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Als Michel am nächsten Morgen wieder auf Wache im Hofe des Gefängnisses stand, da hatte er erst Zeit, über das nachzudenken, was er gestern erlebt hatte. Es war eigentlich reichlich viel gewesen, und seine freie Zeit war ihm so im Fluge hingegangen, daß er fast vergaß, an seine Pflichten zu denken. Aber nun konnte er sich gut besinnen; die Gefangenen durften noch nicht an die Luft, und er war ganz allein.
Ja, er hatte Tante Male oben auf dem Boden gefunden, und es war Schmidt gewesen, der sie dort eingesperrt hatte. Zuerst war sie allerdings freiwillig in das Versteck gegangen, weil sie nicht vor den Gerichtshof wollte, und Schmidt hatte gut für sie gesorgt. Dann aber hatte es ihm wohl gefallen, den Herrn im »Gebratnen Kaninchen« zu spielen, und er hatte Tante Male immer wieder überredet, ruhig in ihrem Versteck zu bleiben und sich nicht zu zeigen, damit sie nicht auf die Guillotine käme. Sie hatte sich seinen Ratschlägen gefügt, und schließlich hatte er sie oben auf immer eingeschlossen und überall erzählt, daß Tante Male nach dem Auslande gereist wäre. Und die Arme hatte sich nicht wehren können, weil sie sehr viel Gicht in den Beinen hatte und kaum gehen konnte. Auch war sie so bange vor der Guillotine geworden, daß sie sich manchmal ihres Versteckes freute. In der letzten Zeit aber hatte Schmidt sich kaum mehr um sie gekümmert, und sie hatte vorausgesehen, daß sie wohl an Hunger sterben würde, als die Rettung in Gestalt von Michel kam. Zuerst hatte Tante Male es nicht glauben wollen, daß der magere Soldat in der abgerissenen Uniform ihr Neffe wäre, dann aber hatte sie immer von neuem seine Backen gestreichelt und gesagt: Der alte Gott lebt noch! Heute lerne ich es wieder, nachdem ich es eine Zeitlang vergessen hatte.
Auch Michel hatte geschluchzt, als er die krumme, alte Frau erblickte, die einst so rüstig gewesen war und die nun von ihm nach unten in ihr ehemaliges Schlafzimmer getragen wurde. Er holte ihr reine Kleidungsstücke, deren sie sehr bedurfte, und kochte ihr eine Suppe aus allerlei Resten, die sich noch in Küche und Keller fanden. Sobald er wieder Urlaub hatte, wollte er von neuem nach ihr sehen. Er konnte nicht glauben, daß seine Tante zur Guillotine verurteilt wäre; aber die Zeit war gefährlich, und man mußte vorsichtig sein.
Während er so vor sich hingrübelte, erklang ein Trommelwirbel, und die Gefangenen wurden auf den Hof geführt. Unwillkürlich faßte Michel sein Gewehr fester und richtete sich strammer in die Höhe. Dann warf er einen vorsichtigen Blick in die Reihen der Gefangenen und bekam auf einmal Herzklopfen, weil er Clarissa nicht sah. Aber da ging sie mit einem jungen Mann und sprach so eifrig mit ihm, als wäre sie nicht dem Tode geweiht. Später entdeckte Michel auch noch Demoiselle Danneel und Mutter Tilda, die sich heute mit einem sehr vornehm aussehenden Herrn angefreundet hatte und ihm allerlei Lustiges zu erzählen schien, denn er lachte mehrere Male laut auf. Und dann sammelte sich ein Kreis um einen jungen Mann, der beschriebenes Papier in der Hand hatte und daraus vorlas. Es waren Verse, und einige wurden von den Zuhörern gelobt und andere getadelt. Und wenn der Dichter getadelt wurde, dann bekam er einen roten Kopf vor Verdruß; wurde er aber gelobt, da strahlten seine Augen. Und doch war auch er zur Guillotine verurteilt, und es mußte ihm eigentlich egal sein, ob er gute Gedichte machte oder schlechte.
Michel hoffte, daß Clarissa ihn anreden würde, oder daß wenigstens Mutter Tilda ihm ein Wort sagen würde. Aber sie bekümmerte sich gar nicht um ihn, und sogar Demoiselle Danneel, die doch sonst immer freundlich gewesen war, ging mehrere Male an der Schildwache vorüber und wandte geradezu den Kopf ab. Das ärgerte Michel nicht wenig, und beinahe wäre er auf Mutter Tilda zugegangen, um sie auszuschelten, weil sie ihn nicht kennen wollte, aber da fiel ihm noch rechtzeitig ein, daß es ja verboten war, mit den Gefangenen zu sprechen, und daß er nichts zu tun hatte, als sein Gewehr zu schultern und auf und nieder zu gehen.
Das tat er denn auch, aber er war doch verdrießlich geworden und schalt im Innern auf alle Aristokraten, wie er es schon so oft getan hatte. Doch wenn er dachte, daß er morgen, wenn er wieder auf Wache zog, eine ganze Anzahl von denen, die hier gingen, nicht mehr finden würde, da verging sein Zorn, und er ertappte sich darauf, den lieben Gott zu bitten, er möge Clarissa doch noch einige Tage leben lassen.
Michel kam übrigens am andern Tage nicht wieder in das Gefängnis der zum Tode Verurteilten, sondern hatte an andern Plätzen Wache zu stehen. Er hatte strammen Dienst und wenig freie Zeit; nur einmal durfte er nach Tante Male sehen und fand sie besser, als er gedacht hatte. Eine Nachbarin hatte sich ihrer Pflege angenommen, und da sich die Polizei nicht mehr um das Haus zum »Gebratnen Kaninchen« bekümmerte, so konnte sie sich wieder in den unteren Räumen zeigen, und die Bewohner der Straße wünschten, daß sie ihre Wirtschaft wieder eröffnete. Sie mußte natürlich dazu eine Hilfe haben, weil sie sich doch nicht von ihrem Stuhl rühren konnte, und diese Hilfe war nirgends aufzutreiben. Also konnte auch aus der Wirtschaft nichts werden, und Tante Male mußte sehen, so gut wie es ging, fertig zu werden. Alles dies hatte Michel noch gehört, dann kam er wohl vierzehn Tage lang nicht nach Haus. Er wurde jetzt benutzt, in andern Gefängnissen Wache zu stehen, wo die Gefangenen waren, die noch nicht zum Tode verurteilt waren, und er wunderte sich, warum die Republik so schrecklich viele Leute einsperren ließ. Es waren bei weitem nicht nur vornehme Menschen, die in den engen Zellen schmachteten, ganze einfache Leute, Handwerker und Arbeiter, befanden sich darunter. Aber auch viele Lehrer, Geistliche und Ärzte waren eingesperrt und wußten nicht weshalb. Meistens hatten sie einen Feind, einen, der ihnen vielleicht Geld schuldete, oder der sie überhaupt nicht leiden konnte. Wer angeklagt war, der kam auch gleich ins Gefängnis und meistens nicht wieder heraus.
Eines Tages, als Michel wieder in einem Gefängnis über den Hof marschierte und den Gefangenen zusah, die sich in der freien Luft ergingen, faßte ihn jemand leise bei seinem Rock. Es war der Bürger Schmidt, der blaß und abgezehrt vor ihm stand.
»Michel,« flüsterte er, »merke es nicht, wenn ich nachher, beim Zusammentrommeln der Gefangenen, nicht mit ins Gefängnis zurückkehre. Merke es nicht, Michel, und denke daran, wie gut ich dich immer unterrichtet habe!«
Michel wollte antworten, daß Bürger Schmidt eigentlich seine wohlverdiente Strafe erhielte, als dieser schon verschwunden war.
Es war ganz dunkel auf dem Hof, und die Trommeln erklangen, während der Aufseher jeden Gefangenen mit Namen aufrief, der wieder zurück mußte ins Gefängnis. Sie antworteten alle mit »Hier!« wenn ihr Name erklang, aber als nach dem Bürger Schmidt gerufen wurde, war er nicht da.
Langsam ging Michel an seinem Platze hin und her. Er drehte den Kopf weder nach rechts oder links und tat, als ob ihn die ganze Geschichte nichts anginge. Aber sein Herz klopfte stark, und er wußte nicht, ob er sich freuen sollte, wenn Schmidt entkam, oder ob er traurig sein müßte. Der ganze Hof wurde nach Schmidt abgesucht, aber niemand fand ihn, und die Aufseher gaben das Suchen bald auf. Sie schalten wohl, aber dann sagten sie, daß es ja genug Futter für die Guillotine gäbe: auf einen Gefangenen mehr oder weniger kam es nicht an.
Als Michel später abgelöst wurde, berichtete er dem Korporal, was geschehen war; aber dieser war gleichfalls gleichgültig. Wenn es kein Herzog war oder ein Graf, der davonlief, dann war die Sache nicht so schlimm. Michel hatte gleich nach der Wache einige Stunden frei, und wie er nun den Weg nach dem »Gebratnen Kaninchen« einschlug, da hörte er leise seinen Namen rufen. Es war Schmidt, der über die Gefängnismauer gesprungen war und sich dabei den Fuß verletzt hatte, daß er nicht gehen konnte. Er klammerte sich an Michel und brach in Tränen aus.
»Ach, was beginne ich nun? Wenn ich nicht gehen kann, dann falle ich morgen der Polizei wieder in die Hände, und dann gibt es für mich kein Erbarmen mehr! Ach, Michel, hilf mir doch! Deine Tante Male würde mir auch helfen, wenn sie noch hier wäre!«
Da blieb Michel stehen und wollte eine heftige Antwort geben, aber es kamen gerade einige Leute über die sonst menschenleere Straße, und wenn er nun Lärm gemacht hätte, dann wäre Schmidt verloren gewesen. Er nahm ihn also an die Schultern, stützte ihn und ging langsam mit ihm weiter, während in ihm ein Plan aufstieg, den er sofort zur Ausführung brachte. Nach einer guten halben Stunde hatte er Schmidt vor das »Gebratne Kaninchen« gebracht, in dessen Fenstern ein matter Lichtschein schimmerte. Schmidt wehrte sich ein wenig.
»Dies Haus ist ja unbewohnt!« sagte er kläglich. »Meinst du, daß ich mich darin verstecken soll? Und dann – –«
Er kam nicht weiter. Michel hatte ihn über die Schwelle ins Zimmer gezogen, und da saß Tante Male und sah ihren einstigen Freund mit ernsten Augen an.
»Willst du mich noch einmal einsperren, Bürger?« fragte sie, und Schmidt stieß ein so lautes Geheul aus, daß Michel zu lachen begann.
»Nein, Tante Male, er soll dich nicht mehr einsperren; aber wir wollen es tun! Wir wollen ihn nach oben schaffen, in deine Kammer. Da kann er seinen verstauchten Fuß auskuriern, und dann versuchen wir ihn aus der Stadt zu bringen.«
Die alte Frau nickte.
»Schon gut, Michel! Ich will auch lieber Böses mit Gutem vergelten, als umgekehrt handeln. Aber du kannst den Bürger nicht allein nach oben bringen, Karl soll dir helfen und meine neue Haushälterin. Ich habe ja wieder fremde Hilfe im Haus, und vielleicht kommt die Wirtschaft wieder auf einen grünen Zweig; sie hat's nötig genug.«
Zu dieser Mitteilung machte Michel große Augen und noch größere, als auf ein Zeichen von Tante Male ein mittelgroßer Knabe das Zimmer betrat und sich erbot, den Flüchtling mit nach oben zu bringen. Aber Schmidt war so in sich zusammengesunken, daß er sich nicht rühren mochte. Er weinte Ströme von Tränen und sagte, daß er es nicht böse mit Tante Male gemeint habe, und daß alles nur ein Mißverständnis wäre. Und weil er doch von unten fortgebracht werden mußte, so rief Karl nach der Haushälterin, die denn auch sogleich erschien. Mit ihrer Hilfe wurde Schmidt auf den oberen Boden gebracht; doch als Michel nach dem Schlüssel fragte, mit dem das Hängeschloß der Bodenkammer geöffnet werden sollte, da erhielt er keine Antwort, und dann meinte die Haushälterin zögernd, daß der Fremde vielleicht ein andres Quartier erhalten müßte.
Da war etwas in der Stimme der Haushälterin, das Michel bekannt vorkam! Aber ehe er sich recht besinnen konnte, wurde schon die Bodenkammer von innen aufgemacht, und heraus kam Mutter Tilda.
»Nun, mein Junge,« fragte sie, »Hast du noch einen eingesperrten Vogel hier, der nicht gern gebraten werden möchte? Guten Tag, Bürger! Also du bist auch ausgekniffen? Nun, verdenken kann ich es dir nicht, obgleich du die Guillotine nach meiner Ansicht mehr verdient hättest als mancher brave Franzose, der nichts Böses getan hat. Aber ich will dich nicht angeben, und auch Michel muß den Mund halten. Vielleicht kannst du uns noch ganz nützlich sein, und jedenfalls will ich einmal nach deinem Fuß sehen, den du dir verknackst hast!«
Sie zog Schmidt in die Kammer, und Michel war noch so starr vor Staunen, daß er sich die Stirn rieb, weil er dachte, er träumte. Dann aber nahm die Haushälterin die große Haube ab, die ihr Gesicht fast versteckte, und er merkte nun, daß es Demoiselle Danneel war, die vor ihm stand.
Und Karl? Er sah sich nach dem Knaben um; aber unten ging die Haustür, und der Junge war eilig davongelaufen.
Demoiselle Danneel konnte ihm nur zuflüstern, daß Mutter Tilda Clarissa und sie gerettet habe, da mußte sie gleichfalls weg. Es waren Gäste gekommen, die Wein verlangten.
Jetzt rief Mutter Tilda nach ihm. Er mußte kaltes Wasser und altes Leinen holen, und während Schmidt verbunden wurde, berichtete sie, wie alles gekommen war.
»Siehst du, Michel, mir tat es ja nichts, wenn ich ins Gras beißen mußte, obgleich es ja immer ärgerlich ist, vor der Zeit daran glauben zu müssen. Besonders wo ich immer eine so gute Patriotin gewesen bin und sehr viel für Frankreich getan habe. Weißt du noch, wie wir zusammen in Versailles waren? Ich habe meine Gesundheit dabei zugesetzt, was doch keine Kleinigkeit ist, und damals in den Tuilerien erhielt ich nicht einmal das Stück Sofazeug, was ich haben wollte. Nun, das ist schließlich nicht so schlimm, und wie gesagt, ich hätte mich noch für meine Person zu der Guillotine entschlossen, wenn ich nicht gefunden hätte, daß einige Leute absolut nicht dazu paßten. Zum Beispiel die Clarissa, die mir leid tat, und ihre Lehrerin, die nicht einmal eine Aristokratin ist und ihre paar Ersparnisse immer nach Deutschland zu ihrer Mutter geschickt hat. Was soll die auf der französischen Guillotine?«
Hier unterbrach Schmidt sie.
»Die Guillotine ist meine Erfindung!« rief er. »Doktor Guillotin hat sie mir weggenommen!«
Mutter Tilda sah ihn schief an.
»Wenn du meinst, daß du etwas Rechtes erfunden hast, dann geh nur hin und laß dir den Kopf abschlagen! Es soll ja gar nicht weh tun! Aber wenn ich in deiner Stelle wäre, dann schwiege ich fein still! Meinst du nicht, daß ich weiß, wie du gegen Tante Male gewesen bist? Und nun muß Tante Males Haus dich retten!«
»Sie selbst weiß nämlich nicht, daß ich hier im Hause bin, und daß Karl kein Junge, sondern eine Aristokratin ist,« wandte sie sich wieder an Michel. »Eine meiner guten Freundinnen hat mich hier untergebracht, und ich habe dann Mamsell Danneel und Clarissa die Stelle besorgt. Viel kochen können sie ja beide nicht, aber zuerst wird das Geschäft doch schlecht genug gehen, und wenn sie nicht Bescheid wissen, dann kommen sie zu mir; ich gebe ihnen mit Vergnügen einige Ratschläge!«
Schmidt hatte der Unterhaltung mit offnem Munde zugehört, und Mutter Tilda gab ihm einen kleinen Puff.
»Ja, mein Junge, so was ist dir wohl noch nicht vorgekommen, daß eine alte Fischfrau mit den Aristokraten gemeinsame Sache macht! Aber ich habe gelernt, daß eigentlich alle Menschen was Gutes an sich haben, sogar die Aristokraten, was ich ehemals nicht dachte. Und im Bürgerstande gibt's gleichfalls Hallunken, wie man an dir sehen kann! Nimm dich nur in acht, daß du dich gut beträgst! Sonst kann es dir noch schlimm ergehen!«
Schmidt versprach mit vielem Seufzen, daß er sich bessern und alle seine Sünden bereuen wollte, so daß Mutter Tilda das Schelten ließ und ihn weiter kunstgerecht verband.
Michel aber freute sich, als er aus dem »Gebratnen Kaninchen« herauskam und wieder in die Kaserne mußte. Er konnte sich noch nicht darin finden, daß Mutter Tilda und ihre Schutzbefohlenen aus der Conciergerie entkommen waren und hätte gern gewußt, auf welche Art sie ihre Flucht bewerkstelligt hatten. Vorläufig aber erfuhr er nichts darüber und mußte sich mit der Gewißheit begnügen, daß sie frei waren. Sie waren natürlich noch immer in Gefahr; erst wenn sie Frankreich verließen, waren sie in Sicherheit. Und niemand durfte Paris verlassen, der nicht einen Paß vorweisen konnte. Lange hatte Michel keine Zeit, über diese Fragen nachzudenken. Es gab in diesen Tagen scharfen Dienst, und täglich mußte er in einem oder dem andern Gefängnis auf Wache ziehen. Dazwischen mußte er exerzieren, und manchmal war davon die Rede, daß sein Regiment wieder an die Grenze gehen sollte. Es zogen nämlich die preußischen und östreichischen Truppen heran, um den Franzosen klar zu machen, daß sie ihren König und ihre Königin unwürdig behandelten, und daß sie dafür bestraft werden müßten. Es war von den fremden Regierungen sehr gut gemeint, daß sie dem gefangnen Königspaar beistehen wollten; aber sie schadeten ihm mehr, als daß sie nützten. Die Franzosen sagten, daß ihnen fremde Staaten nichts zu befehlen hätten, und daß sie ihre eignen Angelegenheiten selbst besorgen könnten. Michel hörte von den andern Soldaten darüber sprechen, und er hörte dann noch mehr von seinem Freund Peter, den er wiedersah, als er zur Wache in den Tempel kommandiert wurde. In denselben Tempel, der einst ein Ordenshaus gewesen war und der nun die königliche Familie in seinem Innern barg. Es war ein altes, düstres Haus mit zwei Türmen und einem verwilderten Garten. Das Ganze lag in einem der ältesten Stadtteile von Paris und war von hohen, häßlichen Häusern umgeben. Michel, der selten in diese Gegend gekommen war, mußte an das schöne Versailles denken, wo die königliche Familie zwischen lauter Gärten und herrlichen Anlagen gewohnt hatte. Nun waren sie gefangen und durften sich nicht aus dem kleinen Garten entfernen, der so lag, daß man aus den Häusern in ihn hineinsehen konnte.
Gerade als Michel vor dem engen Tore mit noch einem Kameraden stand, um die Wache abzulösen, wurde aus einem der Häuser etwas vor ihn niedergeworfen. Ein Papier, das zwei schöne, duftende Rosen enthielt.
»Für die Königin!« stand auf dem Papier, das Michel aufhob. Er sah sich um und ließ den Blick in die Höhe gehen; alle Fenster der Häuser aber waren geschlossen, und man konnte nicht sehen, woher die Botschaft gekommen war. Der Begleiter Michels, ein älterer Soldat, schien sich nicht zu wundern.
»Gib der Bürgerin Capet nur nachher die Blumen, Kamerad!« sagte er. »Ich hab's auch neulich getan. Sie freut sich, und weshalb soll man ewig mit ihr schelten? Das besorgen die Frauen, die manchmal in den Garten sehen, zur Genüge. Ich schelte nicht mit ihr; sterben muß sie doch, was soll man da noch grob mit ihr sein?«
So also hielt Michel seine Rosen in der Hand; und als er bald vor der Königin stand, die jetzt Bürgerin Capet hieß, da reichte er sie ihr mit einem verlegnen Gesicht.
Marie Antoinette war sehr alt geworden, und sie, die einst in Seide gekleidet war, trug jetzt ein einfaches baumwollenes Kleid. Mit traurigen Augen sah sie die beiden Soldaten an, die in ihrem Zimmer Platz nahmen, aber als sie die Rosen erhielt, ging ein leiser Zug von Freude über ihr abgezehrtes Gesicht.
»Mein Freund, ich danke Ihnen!« sagte sie zu Michel, doch sein Begleiter unterbrach sie.
»Ach was, dem Michel hast du nicht zu danken, Bürgerin, und du weißt, daß es verboten ist, jemand Sie zu nennen. Michel hat dir die Rosen auch nicht geschenkt; sie sind mal wieder vom Himmel gefallen! Und nun schweige, Bürgerin! Ich will mich ein wenig ausruhen.«
Er legte sich in seinen Stuhl zurück und schnarchte bald ganz laut.
Die Königin sagte nichts weiter. Sie hielt die blühenden Rosen an ihr trauriges Gesicht und trat dann ans Fenster, um in den düstern Himmel zu sehen. Es war bald Dezember, und draußen war es dunkel und kalt. Aber wer da draußen in der Kälte unter freiem Himmel umherging, der hatte es doch tausendmal besser als diese arme Königin hier im Gefängnis.
Michel saß ganz still und fühlte sich nicht sehr behaglich. Er mußte daran denken, daß diese Königin einst sehr sanft mit ihm gesprochen hatte, als er zu denen gehörte, die das Schloß von Versailles stürmten. Damals hatte sie ihn sicher herausbringen lassen, und er hatte sich niemals für ihre Güte bedankt. Und der kleine Prinz – –
»Madame, wo ist Ihr Sohn?« fragte Michel jetzt, und merkte nicht, daß er die Königin nicht duzte, wie es befohlen war. Sie wandte sich vom Fenster ab und ihm zu.
»Er lernt bei seinem Vater!« erwiderte sie. »Seine Gesundheit ist nicht gut,« setzte sie hinzu. »Er hat zu wenig frische Luft.«
»Holen Sie ihn, Madame, ich will ihn sehen!«
Die Königin lächelte flüchtig.
»Mein Freund, ich darf dies Zimmer nicht ohne Erlaubnis verlassen, und Sie dürfen es auch nicht. Wir müssen warten, bis mein Sohn von einem Aufseher gebracht wird. Ich darf ihn nur eine Stunde am Tage sehen.«
Ihre Stimme zitterte ein wenig, und Michel mußte daran denken, was er wohl gesagt haben würde, wenn er seine eigne Mutter nur eine Stunde am Tage hätte sehen dürfen: damals, als er noch eine Mutter hatte. Ob sie noch lebte? Und wo waren seine kleinen Schwestern? Wenn man Soldat war und ein schweres Leben hatte, dann konnte man nicht immer an die Zeit denken, wo alles ganz anders und besser war; aber wie Michel nun so still neben der armen Königin saß, da überkamen ihn doch die Gedanken an Hamburg, an seine alte Heimat. Am liebsten hätte er noch mehr mit der Königin gesprochen, aber jetzt trat ein Hauptmann ein, der die Wache revidierte und der dem schlafenden Soldaten einen derben Puff gab, daß er in die Höhe fuhr.
Dieser Kapitän war ein böser Mann, der die Königin gleich mit Scheltworten überschüttete und ihr Grobheiten sagte. Er war ein ehemaliger Schuster, und ein Herzog, der bei ihm ein Paar Stiefel hatte machen lassen, hatte vergessen, sie zu bezahlen. Nun nannte der ehemalige Meister alle Aristokraten Räuber und Diebe, und da er sich ehemals vor den vornehmen Leuten hatte bücken müssen, so freute er sich, jetzt die Macht zu haben, ihnen Grobheiten zu sagen.
Er schalt über alles, nur nicht über Michel, den er ziemlich gut behandelte, was daher kam, daß der kleine Soldat immer sehr gefällig gegen ihn war und ihm neulich seinen Sold lieh, den er gerade erhalten hatte. Und dann war er damals gleichfalls zur Wache in den Tuilerien gewesen, als auch Michel dorthin kommandiert war, und hatte gefunden, daß der junge Mensch sehr grob gegen die königlichen Herrschaften gewesen war. Deshalb erklärte er, daß Michel einige Tage im Tempel bleiben sollte, um auf alles zu achten, und daß er sein Quartier im Zimmer der Königin aufschlagen könnte.
Denn Tag und Nacht wurde die arme Marie Antoinette bewacht, und sie durfte niemals allein sein.
Michel freute sich halbwegs über die Ehre, immer hierbleiben zu sollen, wiederum war der Aufenthalt für ihn gleichfalls eine Art von Gefängnis, und er hätte doch sehr gern einmal nach Tante Male gesehen und gewußt, wie sich Clarissa als Kellner weiter machte. Aber er mußte gehorchen, und nun blieb er über zwei Wochen im Tempel und durfte nur an die Luft, wenn die Königin mit ihren Kindern in den kleinen verschneiten Garten ging. Denn es hatte bald nach Michels Einzug zu schneien begonnen, und die Kinder auf der Straße spielten Schneeball. Der kleine Prinz sah dies Spiel vom Fenster aus und freute sich so daran, daß er bat, auch einmal hinunter gehen zu dürfen. Er war jetzt ein ziemlich großer Junge geworden, und sehr klug für sein Alter. Er konnte lesen und schreiben und verstand schon ein wenig Latein. Aber er mochte auch gern spielen. Und als ihm der wachthabende Offizier seine Bitte, in den Garten zu gehen und sich schneeballen zu dürfen, unfreundlich abschlug, da setzte er sich in eine Ecke und brach in Tränen aus.
»Mama,« fragte er seine Mutter, »warum sind die Menschen alle so schlecht gegen uns, habe ich ihnen etwas getan?«
Die Königin antwortete nicht, und der Offizier, der noch im Zimmer war, drohte dem Kleinen mit der Hand.
»Kleiner Capet, wenn du noch einmal so dumm fragst, dann gibt's Prügel!«
Der Prinz sah ihn furchtlos an.
»Prügel sind keine Antwort auf meine Frage!«
Der Kapitän griff nach einem Stock, der auf dem Tisch lag; dann aber sah er die Augen der Königin mit einem so flammenden Ausdruck auf sich gerichtet, daß er den Stock wieder hinlegte.
»Ihr werdet schlecht behandelt, weil ihr euch schlecht betragen habt!« sagte er nur und verließ dann das Zimmer.
Ja, die königliche Familie wurde schlecht behandelt, und Michel, der sie jetzt kennen lernte, fand diese Behandlung ganz abscheulich. Aber er war nur ein kleiner Soldat, der zu gehorchen hatte, wenn er nicht totgeschossen werden wollte, und als er einmal heimlich mit Peter darüber sprach, da war dieser ebenso verdrießlich darüber wie sein junger Freund.
Peter hatte nichts bei der Königin zu tun; er mußte auf die Zimmer des Königs acht geben und dafür sorgen, daß sie in Ordnung gehalten wurden. Der König wohnte nämlich in einem andern Quartier des alten Schlosses als seine Gemahlin, und das Ehepaar sah sich nur bei den Mahlzeiten, oder wenn die Aufseher es sonst gestatteten. Wenn einer von diesen einmal schlechter Laune war, dann durften Mann und Frau sich nicht sehen, und die Kinder, der kleine Prinz und die Prinzessin, wurden eingesperrt.
»Mir scheint, daß die Wirtschaft hier immer schlechter wird!« flüsterte Peter einmal seinem Freunde Michel zu. »Wahrhaftig, erst habe ich mich recht gefreut, als die Franzosen die Revolution anfingen, aber nun mag ich nicht mehr darüber sein. Der König ist wohl ein bißchen nachtmützig gewesen und hat eine große Menge von Fehlern gemacht, und die Königin hat sich ebenfalls nicht klug benommen. Aber deshalb darf man die Leute doch nicht so unter aller Kanone behandeln, wie sie jetzt behandelt werden. König bleibt König, und mir kommt vor, als wären wir jetzt viel schlechter daran als zu der Zeit, da wir noch einen König hatten!«
»Die Vornehmen hatten zu viel Macht, und die Armen kriegten kein Recht!« entgegnete Michel, der schon sehr gut sprechen konnte.
Peter zuckte die Achseln.
»Jawohl, mir nahm der Herzog mein Pferd, und das andre schoß er mir tot; das war abscheulich, und nun sitzt er irgendwo in Deutschland und ist Tanzmeister geworden. Daß wir die Vornehmen an den Ohren gezogen haben, ist schon gut genug; ich finde aber, daß wir Niedrigen nicht genug von der ganzen Geschichte haben. Meine Frau und meine Kinder sind vielleicht tot, und ich bin nicht einmal General geworden; ganz im Gegenteil: ich kriege immer weniger Gehalt, und einer meiner Kollegen, der am Tempel angestellt war wie ich, ist gestern auf dem Karren nach der Guillotine gefahren worden. Und nur deswegen, weil er einen der Vornehmen, die jetzt zu sagen haben, einen Spitzbuben genannt hat. Ja, ja, uns kleinen Leuten wird immer das Fell über die Ohren gezogen, und ich bin mit der jetzigen Regierung nicht zufrieden!«
Peter hatte im Eifer lauter gesprochen als er durfte, und ein Soldat, der in der Nähe gestanden hatte, kam auf ihn zu.
»Bürger,« sagte er drohend, »hast du eben gesagt, daß du nicht zufrieden wärest?«
Da wurde Peter blaß, setzte aber eine unschuldige Miene auf.
»Bürger Soldat,« sagte er feierlich, »du hast mich falsch verstanden. Mit der glorreichen Republik bin ich sehr zufrieden, nur nicht damit, daß sie täglich kaum fünfzig Personen guillotinieren läßt. Das sind viel zu wenig; sie muß es auf wenigstens hundert bringen!«
Der Soldat schlug den alten Mann auf die Schulter.
»Ganz meine Ansicht!« rief er und ging beruhigt davon.
Peter aber drohte hinter ihm her.
»Siehst du, Michel, so sind die Menschen heutzutage. Kein Wort darf man mehr sagen! Weißt du, mein Junge, wenn ich einmal aus Paris entwischen kann, dann tue ich es mit Vergnügen. General werde ich doch nicht mehr, obgleich ich gerade so viel vom Kommandieren verstehe wie ein Böttchermeister aus Havre, der wahrhaftig General geworden ist.«