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So wie Herr Bachelin es behauptet hatte, war es in der That Herr Derblay,, der, wie ein Wildschütze gekleidet, in den Wäldern von Pont-Avesnes dem Marquis von Beaulieu begegnet war. Vergebens rief dieser ihn mit lauter Stimme zurück, der Hüttenbesitzer wollte ihn nicht hören, und unempfindlich gegen die Peitschenhiebe und Dornenstiche der Baumäste, stürzte er quer durch das Gehölz fort, während er mit nervösem Lachen einzelne Worte, von Freudenrufen unterbrochen, vor sich hinmurmelte. Er war in tiefster Seele erfreut über den Zufall, der ihn derjenigen genähert hatte, die er in seinen Träumen anbetete wie eine junge, aus der Ferne bewunderte Königin.
Im Laufschritt das Terrain durchmessend, stieg er den Weg, der ins Thal führte, hinab, ohne sich seines raschen Gehens, das ihm dicke Schweißtropfen auf die Stirne trieb, bewußt zu werden. Immer heftiger stürmte er weiter, wie seine Gedanken, die rasch und leichtbeschwingt dahinflogen. »Wenn der Marquis wissen wird, mit wem er es zu thun gehabt – denn schließlich muß er es doch erfahren – wird er nicht dankbar das ritterliche Benehmen anerkennen, das sein, wie er sagte, unbequemer Nachbar ihm gegenüber an den Tag gelegt? Und wer weiß? Vielleicht würde dieser Schritt zu gegenseitigen freundschaftlichen Beziehungen führen? Dann könnte er in der Nähe jener anbetungswürdigen Claire weilen, deren süßes Gesicht ihm fortwährend in seiner Erinnerung zulächelte, dürfte mit ihr sprechen . . .« Doch bei diesem Gedanken schwebte eine Wolke vor seinen Augen, es schien ihm, als würden in ihrer Gegenwart ihm die Worte in der Kehle ersticken, als müßte er vor ihr verstummen, vernichtet vor tiefster Bewegung; dann würde er in eine dunkle Ecke des Salons flüchten und sie von dort nach Herzenslust betrachten, in ihren Anblick versinken und glücklich sein.
»Glücklich! Wie? Wohin könnte sie ihn führen, diese unsinnige Liebe? Um etwa im engeren Zirkel der Trauung derjenigen beizuwohnen, nach der sein tiefstes Sehnen ging? Denn daß der Herzog wiederkehren würde, daran zweifelte er keinen Augenblick. Wie wäre es auch denkbar, daß ein Mann, den eine solche Frau liebt, diese verschmähen könnte? Und würde es auch nicht der Herzog sein, so käme ein anderer Bewerber, irgend ein vornehmer Kavalier, der nur zu erscheinen, sich nur zu nennen brauchte, um mit offenen Armen empfangen zu werden, während man ihn, den Bürgerlichen, mit verächtlicher Kälte abweisen würde.«
Wie gelähmt von diesem Gedanken fühlte er seine Thatkraft erschlaffen und eine namenlose, tiefe Traurigkeit ergriff seine Seele. Welch ein Unglück, nicht einmal streben zu dürfen nach dem Besitz dieses idealen Geschöpfes! Er lief nicht mehr wie ein gehetztes Wild zwischen den Stämmen des Hochwaldes umher; mit langsamen, müden Schritten verfolgte er den Weg nach Pont-Avesnes, indem er mechanisch Blätter von den Zweigen abriß und sie zwischen den Fingern zusammenpreßte. In ernstes Sinnen verloren, lehnte er sich endlich an den Stamm einer Eiche, und ohne an das Niedersitzen zu denken, das Antlitz bleich und ernst, die Augen feucht von grausamer Herzenspein, blieb er hier stehen.
Er rief sich all das ins Gedächtnis zurück, was er bereits im Leben geleistet, und fragte sich, ob die erfüllte Aufgabe ihn nicht jedes Glückes würdig mache. Nach glänzend beendigten Studien verließ er als erster die polytechnische Schule, worauf er sich dem Bergbau widmete. Gerade als er zum Ingenieur ernannt werden sollte, brach der Krieg aus. Er war damals zweiundzwanzig Jahre alt. Ohne Zögern trat er als Freiwilliger in ein Regiment der Rheinarmee. Er wohnte dem blutigen Treffen von Fröschweiler bei und kehrte dann mit den Trümmern des ersten Armeekorps ins Lager von Châlons zurück. Am Abend nach der unglücklichen Schlacht von Sedan sah er sich als Kriegsgefangener von preußischen Ulanen bewacht. Doch sich so leichthin zu ergeben, war nicht seine Sache. Nachts auf allen Vieren fortkriechend, benützte er die Dunkelheit, um sich durch die deutschen Linien zu schleichen. Kaum in Belgien angelangt, fuhr er sofort nach Lille, um sich einem der dort in Eile gebildeten Regimenter einverleiben zu lassen.
Der Krieg wurde fortgesetzt. Er sah die feindliche Invasion wie ein tödliches Geschwür sich langsam und sicher über sein Land ausbreiten. An der Seite des Generals Faidherbe machte er hierauf den Feldzug im Norden mit. Bei St. Quentin schwer verwundet, verblieb er im Lazarett, wo er sechs Wochen lang zwischen Leben und Tod schwebte, und als er endlich aus seiner langen Betäubung erwachte, erfuhr er zu seinem Entsetzen, daß Paris in den Händen der Kommune sei. Seine Rekonvalescenz ersparte ihm die traurige Notwendigkeit, gegen Franzosen kämpfen zu müssen.
Wohl schmerzte seine Wunde noch, als er sich dem elterlichen Hause zuwendete, aber er trug auf der Brust das Kreuz der Ehrenlegion, das sein General ihm persönlich auf das Krankenbett gelegt.
Bei seiner Heimkehr erwartete ihn ein Schmerz, der noch brennender war als alle Bitternisse, die er in so kurzer Zeit erlebt hatte. Er fand das Haus in Trauer. Seine Mutter war kurz zuvor gestorben und die kleine siebenjährige Susanne war ohne mütterliche Pflege verwaist zurückgeblieben.
Der Vater, von wichtigen, unaufschiebbaren Geschäften abberufen, mußte seine Tochter der Obhut treuer Diener überlassen. Die Ankunft Philipps verursachte einen neuen Ausbruch von Schmerz und Thränen. Die kleine Susanne empfing ihn mit der krampfhaften Zärtlichkeit eines Kindes, das alle Schrecken des Verlassenseins empfunden. Sie schloß sich ihm an wie ein armes, schwaches Wesen, das um Schutz und Hilfe fleht. Philipp, mit seinem schlichten, weichen Gemüte, vergötterte dies Kind, das sich so sehr nach Liebe sehnte und sie ebensowenig bei dem Vater fand, der ganz den Geschäften lebte, als bei den Dienern, die ihrer Herrschaft zwar treu ergeben, doch unfähig waren, jene zarten Liebesbeweise zu bieten, die dem Leben der Kinder und der Frauen fast noch unentbehrlicher sind, als die materielle Pflege.
Die Pflichten seines Berufes erheischten indes bald wieder seine Entfernung. Der Abschied, der beiden ungemein schmerzlich fiel, erneuerte in dem Kinde die Verzweiflung, welche es beim Tode der Mutter erfaßt hatte.
Doch das Schicksal hatte beschlossen, daß diese Trennung nicht lange währen sollte. Sechs Monate später erlag Herr Derblay den Ueberanstrengungen seiner Geschäfte und Philipp und Susanne standen allein in der Welt.
Neue Anforderungen traten nun an den jungen Mann heran. Die Liquidation der väterlichen Geschäfte war überaus schwierig und reich an peinlichen Überraschungen. Sein Vater, ein Mann von hervorragender Intelligenz, besaß den großen Fehler, mehr zu unternehmen, als er mit seinen Mitteln durchführen konnte. Er wendete seine Thatkraft den verschiedensten Unternehmungen zu, ohne imstande zu sein, alle mit gleichem Erfolge zu leiten. Der Gewinn der einen Unternehmung wurde von dem Verluste der andern absorbiert. Unaufhörlich hatte er mit einer stets wachsenden Flut von Schwierigkeiten zu kämpfen, die er zwar mit Geschick und Energie momentan bezwang, denen er aber früher oder später unterliegen mußte. Sein Tod kam einer unvermeidlich gewordenen Katastrophe zuvor und seine Verlassenschaft befand sich in der heillosesten Verwirrung.
Philipp, der als Ingenieur eine vielversprechende Zukunft vor sich hatte, konnte die Unternehmungen seines Vaters, so gut es eben ging, liquidieren und seine Laufbahn weiter verfolgen. Doch dies wäre der Ruin gewesen, denn das ganze väterliche Erbe genügte kaum, den Namen zu retten, und seine Schwester wäre ohne Vermögen dagestanden. Ohne einen Augenblick zu zögern, entsagte der junge Mann seiner Carriere, und die schwere Last, unter der sein Vater zusammengebrochen war, auf seine Schulter nehmend, wurde er Industrieller.
Ein schweres Stück Arbeit harrte seiner! Was befand sich da nicht alles in der Erbschaft! Glashütten, Gießereien, Schieferbrüche und Eisenhämmer!
Philipp stürzte sich mutig in diesen Abgrund und versuchte die zerstreuten Trümmer zu sammeln. Er arbeitete unermüdlich, und während sechs Jahren opferte er seine Tage und den größten Teil seiner Nächte dem kühn unternommenen Rettungswerke. Was er an Bargeld vorgefunden hatte, verwendete er zum weiteren Betrieb der verschiedenen Unternehmungen, und nachdem er sie zu einer gewissen Blüte gebracht, verkaufte er die meisten und behielt nur diejenigen, welche für die Zukunft einen bedeutenden Wert versprachen.
Nach sieben Jahren war die väterliche Erbschaft liquidiert und er selbst Besitzer der Gießerei von Rivernais und des Hüttenwerkes von Pont-Avesnes. Heute war er vollständig Herr seiner Unternehmungen und fühlte sich imstande, ihnen eine großartige Ausdehnung zu geben. In seiner Provinz vergöttert, brauchte er sich bloß den Wählern vorzustellen, um Deputierter zu werden. Und konnte man es wissen? Diese Ernennung war wohl geeignet, der Eitelkeit einer Frau zu schmeicheln. Zudem ist ja die Industrie eine gebietende Macht unseres golddürstigen Jahrhunderts. Und nach und nach lebte die Hoffnung in seinem Herzen wieder auf. Er setzte den Weg fort, der ihn bald auf eine weite Lichtung hinausführte.
Rechts dehnte sich das Thal mit seinen Feldern und Wiesen, zu seiner Linken bauten sich stufenweise die ersten Felsenschichten empor, die dem Hügel als Fundament dienten. In diesen Steinschichten befanden sich die Eingänge zum Schacht. Eine kleine Grubenbahn stieg in sanftem Gefälle zu den Mineneingängen empor und führte das gewonnene Erz direkt dem Hüttenwerke zu. – Philipp, durch diesen Anblick jählings aus seinen Betrachtungen gerissen, beschloß, in den Minen ein wenig nach dem Rechten zu sehen und schlug den Weg nach dem Schachte ein. Je näher er kam, desto mehr schien es ihm, als höre er Geschrei und Hilferufe. Eine ungewöhnliche Aufregung herrschte vor dem Mineneingange. Der Hüttenbesitzer beschleunigte seine Schritte und in einigen Minuten war er auf dem Platze, um die Ursache des Tumultes kennen zu lernen.
Eine Erdabrutschung hatte infolge der Feuchtigkeit auf der Bahnstraße stattgefunden. Die Waggons waren umgestürzt und am Fuße der Böschung hatte eine Unmasse von herabgerolltem Sand und Holzpflöcken den Führer des Zuges, einen Burschen von fünfzehn Jahren, verschüttet. Einige Taglöhner und viele Arbeiterinnen bildeten eine bewegte Gruppe, in deren Mitte ein laut jammerndes Weib verzweiflungsvoll die Hände rang.
Philipp schob die Umstehenden zur Seite und trat rasch in den Kreis.
»Was ist geschehen?« fragte er in seiner Unruhe. Beim Anblicke des Herrn Derblay verdoppelte die weinende Frau ihr Schreien und Schluchzen.
»Ach, Herr Derblay, klagte sie, es ist mein armer Junge, mein kleiner Jacques, der mit seinem Waggon herabgerissen wurde und seit Dreiviertelstunden hier unten liegt.«
»Und was that man, um ihn zu befreien?« fragte lebhaft Philipp, indem er sich zu den Bergleuten wendete.
»Man hat so viel Schutt, als möglich war, hinweggeräumt,« erwiderte einer derselben, auf eine tiefe Höhlung hindeutend, »doch an das Gebälk wagt man sich nicht, denn eine einzige ungeschickte Bewegung würde alles hinabstürzen und der Junge müßte unfehlbar zermalmt werden.«
»Noch vor zehn Minuten sprach er mit uns,« rief die verzweifelte Mutter, »und jetzt hört man ihn nicht mehr! Oh, er ist gewiß schon erstickt! Oh, mein armer, teurer Jacques! Man wird dich also hier hilflos umkommen lassen!« Die Unglückliche sank unter herzzerreißendem Schluchzen erschöpft auf den Rasen der Böschung nieder.
Herr Derblay warf einem der Bergleute seine Flinte zu, legte sich platt auf die Erde und lehnte den Kopf dicht an die gekreuzten Holzpflöcke, um mit gespanntem Ohr nach einem Lebenszeichen zu lauschen.
Doch lautlose Stille herrschte in dem Sandgrabe, in dem das verschüttete Kind lag.
»Jacques!« rief Herr Derblay, und seine Stimme verhallte dumpf und traurig in der Erd- und Holzschichte. »Jacques, hörst du mich?«
Ein Stöhnen antwortete ihm und nach einer kleinen Pause vernahm er die mit schwacher, atemloser Stimme hervorgestoßenen Worte:
»Ach, Herr Derblay, Sie sind es! Oh, mein Gott! Wenn Sie es sind, dann bin ich gerettet!«
Dieses naive Vertrauen rührte Philipp fast zu Thränen und er beschloß, selber das Unmögliche zu wagen, um die Hoffnung des Knaben zu verwirklichen.
»Vermagst du dich noch zu rühren?« fragte er weiter.
»Nein,« keuchte halb erstickt der Kleine, »auch glaube ich, daß mein Fuß gebrochen ist.«
Diese Antwort, inmitten der Todesstille, entriß den Anwesenden ein schmerzliches Gemurmel.
»Fürchte dich nicht, mein Junge, wir werden dich sofort herausziehen,« erwiderte Philipp, indem er sich emporrichtete.
»Vorwärts! Nehmet Stangen und hebt mir diesen Balken!« rief er und zeigte auf einen zwischen den Trümmern eingepferchten Holzpflock, der einen natürlichen Hebel zu bilden schien.
»Nicht möglich, Herr,« entgegnete ein Werkmeister, traurig den Kopf schüttelnd. »Alles würde zusammenstürzen! Es gibt nur ein Rettungsmittel: Drei oder vier starke Männer müßten sich nacheinander in die von uns gemachte Grube hinablassen und versuchen, den Jungen, der sich nicht mehr rühren kann, zu entlasten. Während dieser Zeit könnten wir mit Stangen die ganze Geschichte halten, aber hübsch gefährlich ist es schon und sehr wahrscheinlich, daß man unten bleibt!«
»Gleichviel, man muß hinabsteigen,« sagte entschlossen Herr Derblay, indem er seine Taglöhner musterte. Doch da sie alle unbewegt und schweigend dastanden, stieg eine Röte des Unwillens in sein Gesicht.
»Wenn einer von euch hier unten läge, was würde er von seinen Kameraden denken, wenn sie ihn hilflos zu Grunde gehen ließen. Wohlan, da es niemand von euch wagt, so werde ich hinabsteigen.«
Und seine hohe Gestalt beugend, ließ sich Philipp in den Schutt hinabgleiten.
Ein Schrei der Bewunderung und der Dankbarkeit erhob sich aus der Menge, und als hätte dieses Beispiel genügt, den guten Leuten ihren verlorenen Mut wiederzugeben, folgten drei Männer dem Hüttenbesitzer, während die Anwesenden, alle ihre Kräfte vereinigend, die Holzpflöcke stützten und sie mit unglaublicher Anstrengung emporhielten.
Wieder war es still geworden. Man vernahm nur das Schluchzen der geängstigten Mutter und die tiefen Atemzüge der unter dem schweren Gewichte fast erstickenden Retter. Einige Minuten, lang wie Jahrhunderte, verstrichen, während unten fünf Menschen in Lebensgefahr schwebten. Dann erschallten Freudenrufe. Mit Sand und Erde bedeckt, Hände und Schultern verwundet, stiegen aus der Oeffnung vier Männer herauf und als letzter Herr Derblay, den ohnmächtigen Jungen in seinen Armen tragend.
Einen Moment später stürzten die von den Arbeitern losgelassenen Pfähle mit entsetzlichem Gekrache in den nun leeren Graben hinab.
Die tiefbewegte Menge umgab schweigend und achtungsvoll den Retter und den Geretteten, indes die vor Freude halb wahnsinnige Mutter nicht wußte, ob sie zuerst ihren Sohn umarmen oder Herrn Derblay danken sollte.
»Und nun, traget den Jungen nach Hause,« rief fröhlich Philipp, »und holet den Arzt!« Sodann brachte der Hüttenbesitzer seine Toilette wieder in Ordnung, nahm die Flinte und ging nach Pont-Avesnes heim.
Dem Gerüchte von dem schrecklichen Unfalle war bald die Nachricht von der glücklichen Rettung gefolgt und als Philipp beim Schlosse anlangte, sah er seine Schwester in Begleitung des Herrn Bachelin ihm entgegenkommen. Beim Anblicke ihres Bruders beschleunigte Susanne ihre Schritte. Sie trug ein lichtes Kleid und auf ihren Schultern wiegte sich ein rosafarbener Sonnenschirm, der an dem schönen, sonnigen Herbsttage ihren reizenden Kopf sehr vorteilhaft beschattete. Fräulein Derblay zählte siebzehn Jahre und ihr frisches, heiteres Gesicht hatte einen wunderlieblichen Ausdruck von Vertrauen und Offenheit. Ihre braunen Augen lachten noch mehr als ihre Lippen. Sie war nicht von regelmäßiger Schönheit aber ihr anmutiges, naives Wesen verlieh ihr einen unwiderstehlichen Reiz. In ihrer Ungeduld fing sie zu laufen an und atemlos wollte sie ihm um den Hals fallen, als Philipp sie sanft zurückhielt: »Rühre mich nicht an,« rief er, »meine Kleider sind voll Schmutz, du verdirbst deine Toilette.«
»Was liegt daran!« rief Susanne mit fröhlichem Lachen. »Oh, ich muß dich umarmen! Du hast das Kind gerettet! Mein guter Philipp, überall wo es etwas schönes und edles zu thun gibt, bist du dabei.«
Das Mädchen ergriff mit beiden Händen den Kopf ihres Bruders und küßte ihn zärtlich. Herr Bachelin, der durch Susannens Voraneilen zurückgeblieben war, trat keuchend heran.
»Guten Tag, mein teurer Freund,« grüßte der Notar, »schon wieder eine edle That auf Ihre Rechnung.«
»Sprechen wir nicht weiter davon, ich bitte Sie,« unterbrach ihn lachend Philipp, »es lohnt wahrhaftig nicht der Mühe. Das Ernsteste bei der Sache ist, daß ich den Knaben verwundet glaube. Du wirst gut thun, Susanne, mit Brigitten und deiner Apotheke zu seiner Mutter zu gehen. Etwaige Kosten übernimmst du selbstverständlich.«
»Gern, lieber Bruder,« antwortete das Mädchen und entfernte sich rasch.
»Auch wir, mein lieber Herr Bachelin,« fügte Herr Derblay hinzu, »wollen ins Haus treten. Ich sehe ja wie ein Einbrecher aus und muß mich sofort umkleiden.«
Philipp und der Notar durchschritten den geräumigen, mit alten Linden bepflanzten Hof, in dessen Mitte aus einem großen, viereckigen, von Blumenbeeten umkränzten Wasserbecken ein Springbrunnen seine Wasserstrahlen in die Luft emporschnellte, die, in feine Perlen zerstäubt, wieder zurückfielen, vom Winde verjagt oder von der Sonne regenbogenfarbig beschienen. Dieses Bassin bildete das letzte Ueberbleibsel der breiten Wassergräben, die ehemals einem Gürtel gleich das Schloß umgaben. Unter Louis XIII. wurden diese Schloßgräben trockengelegt und in dem zurückgebliebenen fruchtbaren Schlamm gediehen Obstbäume, deren herrliche Früchte noch heute zu den Merkwürdigkeiten von Pont-Avesnes gehören.
Das Schloß von Pont-Avesnes steht auf einer Rampe von braunem Sandstein, welche es erhöht und ihm eine gewisse Eleganz verleiht. Aber es sieht düster und traurig drein und seine großen Schieferdächer zeichnen sich melancholisch am Himmel ab. Philipp bewohnte bloß einen Flügel des weitläufigen frostigen Gebäudes, und ohne die Sorgfalt Brigittens, der Milchschwester Susannens, die, dank einer glücklichen Frühreife, trotz ihrer Jugend die Pflichten einer Haushälterin mit viel Autorität erfüllt, bliebe der übrige Teil des Schlosses vollständig vereinsamt.
Doch die treue Brigitte, mit ihrem Eifer die ihr zu Befehl stehende Dienerschaft animierend, unternimmt sehr häufig ein gründliches Fegen und Bürsten in den mit herrlichen Möbeln aus der Zeit Louis XIV. ausgestatteten Empfangssälen.
Wenn sie dann die Fensterläden öffnet und das Licht in die hohen, weiten Gemächer strömt, so ist es, als ob ein Bühnenvorhang in die Höhe ginge, dem Auge eine wundervolle, luxuriöse Dekoration darbietend. An den Wänden entrollen die schönsten Gobelins die ganze Geschichte Alexanders und auf den Kissen der großen Fauteuils mit den pompösen vergoldeten Armlehnen erglänzt Genueser Samt. Die hohen venezianischen Spiegel reflektieren für einen Moment die Blumen des Parterres, die Kaskade und ein Stückchen Himmel. Nach einigen Stunden werden die Läden geschlossen und die Kunstschätze des Schlosses versinken wieder in Dunkelheit und Stille.
Im Erdgeschosse des bewohnten Flügels befindet sich das große Arbeitskabinett des Herrn Derblay mit seinen hohen, bis an den Plafond reichenden Büchergestellen. In der Mitte steht ein riesiger Schreibtisch, auf dem Bücher und Papiere in mehr scheinbarer als wirklicher Unordnung sich auftürmen. Ein sehr schönes Tintenfaß ist mit zwei pausbäckigen, miteinander kämpfenden Amoretten geschmückt, wovon der Sieger lachend eine Weintraube in den Mund des Besiegten preßt. Auf dem Kamme steht in meisterhafter Boule-Arbeit eine Uhr aus Ebenholz mit Kupfer eingelegt. An das Arbeitszimmer stößt der Speisesaal mit altertümlichen, in Birnholz geschnitzten Möbeln. Auf dem Buffett steht reiches massives Silbergerät, das nie zur Verwendung gelangt; dann folgt ein kleiner Salon in modernem bürgerlichen Geschmack mit blauseidenen Tapeten und gleichfarbigen Möbeln. Auf einem Tischchen mit eingelegter Arbeit scheint eine angefangene Stickerei der Rückkehr Susannens zu harren. Zwei mit mehr Sorgfalt als Talent ausgeführte Porträts zeigen die Bildnisse des Herrn und der Frau Derblay.
Im ersten Stocke verbinden zwei Toiletten-Kabinette die Schlafzimmer Philipps und seiner Schwester. Das eine, in braunem gepreßten Samt und schwarzem Holz, besitzt als einzigen Schmuck eine Trophäe von modernen Waffen (Feldzugserinnerungen), das andere duftig und jungfräulich wie seine Bewohnerin; weißer Mousselin über blaue Seide gespannt, weißlackierte Möbel und all die zierlichen Nippsachen, die dem Zimmer eines jungen Mädchens so viel Reiz verleihen. Vom Fenster blickt Susanne in die weiten Alleen des Parkes, die sich in der Ferne im Grün verlieren. Hier konnte sie nach Herzenslust träumen, wenn Träumereien die fröhliche Heiterkeit ihrer sorglosen Jugend für einen Augenblick umwölken konnten.
Philipp führte Herrn Bachelin nach seinem Arbeitskabinett. Er wußte, daß der Notar heute in Beaulieu gewesen und, ungeduldig wie alle Verliebten, wollte er so rasch als möglich alle wichtigen und unwichtigen Einzelheiten erfahren, die ihm sein alter Freund aus seinem Verkehr mit den vornehmen Schloßbewohnern stets mitteilte. Doch heute schien Herr Bachelin zum Erzählen nicht aufgelegt. Er verhielt sich ganz ruhig in seinem Fauteuil und richtete nur zuweilen sehr zerstreute Blicke auf den Hüttenbesitzer, der wie ein riesiges Fragezeichen sich ihm gegenüber aufgepflanzt hatte. Philipp konnte seiner Ungeduld nicht länger Herr bleiben und begann freimütig das Gespräch.
»Haben sie Frau von Beaulieu von meinem Versöhnungsvorschlage Mitteilung gemacht?« fragte er mit scheinbarer Ruhe.
»Gewiß!«
»Nun, fand sie denselben hinreichend und annehmbar?«
»Vollständig.«
Philipp schielte nach Herrn Bachelin, der hartnäckig dabei verharrte, mit verzweifeltem Lakonismus zu antworten. Dann entschloß er sich zu einem vertraulicheren Tone:
»Haben sie auch die Benützung meiner Jagd angeboten?«
»Wozu denn?« antwortete ruhig der Notar, indem er dem Hüttenbesitzer einen ironischen Blick zuwarf.
»Wozu? Wie können sie so fragen!« rief dieser erstaunt.
»Ei nun, ich brauchte dieses Anerbieten einfach darum nicht zu stellen,« entgegnete Bachelin, »weil Sie es heute morgen selbst dem Marquis gemacht haben, und zwar auf eine möglichst romantische Art.«
Philipp errötete und senkte verlegen den Kopf.
»Ah, Herr von Beaulieu hat mit Ihnen von unserer Begegnung gesprochen? Aber er wußte doch nicht, wen er vor sich hatte?«
»Ich habe es ihm verraten; hätte ich ihm etwa auch sagen sollen, daß, wenn Sie seine Jagdtasche so wohl bedachten, dies aus Liebe zu seiner Schwester geschah?«
»Lieber Freund! . . .«
»Ah, ah, wollen Sie vielleicht widerrufen?« fragte lustig Herr Bachelin. »Sollten Sie etwa Fräulein von Beaulieu nicht mehr lieben?«
»Wollte Gott, daß dem so wäre, denn es ist eine große Thorheit von mir,« erwiderte Philipp. »Wie kann ich, der Mann, der jahrelang von der Welt zurückgezogen, nur seinen Arbeiten lebt, wie darf ich an dieses junge Mädchen denken, das so schön, so stolz und vielleicht eben darum so reizend ist? Ich sah sie ernst und gedankenvoll, wahrscheinlich beunruhigt durch das unerklärliche Benehmen ihres Verlobten. Und gegen meinen Willen, fast ohne es zu merken, begann ich sie zu lieben. Ich übersah die tiefe Kluft, die mich von ihr trennt und vergaß den Unterschied unserer gesellschaftlichen Stellung. Weder auf die Stimme der Vernunft, noch auf den Rat der Erfahrung hörte ich, und lauschte nur dem Liebeszauber, der meine Seele unwiderstehlich gefangen nahm. O, mein Freund, ich schäme mich vor mir selbst, und doch vermag ich dieser unsinnigen Leidenschaft nicht zu widerstehen, die mich berauscht, die mir unsägliche Freuden gewährt . . . die mir alles, alles gibt, nur keine Hoffnung; denn hier endet meine Blindheit . . . ich hoffe nicht . . . mein Wort darauf!«
»Sie hoffen nicht? . . . möglich . . .« versetzte langsam der Notar. »Aber Sie lieben, das ist gewiß, nicht wahr? Ich hatte also recht, mit der Marquise so zu sprechen, wie ich es that.«
»Zu sprechen? Mit der Marquise?« stammelte in höchster Erregung Philipp. »Wie! Wovon haben Sie gesprochen?«
»Nun von dem, was Sie mir eben in einer ebenso leidenschaftlichen als überzeugenden Sprache auseinandersetzten.«
Herr Derblay fuhr entsetzt einen Schritt zurück; seine Augen schossen Blitze, er biß heftig auf seine Lippen und mit einer Stimme, die er vergebens zu dämpfen suchte, rief er:
»Habe ich Sie etwa ermächtigt, der Frau Marquise derartige Mitteilungen zu machen?«
»Nein, das wohl nicht; Sie haben mich keineswegs dazu ermächtigt,« antwortete ruhig der Notar; »aber, meiner Treu, ich fand die Gelegenheit zu günstig, um sie nicht zu benützen. Sehen Sie, es geht doch nichts in der Welt über klare Verhältnisse! Sie hätten wohl noch wochen-, ja monatelang gezaudert und sich immer mehr in Ihr Liebesabenteuer verstrickt. War es somit nicht besser, auf einmal alles zu sagen, selbst auf die Gefahr hin, mit Hochmut zurückgewiesen zu werden? Diese Gründe bewogen mich zum Sprechen. Finden Sie dieselben nicht gewichtig genug?«
Philipp antwortete nicht, er hörte kaum die Worte des Notars. In dem Sturme seiner Gefühle hatte er fast das Bewußtsein seiner Existenz verloren. Es schien ihm, als hätte ein mächtiger Ruck ihn in unermeßliche Regionen geführt, ohne Halt, ohne Stütze. Die Luft pfiff ihm vor den Ohren und wie ein Nebel schwamm es ihm vor den Augen, die keinen Gegenstand zu erkennen vermochten. Und in seinem schmerzenden Gehirn erhob sich gleich einer Offenbarung des Geschickes eine Stimme, die sich nicht zurückweisen ließ: »Claire! Wie, wenn sie doch einst dein sein könnte!«
Die Stimme des Notars weckte ihn aus seiner Betäubung.
»Heda, mein Freund!« rief Herr Bachelin, »warum blicken Sie mich denn mit so starren Augen an, Sie sehen ja wie ein Nachtwandler aus.«
Philipp fuhr mit der Hand über die Stirn, als wollte er einen peinlichen Eindruck verwischen, dann erwiderte er lächelnd:
»Entschuldigen Sie, der Gedanke, daß Sie ohne mein Wissen so tief in mein Geschick einzugreifen sich erlaubten, verwirrte, betäubte mich. Hätte ich Sie dessen für fähig gehalten, so würde ich Sie um Schweigen gebeten haben. Seit dem Tage, wo ich so schwach war, Ihnen meine Liebe zu Fräulein von Beaulieu zu gestehen, habe ich nicht aufgehört, meinen Leichtsinn zu bereuen. Aber es scheint, als sei, wenn man liebt, das Herz zu enge, um all' die Seligkeit, die es erfüllt, zu fassen; es geht über, die Geständnisse entströmen unwillkürlich den Lippen und man verrät mehr, als man sollte. Kaum verriet ich mein Geheimnis, als auch schon die Illusion verflog, und mir die Wahrheit in ihrer unerbittlichen Nacktheit erschien, Fräulein von Beaulieu wird mir nie die Ehre erweisen, von meiner Person Notiz zu nehmen. Sie ist reich, vornehm, die Verlobte eines Herzogs, und ich muß ein wirklicher Narr sein, um sie zu lieben. Ich verdiene dafür eine Züchtigung und bin bereit, sie zu ertragen. Sagen Sie mir alles, schonen Sie mich nicht.«
»Wohlan, zuerst will ich Ihnen sagen, daß Fräulein von Beaulieu nicht mehr reich ist, daß sie vielleicht nie Herzogin wird, und daß ein ehrlicher Mensch niemals bessere Aussichten hatte, erhört zu werden, als gerade Sie in diesem Momente.«
Bei diesen Worten wurde Philipp so bleich, daß er einer Ohnmacht nahe schien. Ein Freudenruf entrang sich seinem gepreßten Herzen, und zitternd vor Aufregung ließ er sich in einem Fauteuil nieder.
»Oh! nehmen Sie sich in acht, mein Freund, machen Sie mir keine Hoffnung, die Enttäuschung wäre zu qualvoll.«
»Und doch, ich kann Ihnen Hoffnung geben; aber indem ich dies thue, verrate ich Familiengeheimnisse. Sie sind indes so sehr dabei beteiligt, daß ich Ihrer Verschwiegenheit sicher bin.«
Und da Philipp die Hände des Notars ergriff und ihn mit vor Neugierde funkelnden Augen ansah, fuhr dieser fort:
»Fräulein von Beaulieu ist durch den Prozeß in England um ihr ganzes Vermögen gebracht, ahnt es jedoch ebensowenig, wie daß der Herzog seit sechs Wochen in Paris weilt und sie verrät. An dem Tage, wo sie diesen Verrat erfährt, wird sich ein schrecklicher Sturm in ihrem Herzen erheben und dann . . .«
»Ruiniert und treulos verlassen!« rief Philipp; »ein so vollkommenes Geschöpf! Dieses anbetungswürdige Mädchen! Sie sollte des Geldes bedürfen? Der größte Schatz, den man von ihr fordern kann, ist sie selbst!«
»Oh, gewiß, und eben dieser Ihr uneigennütziger Standpunkt war es, den ich zur Geltung brachte.«
»Ja, sagen Sie es,« rief Philipp feurig aus, »sagen Sie es der Marquise und, wenn es nötig ist, auch ihr selbst, ich bitte Sie darum!«
Doch wie von einem entmutigenden Gedanken betroffen fuhr er fort:
»Nein, dem Fräulein von Beaulieu sagen Sie nichts davon. Sie ist stolz und hochfahrend und der Gedanke, daß sie ihrem künftigen Gatten zu Dank verpflichtet sein sollte, würde mich mehr denn je von ihr entfernen und sie bestimmen, meinen Antrag zurückzuweisen. Verhüten Sie das, indem Sie der Marquise diese meine Gedanken und Bedenken mitteilen und vor allem verpflichten Sie mich ihr gegenüber. Sagen Sie ihr, daß ich die Hand ihrer Tochter knieend, als das höchste Gut empfangen will, aber daß ich zugleich wünsche, daß Claire sich noch im Vollbesitze ihres Vermögens glaube, damit sie meine Werbung frei annehmen oder frei zurückweisen könne. Und sollte ich bei dieser Heirat mein ganzes Hab und Gut ihr verschreiben müssen, so würde ich ihre Hand doch noch als ein Gnadengeschenk betrachten.«
»Halt, halt!« unterbrach ihn mit freundschaftlicher Gebärde Herr Bachelin. »Eilen Sie nicht gleich per Schnellzug davon. Oh, dieses Feuer der Jugend und der Leidenschaft! In dieser Angelegenheit ist es viel vernünftiger, im langsameren Tempo vorzugehen. Es handelt sich momentan ja bloß um Ihren ersten Besuch im Schlosse. Begnügen Sie sich einstweilen ›mit der Betrachtung des Gegenstandes Ihrer heißesten Wünsche‹, wie man im vorigen Jahrhundert sagte. Seien Sie ernst und ruhig und benehmen Sie sich mit der Bescheidenheit, die Ihre Lage erfordert. Und nehmen Sie ja Ihre Schwester mit, sie wird Ihnen als Blitzableiter dienen, denn während man sich mit ihr beschäftigt, werden Sie Zeit zur Sammlung finden.«
»Und wann soll dieser Besuch stattfinden?« fragte Philipp mit sichtbarer Unruhe.
»Haben Sie etwa gar schon Angst, noch ehe Sie sich vorstellten? Fahren Sie morgen hinüber; ich hoffe, daß eine ruhige Nacht Ihnen die nötige Festigkeit und Zuversicht wiedergeben wird, damit Sie imstande sind, Ihre Vorzüge ins rechte Licht zu setzen.«
Der Notar erhob sich, nahm seine Mappe und hatte schon einige Schritte gegen die Thür gethan, als er wieder stehen blieb.
»Sind Sie noch unwillig darüber, daß ich mit Frau von Beaulieu gesprochen, ohne von Ihnen dazu autorisiert worden zu sein?« sagte er mit spöttischer Miene. »Uebrigens fragten Sie in Ihrer Aufregung nicht einmal danach, was sie denn eigentlich geantwortet habe?«
»Wahrhaftig,« rief Philipp, indem seine freudige Stimmung jählings in peinliche Angst überging.
»Bei Gott! Was sagte sie denn?«
»Sie sagte, was man in ähnlichem Falle immer sagt, nämlich: daß ihre Tochter freie Wahl habe, daß sie dieselbe nie zwingen würde . . . die gewöhnlichen Alltäglichkeiten . . . Glauben Sie mir, der Schwerpunkt der Situation liegt in den Händen der Tochter und nicht in denen der Mutter; also guten Mut!« Und mit einem freundschaftlichen Händedruck entfernte sich der Notar.
Als Philipp allein war, vertiefte er sich in eine gründliche Ueberlegung. Er blickte der Sachlage ruhig ins Gesicht und mußte sich gestehen, daß sie nicht hoffnungslos sei. Fräulein von Beaulieu, von ihrem Verlobten auf eine unwürdige Weise verlassen, mußte wenigstens einige Monate auf Schloß Beaulieu bleiben, um die Welt ihr demütigendes Mißgeschick vergessen zu lassen. Es war ihm daher Gelegenheit geboten, sie zu sehen, sie mit zarten Aufmerksamkeiten zu umgeben und vielleicht dahin zu gelangen, ihr nicht zu mißfallen. Susanne konnte ihm dabei sicherlich nützlich sein, denn durch ihre Anmut und Güte würde sie gewiß Claires Zuneigung gewinnen, vielleicht ihre Freundin werden, und nach und nach könnte auch der Gedanke an den Bruder derselben in das Herz des Fräuleins von Beaulieu Eingang finden.
Allmählich begann dieser holde Traum den Schein der Wirklichkeit anzunehmen und Philipp sah die beiden jungen Damen, die eine von hoher, stolzer Gestalt, die andere klein und zierlich, Arm in Arm in den schattigen Alleen des Parkes von Pont-Avesnes lustwandeln. Er fühlte sich von dem süßen Dufte ihrer Nähe berauscht; er wollte sie umfassen . . . als plötzlich ein frischer Mund seine Stirne berührte und ihn der Wirklichkeit wiedergab.
»Woran denkst du, Philipp?« flüsterte die liebe, treue Stimme Susannens. Und da er ihr bloß mit einem matten Lächeln antwortete, fuhr sie fort:
»Du willst es mir nicht sagen? Muß ich zuerst sprechen? Wohlan, wetten wir, daß du an ein junges, schönes, blondes Mädchen denkst!«
Philipp sprang rasch empor und ergriff die Hand seiner Schwester.
»Susanne!« rief er unwillig.
Aber unter dem schelmisch lächelnden Blicke des jungen Mädchens vermochte er nicht, seine strenge Haltung zu bewahren. Wie gebannt blieb er stehen und fragte sich, auf welche Art dies Kind dazu gelangt sein konnte, seine Gedanken zu erraten.
»Du blickst ja ganz verstört drein,« fing Susanne wieder in zärtlichstem Schmeicheltone an. »Du glaubtest also dein Geheimnis sehr wohl verwahrt? Aber sieh' doch, seit einem Monate bist du gar nicht mehr derselbe, und es bedarf wahrlich keines großen Scharfsinnes, um zu bemerken, daß dein Herz nicht mehr mir allein gehört. Aber ich bin nicht eifersüchtig, dazu liebe ich dich viel zu sehr. Ich bin unruhig, bekümmert, aber nicht aus Furcht, daß du mir einen Teil deiner Liebe entziehst, um ihn einer andern zu weihen, sondern weil ich dich leiden sehe. Oh, ich verdanke dir doch so unendlich viel, mein Philipp! Du hast mich gepflegt, erzogen, geliebt, als ich allein zurückblieb, ohne Vater und ohne Mutter! Und es ist mir immer, als ob ich mehr als deine Schwester, als ob ich deine Tochter sei, das Kind deiner Pflege, deiner liebevollen Sorgfalt. Geh' doch! liebe und werde wieder geliebt! Du wirst sehen, daß ich mich darüber nur freuen werde; denn ich halte kein Glück auf Erden für groß genug, um ein so vollkommenes Wesen, wie du es bist, zu belohnen.«
Zwei Thränen entquollen den Augen des Hüttenbesitzers und flossen still über seine Wangen hinab. Die milden guten Worte seiner Schwester hatten die Spannung seiner überreizten Nerven behoben. Er stand regungslos da, an den hohen Kamin gelehnt, in den Anblick des kindlichen Mädchens versunken, das ihm liebevoll zulächelte.
»Jetzt weinst du wieder,« rief Susanne, »ist denn die Liebe etwas so trauriges?«
»Rede mir nicht wieder von diesen Thorheiten,« rief Philipp mit erregter Stimme.
»Thorheiten . . . warum nicht gar. Welche Frau, die dich kennt, würde nicht wünschen, dir zu gefallen?« Und mit kühner Miene und entschlossenen Gebärden stellte sie sich dicht vor ihn hin und fuhr fort: »Sei ruhig, wenn es nötig sein wird, so werde ich zu derjenigen, die du liebst, gehen und zu ihr sprechen: ›Mein Fräulein‹ werde ich sagen, ›Sie haben unrecht, meinen Bruder nicht zu vergöttern, denn es gibt in der Welt keinen Mann, dem er nicht vollständig überlegen wäre. Ich kann es Ihnen versichern, denn ich kenne ihn schon sehr lange und sehr genau.‹ Und mein Mund wird so beredt sein, daß sie zu dir kommen, einen artigen Knix machen und dir sagen wird: ›Mein Herr, das kleine Persönchen da, Ihre Schwester, ist so allerliebst, daß ich nicht umhin kann, die hohen Verdienste ihres Bruders anzuerkennen. Wollen Sie mir die Gunst erweisen, mein Gemahl zu werden?‹ Und du – du wirst dich daraufhin höflich verbeugen und mit nachdenklicher Miene antworten: ›Nun ja, mein Gott, Fräulein, um Ihnen einen Gefallen zu thun . . .‹ Ah, siehst du, du lachst! du bist getröstet!«
Susanne ergriff schmeichelnd den Arm ihres Bruders, dessen Aufregung der ausgelassenen Fröhlichkeit dieses Wildfangs nicht standhielt und zog ihn mit sich fort.
»Komm!« rief sie, »in Erwartung deiner nächstens stattfindenden Hochzeit wollen wir einstweilen einen Spaziergang im Garten machen.«