Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente 1869-1874, Band 1
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[September 1872]

[Dokument: Heft]

22 [1]

Erster Tag, 28. September.

Samstag.

Mit einem Baseler Ehepaar, das ich nicht kannte, aber zu kennen scheinen mußte.

Von Baden aus an Lisbeth telegraphirt: Gefälligkeit des Hr. Haller aus Bern, der mir seine Karte giebt.

In Zürich fast angelangt, entdecke ich als Wagengenossen den guten Götz, der mir von seiner durch Kirchners Weggang vermehrten musikalischen Thätigkeit in Zürich, sowie von seiner in Hannover aufzuführenden Oper berichtet.

Von Zürich an fahre ich dritter Klasse bis Rapperschwyl, in guter bescheidener Gesellschaft, aber frostig, so daß ich den Muth verliere, bis Chur durchzufahren. In R. nehme ich wieder zweite Klasse, bis Weesen. Hier finde ich den Wagen des Hotel Schwert und fahre mit ihm. Hübsch behagliches, doch recht leeres Hôtel, in dessen Speisesaal ich allein esse.

Am ganzen Nachmittag klare goldne Herbstverklärung: die fernsten Schneeberge sind sichtbar. Abends vor Zürich erschien die ganze Kette in herrlichstem Stahlgrau.

Etwas Kopfschmerzen augenblicklich.

Zweifelhafte Nacht, mit gewaltsamen Träumen.

Sonntag. Ich erwache mit Kopfschmerz. Mein Fenster führt auf den Wallensee: die Sonne geht auf seinen theils beschneiten Gipfeln auf. Ich frühstücke und gehe noch etwas an den See. Dann auf den Bahnhof, sehe mir aber noch die höher gelegene und neuer erscheinende Pension Speer an. Reiner Morgen. Ich fahre nach Chur, II Classe, aber mit fortwährend wachsendem Unbehagen, trotz der besonders reichen Aussicht – See, Ragaz usw. In Chur merke ich, daß ich unmöglich weiter fahren kann, refüsire die Anfrage des Postbeamten und ziehe mich schnell in das Hôtel Lukmanier zurück. Dort giebt man mir ein Zimmer mit guter Aussicht, aber schnell lege ich mich zu Bett. Drei Stunden habe ich geschlafen – fühle mich besser und esse. Ein besonders gefälliger und kluger Kellner macht mich auf Bad Passug aufmerksam: ich erinnere mich. In Stadt Chur ist Sonntagsruhe und Nachmittagsstimmung. Ich steige ganz bequem die Landstraße empor; herrlicher Rückblick, fortwährend sich erweiternde und wechselnde Umsicht. Nach einer Viertelstunde kleiner abführender Pfad, Tannenwald schöner Schatten – denn es war bis dahin ziemlich warm. Die Schlucht, durch die die Rabiusa braust, kann ich nicht genug preisen. Brücken führen bald an das rechte bald linke Ufer. Der Weg über Wasserfälle in die Höhe führend. An Ort und Stelle erwartete ich irrthümlich ein Pensionshaus, fand aber nur eine ländliche Wirthschaft, doch mit Sonntagsgästen, schmausenden und Kaffee trinkenden Familien. Zuerst trinke ich an den Sodaquellen drei Gläser: oben auf einem Balkon eine Flasche weißen Asti und ebenfalls jenes Wasser: dazu esse ich, bereits mit verändertem Kopf und leidlichem Appetit, Ziegenkäse. Ein Mann mit chinesischen Augen, der an meinem Tisch sitzt, bekommt auch ein Glas Asti: er dankt und trinkt mit sehr geschmeichelten Empfindungen. Dann händigt mir die Wirthin eine Anzahl Analysen und Schriftchen ein: zum Schlusse führt mich der Wirth Sprecher herum und läßt mich von allen Quellen trinken; zeigt den Reichthum an noch nicht gefaßten Hauptquellen und bietet mir, mein Interesse gewahrend, eine Genossenschaft zur Gründung eines Hôtels usw. an. Das Thal ist äußerst anziehend, für einen Geologen von unergründlicher Mannichfalitgkeit, ja Wunderlichkeit. Es finden sich Graffite, dann Ocker mit Quarzen, vielleicht Goldlager usw. man sieht die Steingänge auf das seltsamste gebogen, abgelenkt, zerstückt, wie etwa beim Axenstein am Vierwaldstättersee, nur viel kleiner und wilder. – Spät, gegen Sonnenuntergang, gehe ich zurück: die fernsten Spitzen glühen. Endlich tritt Glück und einige Zufriedenheit ein. Ein kleines Kind mit blassen Haaren sucht sich Nüsse und ist drollig. Endlich holt mich ein altes Paar ein, mich anredend und somit auch von mir Gegenrede empfangend. Er ein alter Graukopf, der Tischlermeister ist oder war und vor 52 Jahren auch in Naumburg, auf seiner Wanderschaft, an einem heißen Tage war. Sein Sohn ist Missionar in Indien, seit 1858, und wird für nächstes Jahr in Chur erwartet, um seinen Vater noch einmal zu sehen. Die Tochter ist mehreremal in Aegypten gewesen und war in Basel mit Pastor Riggenbach befreundet. Im Hotel angelangt schreibe ich etwas und esse. Ein Italiäner, der mir gegenüber sitzt, redet mich an: mangelhafte Verständigung, da er nicht deutsch spricht. Er war in Baden und wollte sich erholen. Ein Jude reist morgen leider um dieselbe Stunde (5 früh) mit mir ab: ich tröste mich, in Thusis auszusteigen.

22 [2]

Dritter Tag. Um vier geweckt: um fünf soll die Post gehen. Widerwärtiges Wartezimmer. Der Mann um diese Stunde etwas Scheußliches, rülpsend und gähnend.


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