stillen anbetete, verbeugte er sich so tief vor ihr, als wollte er niederknieen.

»Aber sieh doch, meine Liebe, das ist ja ein Herr!« flüsterte die Baronin ihrer Cousine ins Ohr. »Ich dachte mir den Hüttenbesitzer mit nackten Armen, einer großen Lederschürze und mit Eisenspänen in den Haaren. Gott verzeih mir, er ist ja sogar dekoriert . . . Und der Baron ist es nicht! Es ist wahr, daß unter dem jetzigen Regime . . . Aber, das ist merkwürdig! Er führt also nicht selbst den Hammer? Sieh ihn doch an, Claire . . . Es ist unglaublich . . . Aber er sieht sehr gut aus . . . Und was für wundervolle Augen er hat! . . .«

Claire, von blindem Zorne gegen Philipp erfaßt, fixierte ihn mit stolzen, strengen Blicken. Am liebsten hätte sie die verletzendsten und beleidigendsten Worte an den Verwegenen richten mögen. Sie fand ihn gemein mit seiner stämmigen, breitschulterigen Gestalt und alles an ihm mißfiel ihr, bis zu seiner dunklen, feierlichen Kleidung, die ihm ein ernstes, würdevolles Aussehen verlieh.

In demselben Moment zog gleich einer Vision das bezaubernde Bild des Herzogs an ihren Augen vorüber. Sie sah die elegante, schlanke Tournüre Gastons, sein ovales Gesicht mit den blauen Augen, den braunen Haaren und dem langen, blonden Schnurrbart um den geistreichen Mund . . .

Der Gegensatz zwischen ihm und Philipp konnte kaum schärfer gedacht werden. Der eine verkörperte in seiner kräftig gebauten Gestalt die solide Festigkeit des Bürgertums, der andere war der vollendete Typus des feinen, etwas verweichlichten Wesens der Aristokratie.

Unter dem strengen Blicke des jungen Mädchens blieb Philipp sprachlos. Seine Füße schienen am Boden festgewachsen und tief bestürzt versuchte er, sich der feindseligen Prüfung dieser Augen zu entziehen. Er wollte sich dem Marquis nähern, der mit Susannen plauderte, um sich an jemanden anzuschließen, der ihm wohlwollend schien, doch er vermochte es nicht. Mechanisch warf er einen Blick auf seine Person und kam sich plötzlich schwerfällig, gemein und unelegant vor. Mit stummer Bitterkeit verglich er sich mit den beiden jungen Männern vor ihm, die in der freien, einfachen Gefälligkeit gut gemachter Kleider sich leicht und graziös bewegten, während sein schwarzer Rock von provinzialem Schnitt ihm plötzlich abscheulich erschien. Er dachte, wie komisch er sein müsse mit dem hohen Hute in der Hand, und litt grausam unter dieser Vorstellung.

Zehn Jahre seines Lebens hätte er in diesem Momente hingegeben, so gekleidet zu sein und eine so ungezwungene Haltung zu haben, wie Octave und der Baron. Er sagte sich, daß Claire niemals den Anblick vergessen würde, unter dem er sich ihr das erste Mal vorgestellt, und daß sie diesen ungünstigen Eindruck nicht würde verwinden können. Zugleich bemaß er genau die tiefe Kluft, die zwischen dem Fräulein von Beaulieu, obgleich sie nun verarmt war, und dem Hüttenbesitzer von Pont-Avesnes bestand. Und in voller Verzweiflung schalt er sich einen Narren, seine Augen so hoch zu erheben, zu einer Höhe, die sein Ehrgeiz nie zu erreichen hoffen durfte.

Die Stimme Octaves riß ihn aus seinem Brüten.

»Mein lieber Herr Derblau,« sagte der Marquis, »wir haben hier jemanden, der Ihnen in industriellen Fragen die Wage hält; es ist dies mein Cousin, der Herr Baron Préfont, ein Gelehrter . . .«

»Sagen Sie lieber ein Lernender, mein teurer Octave,« unterbrach ihn der Baron. »Das Gebiet der Wissenschaft ist zu weit, als daß ich einen andern Anspruch erheben dürfte, als einen ganz kleinen Teil desselben erforscht zu haben.«

Philipp, der mit den Augen Fräulein von Beaulieu folgte, die mit der Baronin auf- und abwandelte, seufzte tief auf, und, seine Blicke gewaltsam abwendend, antwortete er dem Baron: »Ich höre den Namen des Herrn von Préfont heute nicht zum erstenmal,« und als der Baron eine zwar höfliche, aber abweisende Gebärde machte, fuhr er fort: »ist der Herr Baron nicht der Verfasser einer höchst bedeutenden Arbeit über das Cementieren? Ich habe mich selbst viel mit dieser wichtigen metallurgischen Frage beschäftigt und las daher mit großem Interesse die Abhandlungen, welche Sie der Akademie der Wissenschaften überreichten.«

»O! O! mein lieber Baron!« rief lachend Octave, »darauf waren Sie wohl nicht gefaßt, selbst in unsern Bergen gekannt zu sein . . . Sie sind auf dem Wege, eine Berühmtheit zu werden, da Ihr Name bis in die entlegensten Hütten gedrungen ist, und Ihrer alten Devise: »Fortis gladio« muß man hinzufügen: »et penna«. Glauben Sie übrigens nicht, mein Lieber, daß ich mich über Sie lustig mache . . . ich würde im Gegenteil ihr Beispiel nachahmen, wenn ich es imstande wäre . . .«

Doch der Baron kümmerte sich jetzt sehr wenig darum, was Octave sagte. Entzückt, einen Zuhörer gefunden zu haben, der fähig war, ihn zu verstehen, begann er sofort mit einer schwierigen Auseinandersetzung über die Stahlfabrikation. Seine gewöhnliche englische Steifheit hatte einer höchst mitteilsamen Ungezwungenheit Platz gemacht. Lebhaft gestikulierend schlug er in die Hände, ahmte das Getriebe der Maschinen nach, um seine Beweisgründe zu erhärten und nahm schließlich Herrn Derblay beim Arm, um nur sicher zu sein, daß er ihm ja nicht entschlüpfe.

Doch Philipp, weit entfernt, sich der überströmenden Vertraulichkeit des Barons zu entziehen, war vielmehr glücklich, in diesem Hause, wo er sich so wenig am rechten Orte fühlte, an dem Baron einen Verbündeten gefunden zu haben: er zog ihn daher immer tiefer in seine gelehrte Abhandlung hinein. Der Baron folgte willig, sprach ungeheuer viel und nannte Philipp bereits seinen »lieben Freund«; was er sicherlich selbst nach mehrmonatlicher fortgesetzter Bekanntschaft einem andern gegenüber nicht gethan hätte. Doch ihre gemeinsame wissenschaftliche Beschäftigung hatte sie einander so rasch genähert, wie es bei Freimaurern der Fall, die beim Händedruck sich durch ein geheimnisvolles Zeichen als Brüder erkennen.

»Sie besitzen also Ihre eigenen Minen, woraus Sie das Erz gewinnen?« fragte der Baron, »wie das interessant sein muß. Ich werde gleich morgen früh nach Pont-Avesnes kommen, damit Sie mir Ihre Werkstätten zeigen. Sie beschäftigen wohl viele Leute?«

»Zweitausend Arbeiter.«

»O, das ist großartig! Und wie viele Hochöfen?«

»Zehn Hochöfen, deren Feuer Tag und Nacht nicht erlischt. Sie sollten meinen Dampfhammer sehen! Er wiegt vierzigtausend Kilo und läßt sich mit solcher Präcision handhaben, daß er beim Herabfallen die Schale eines Eies berühren kann, ohne dasselbe zu zerbrechen.«

»Aber mit so großartigen Hilfsmitteln können Sie ja sogar den Staatsbergwerken Konkurrenz machen!«

»Gewiß, nur leisten wir im kleinen, was jene in viel größeren Dimensionen vollbringen.«

»Mein lieber Herr, es ist wahrlich ein Glück für mich, daß ich Ihnen begegnet bin,« rief vergnügt der Baron . . . »Ich wollte in einigen Tagen mit der Baronin nach der Schweiz reisen, aber zum Teufel mit der Reise . . . Ich bleibe hier, wir wollen miteinander Versuche machen . . . Haben Sie ein Laboratorium? Ja! Sind Sie auch Chemiker? O, mein Gott! Sie sind einer der liebenswürdigsten Menschen, die ich je kennen gelernt.«

Und Arm in Arm mit Philipp begann er mit raschen Schritten die Terrasse auf- und abzugehen.

»Aber sieh doch, was hat denn mein Mann?« fragte die Baronin, die mit Claire herantrat.

»Was er hat, allerliebste Cousine,« erwiderte lustig Octave, »er reitet soeben mit Herrn Derblay auf seinem Steckenpferd davon.

»Nun, die könnten hübsch weit kommen, wenn man den Baron nicht aufhält.«

»Und warum sollte man ihn aufhalten?« entgegnete Octave. »Haben Sie an der Kollegialität dieser beiden Männer etwas auszusetzen? Ihr Gemahl, als Sprosse eines alten Rittergeschlechtes, verkörpert in seiner Person zehn Jahrhunderte kriegerischer Größe; Herr Derblay, der Sohn des Industriellen, vertritt bloß ein einziges Jahrhundert, aber ein Jahrhundert, das den Dampf, das Gas, die Elektricität zu benützen versteht. Und ich gestehe Ihnen, daß ich die Sympathie dieser beiden Männer bewundere, die in einer aus gegenseitiger Achtung entstandenen Intimität alles vereinen, was die Größe eines Landes bildet: den Ruhm der Vergangenheit und den Fortschritt der Gegenwart.«

»Octave, mein Freund,« meinte kopfschüttelnd die kleine Baronin, »man merkt, daß Sie Advokat sind, Sie sprechen sehr gut. Aber erlauben Sie, daß ich es Ihnen rund heraussage: ich finde, daß Sie für den Sohn Ihres Vaters etwas zu sehr Demokrat sind!«

»Ja, meine liebe Cousine,« entgegnete lachend der Marquis, »die Demokratie bemächtigt sich unser aller. Schaffen wir also in dieser Demokratie selbst eine Aristokratie. Um dies zu erreichen, nehmen wir die Mittelmäßigkeit als Niveau an und stellen jeden von Verdienst darüber. Auf diese Art werden wir die Aristokratie des Geistes gründen, die einzige, welche würdig ist, der Geburtsaristokratie zu folgen. Uebrigens, indem wir so vorgehen, ahmen wir ja nur das Beispiel unserer Ahnen nach. Sie bilden sich doch nicht etwa ein, daß die Ahnherren unserer Häuser adelig geboren waren? Ihre Tapferkeit war's, welche die Ursache ihrer Erhebung über andere Menschenkinder geworden. Der erste der Préfonts hieß ganz einfach Gaucher, was ihn ohne Zweifel nicht im geringsten hinderte, sehr tüchtig zu sein, denn er galt für einen sehr mutigen Soldaten. Durch seine Waffenthaten in den Adelstand erhoben und durch Kriegsbeute bereichert, nahm er, von Palästina heimkehrend, den Namen seines Gutes an. Und diesem Kapitän Gaucher haben Sie, Verehrteste, es zu danken, daß Sie heute Baronin sind. Warum sollten wir also heutzutage Männern, die vielleicht ebenso viel wert sind als Ihr Ahnherr es war, das Recht verweigern, sich über die Mittelmäßigkeit zu erheben? Zu jener Zeit hieß es: Ehre dem Tapfersten; heute sagen wir: Platz den Intelligentesten.«

»Vortrefflich gedacht und vortrefflich gesprochen, Herr Marquis, und ich bitte die Frau Baronin, mir zu verzeihen, wenn ich mich ebenfalls ihrer Meinung entgegensetze,« rief mit hellklingender Stimme Herr Bachelin, der, wie gewöhnlich, mit rotem Gesichte, den Hut in der Hand und seine Mappe unter dem Arme, am Ende der Terrasse erschien.

»Oh, Herr Bachelin, Sie kommen gerade recht,« rief lustig die Baronin; »ihr Advokaten, ihr gehöret ja alle zum ›dritten Stand‹. Natürlich, die Revolution hat euch nur genützt. Aber woher kommen Sie denn so plötzlich?«

»Ich komme von Varenne und bin durch eine Seitenthür in den Park getreten. Doch Verzeihung . . . dabei verbeugte er sich tief vor Fräulein von Beaulieu, die sich eben mit Susanne näherte. »Frau Marquise . . . meine Ehrerbietung . . . Fräulein Susanne, meine Hochachtung. Es ist heute außerordentlich heiß und ich habe mich tüchtig beeilen müssen . . . ich wollte mit Herrn Derblay zu gleicher Zeit hier eintreffen, doch eine sehr wichtige Angelegenheit hielt mich zurück. Die Unterzeichnung eines Kontraktes nämlich, der mir lebhaftes Bedauern verursacht. Es handelt sich um den Verkauf des Rittergutes Varenne.«

»Ah, die d'Estrelles haben also endlich einen Käufer gefunden?« fragte der Marquis.

»Ja,« seufzte der Notar, »und zwar einen Käufer, der einen sehr guten Preis bezahlte. Er gab fast um ein Drittel mehr, als man sonst unter den günstigsten Umständen erreicht hätte. Es ist ein reicher Fabrikant aus Paris, der, wie er sagte, die Ehre hat, die Familie der Frau Marquise zu kennen, und die Nachbarschaft von Beaulieu dürfte zweifelsohne ein Grund mehr sein, daß es ihm gerade so sehr um den Kauf dieser Besitzung zu thun war.«

»Kann man den Namen dieses Herrn erfahren?« fragte gleichgültig die Marquise.

»Er heißt Moulinet,« erwiderte ruhig der Notar.

Herr Bachelin ahnte keineswegs, welche Wirkung der Name des Käufers von Varenne hervorbringen würde. Fräulein von Beaulieu erhob sich jählings, während die Baronin, die Hände ineinander schlagend ausrief:

»Das ist der Vater von Athénaïs!«

»Herr Moulinet war in der That von einem jungen Mädchen begleitet, welches er Athénaïs nannte,« fügte der Notar hinzu. »Die Besitzung wurde auch in ihrem Namen gekauft, um an ihrem Hochzeitstage als ihr Eigentum zu figurieren, was nicht weniger als 30 000 Livres Revenuen besagen will.«

»Ah! Das ist doch zu stark! Nun sind sie sogar eure Nachbarn!« lachte die Baronin, »und Herr Moulinet wird den Schloßherrn spielen. Der arme Mann! Er wird viel eher das Aussehen seines Gärtners haben.«

»Man sagt, daß er sehr reich sei?« fragte Bachelin.

»Ungeheuer reich,« antwortete die Baronin, »lächerlich reich. So, Octave, nun sehen Sie, mein Teurer, wohin Ihre Theorieen führen! Da haben wir sie, die Aristokratie der Intelligenz! Herr Moulinet ist einer ihrer schönsten Vertreter! Die d'Estrelles, welche Frankreich zehn Feldherren, zwei Admirale, einen Marschall und mehrere Staatsminister gegeben, die ihre Ahnenporträts in Versailles haben, deren Namen auf den glänzendsten Seiten unserer Geschichte verzeichnet sind, diese Familie muß ihr Schloß verlassen, um einem Schokolade-Fabrikanten Platz zu machen, der seinem Vaterlande noch nicht den geringsten Dienst erwiesen, dessen Name bloß auf den Prospekten prangt, die er an den Straßenecken verteilen läßt. Das ist Ihre Demokratie, mein Teuerster! O, sprechen Sie mir nicht von einem Lande, wo derartige Gräuel geschehen können . . . Das ist ein verlornes Land!«

»Beruhigen Sie sich, Baronin,« sagte Octave lächelnd, ich finde es ebenso beklagenswert wie Sie, daß die d'Estrelles genötigt sind, ihr Stammschloß zu verkaufen; aber was läßt sich dagegen thun? Soll man etwa Herrn Moulinet sein Geld abnehmen, um unsere Freunde damit zu bereichern? Das wäre denn doch zu despotisch. Und da man schließlich den Preis sehr in die Höhe getrieben hat, so sehe ich nicht ein, was man ihm ärgeres hätte anhaben können.«

»Lassen Sie mich in Ruhe, Sie sind heute unausstehlich,« schrie die Baronin. »Uebrigens meine ich, daß Sie das alles nur sagen, um mich zu necken, und daß Sie selbst kein Wort davon glauben.«

Hierauf ergriff sie den Arm der Marquise und ging mit ihr dem Baron entgegen, der mit Philipp auf sie zukam.

Claire blieb verstimmt und gedankenvoll allein zurück. Das plötzliche Eindringen des Herrn Derblay und Athénaïs Moulinet in ihr streng zurückgezogenes Leben beunruhigte sie lebhaft. In der vornehmen Welt aufgewachsen, um welche der strenge Stolz ihrer aristokratischen Bewohner einen unübersteiglichen Wall gezogen, sah sie mit bitterem Befremden diesen unerwarteten Einbruch in ihren Familienkreis. Von dem Momente, da Herr Derblay so leichten Zutritt ins Schloß fand und gleich beim ersten Besuche als Gleichgestellter behandelt wurde, erschien ihr der alte Familiensitz gewöhnlich geworden wie die Straße, und sie beschloß, durch abweisende Kälte gegen die Handlungsweise ihrer Umgebung zu protestieren.

Auch litt sie entsetzlich unter der bedrückenden Ahnung irgend eines bevorstehenden Unglückes. Das lange Stillschweigen des Herzogs beunruhigte sie weit mehr, als sie gestehen mochte; dazu trat noch die etwas gezwungene Haltung der Ihrigen, deren vermehrte Zärtlichkeit und ein paar zufällige im Fluge erhaschte rätselhafte Worte, die ihr Mißtrauen bestärkten. Dieser stolzen, offenen Natur war jeder Zweifel unerträglich, in ihrem Charakter lag es, jedem Hindernis frei die Stirn zu bieten; doch bei dieser Gelegenheit wagte sie es nicht, ihre Liebe machte sie zaghaft. Sie fürchtete, den Verrat des Herzogs zu erfahren, und tief beschämt über das unwürdige Benehmen des Mannes, den sie mit ganzer Seele liebte, wollte sie nicht fragen und verharrte lieber in schmerzlichem Stillschweigen.

Alles dies trug dazu bei, daß Philipp sie hochfahrend und unzugänglich fand, daß sie seine schüchternen Ehrfurchtsbeweise mit schlecht verhehlter Verachtung entgegennahm und ihm nur gerade so viel Aufmerksamkeit schenkte, als erforderlich war, um ihm zu zeigen, wie sehr ihr seine Anwesenheit mißfiel.

Susanne, die vergeblich gesucht hatte, mit einigen freundlichen Worten dem krampfhaft zusammengepreßten Munde des Fräuleins von Beaulieu eine Antwort oder nur ein Lächeln abzugewinnen, flüchtete sich, erschreckt und vollständig außer Fassung gebracht, zu dem Notar, der sie in seinen väterlichen Schutz nahm.

Die liebenswürdigen Aufmerksamkeiten Octaves, der durch die anspruchslose Grazie des jungen Mädchens sichtlich für sie eingenommen wurde, waren nicht imstande, Susannens Traurigkeit und Entmutigung zu verscheuchen. Die Hoffnungen, welche sich das gute Kind gemacht, waren in einem Momente in nichts zerflossen. Sie sah das Glück ihres Bruders ernstlich bedroht und ihr frühreifer, gesunder Verstand ließ sie die große Entfernung erkennen, welche Philipp von dieser stolzen Aristokratin trennte. Sie begriff, daß nur ein außergewöhnliches Ereignis diese beiden, so grundverschiedenen Wesen einander nähern könnte. Trotzdem verzweifelte sie nicht; denn mit ihrem treuen Kinderglauben überließ sie es einer gütigen Vorsehung, die Schwierigkeiten zu ebnen.

Die Marquise, welche von den Lobsprüchen des Notars im voraus gewonnen und von dem Enthusiasmus des Barons, der dem Hüttenbesitzer nicht von der Seite wich, entzückt war und die sich zugleich aufrichtig freute, einen Mann, wie Herrn Derblay, kennen zu lernen, ließ sich in ihrer Freundlichkeit soweit gehen, denselben zum Diner zu laden. Erschreckt durch einen kalten Blick ihrer Tochter, fragte sie sich, ob sie mit den Beweisen ihrer Sympathie nicht etwas zu voreilig gewesen; sie konnte sich indes keinen Vorwurf machen und sah in Claires Mißbilligung bloß einen Anfall übler Laune. Philipp lehnte jedoch die Einladung mit vollendetem Takte ab, indem er dringende Geschäfte vorschützte.

In Wirklichkeit war es ihm nur darum zu thun, sich so rasch als möglich zu entfernen, denn die zwei Stunden, die er auf der Terrasse zugebracht hatte, indem er dem Baron zuhörte, ohne ihn zu verstehen, die Schläfen wie in einen Schraubenstock gepreßt, das Gehirn von den aufregendsten Gedanken gefoltert, waren eine grausame Prüfung für ihn gewesen. Diese Begegnung, die er mit Ungeduld herbeigesehnt, von der er sich unaussprechliche Freuden versprochen hatte, wurde eine der größten Bitternisse seines Lebens, und niedergeschlagen, entmutigt, bereit, seinen ehrgeizigen Plänen auf immer zu entsagen, nahm er Abschied von den Schloßbewohnern.

Claire schien seiner Entfernung nicht mehr Beachtung zu schenken, als seiner Ankunft; sie blieb kalt und abweisend und erwiderte Philipps ehrerbietigen Gruß bloß mit einer leichten Kopfbewegung, nicht mehr und nicht weniger, als sie jedem Geschäftslieferanten gewährt hätte.

Philipps Rückzug hätte einer Flucht nur zu sehr geglichen, wenn die Verbündeten, die er in so kurzer Zeit gewonnen, ihm nicht ihren förderlichen Beistand geliehen hätten. Der Baron bewies bei dieser Gelegenheit, bis zu welchem Grade eine Leidenschaft den Charakter eines Menschen zu verändern vermag. Dieser sonst so zurückhaltende Aristokrat begleitete Herrn Derblay bis zum Parkthor und schüttelte ihm so nachdrücklich und freundschaftlich die Hand, wie einem langjährigen guten Freunde. Der Marquis folgte ebenfalls mit Susannen und bewies durch die Artigkeit, welche er an den Bruder verschwendete, das lebhafte Interesse, das er für die Schwester empfand. Herr Bachelin schloß den Zug. Am Thore wartete das mit einem Grauschimmel bespannte Kabriolet des Notars; Philipp und Susanne stiegen ein, und während der Baron die Zuvorkommenheit soweit trieb, das Pferd beim Zügel zu halten, wechselte Octave ein letztes Lächeln mit dem jungen Mädchen. Als sich der Wagen entfernte, riefen beide in rührender Uebereinstimmung: »Auf Wiedersehen!«

Philipp sprach mit zitternder Stimme »niemals«, was glücklicherweise im Geräusche des dahinrollenden Gefährtes verlorenging.

Der Notar wendete sich rasch zu Herrn Derblay.

»Niemals?« wiederholte er. »Niemals! Wie mein lieber Freund, haben Sie etwa den Verstand verloren? Und warum sollte man Sie nie mehr in Beaulieu sehen?«

Philipp eröffnete dem Freunde sein Herz und ließ dem bitteren Strome seiner Enttäuschung freien Lauf. Wozu auf einem Vorhaben bestehen, meinte er, welches allen Anzeichen nach beschämend ausfallen müsse; wozu auch soviel Kummer und unverdiente Demütigung ertragen? Wäre es nicht besser, sogleich zu entsagen und das Uebel mit einem Schlage in der Wurzel zu treffen, ehe es unheilbar geworden wäre.

»Gemach, gemach, mein Teuerster,« unterbrach ihn ironisch der Notar, »was haben Sie denn heute eigentlich erwartet? Die Heftigkeit Ihrer Enttäuschung läßt mich voraussetzen, daß Sie eben zu große Ansprüche erhoben. Glaubten Sie etwa, daß Fräulein von Beaulieu Ihnen sofort Avancen machen würde, wie eine Grisette dem ersten besten Studenten? In der Welt, in die Sie, mein Freund, eintreten wollen, offenbaren sich die Gefühle in der Regel durch Nuancen von außerordentlicher Feinheit. Da gibt es weder deutlich merkbare Sympathieen, noch rund heraus erklärte Antipathieen und alles vollzieht sich unter dem Zepter der Etikette. Nach meiner Ansicht haben Sie unglaubliche Resultate erzielt. Die Männer sind Ihre Freunde geworden, die Marquise ist Ihnen so wohlwollend gesinnt, daß sie Sie gleich am ersten Tage, wie einen langjährigen Freund, zum Diner ladet, und dennoch beklagen Sie sich? Wie kann man so ungerecht sein? Ich gebe zu, daß Fräulein Claire Ihnen etwas kalt entgegenkam. Hat viel zu bedeuten! Hätte sie Ihnen etwa um den Hals fallen sollen? Ach, ihr jungen Leute, ihr wollt an einem Tage die Welt erstürmen! Gestern träumten Sie von nichts Süßerem, als von dem Glücke, sie nur sehen und einige Minuten in ihrer Nähe weilen zu dürfen; heute haben Sie zwei Stunden in ihrer Nähe zugebracht und sind nun verzweifelt und klagen Himmel und Erde an! Sie wollen nicht wieder nach Beaulieu zurückkehren? Das wäre unsinnig! Erstens dürfen Sie nicht für immer vom Schlosse wegbleiben, ohne für einen schlechterzogenen Menschen gehalten zu werden und dann hätten sie wirklich die Selbstbeherrschung, dem herrlichen Mädchen nicht weiter zu huldigen? O, mein lieber Philipp, wie glücklich sind Sie mit Ihrer Jugend und Ihrer Liebe! Weinen Sie, leiden Sie, die Liebe bleibt trotzdem das Köstlichste in der Welt! Es geht nichts darüber, glauben Sie dies einem alten Manne, der als Notar vierzig Jahre lang viel vom Menschenleben erfahren und der heute nur das eine bereut . . .«

Herr Bachelin, dessen blitzende Augen eine lebhafte Erregung verrieten, wollte ohne Zweifel von einem vergangenen Liebestraume seiner eigenen Jugend erzählen, doch ein Blick auf die aufmerksam lauschende Susanne ließ ihn seine Mitteilungen jählings unterbrechen, und seinem Klepper, der, den Kopf zwischen den Beinen, dahintrabte, einen heftigen Peitschenhieb versetzend, fuhr er fort:

»Folgen Sie mir, einem alten Freunde, machen Sie häufigere Besuche im Schlosse. Fräulein Claire wird nächstens schwere Prüfungen zu bestehen haben und ihr Benehmen Ihnen gegenüber kann durch die bevorstehenden Ereignisse sonderbar verändert werden. Ah, Sie schweigen? Sie sagen nicht mehr ›niemals‹. Ich hoffe, daß Sie morgen ›auf immer!‹ sagen werden. Aber da wären wir schon in Pont-Avesnes. Ich steige nicht mit Ihnen ab, da ich noch wichtige Geschäfte zu erledigen habe. Also, guten Appetit und versuchen Sie, alles in rosigem Lichte zu sehen.« Nachdem Herr Bachelin noch einen letzten Händedruck mit Philipp gewechselt und Susannen galant die Fingerspitzen geküßt hatte, fuhr er rasch die Hauptstraße des Marktfleckens hinab und verschwand bald hinter der Ecke des großen Platzes.

Philipp öffnete seufzend die kleine Hofthüre und betrat mit gesenktem Haupte, in Begleitung seiner Schwester, die sein trauriges Schweigen ehrte, das Haus, welches er zwei Stunden früher so hoffnungsfreudig verlassen hatte.



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