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Der Wind blies noch immer mächtig. Die »Marie Antoinette« legte sich bald auf die eine und dann auf die andere Seite. Große, grüne Wellen schlugen übers Deck, und die Segel flatterten. Claus Piepgras stand am Steuer und schrie manchmal ein Wort; dann kletterte ein Matrose in die Takelage und riß an den Segeln. Aber sie wollten sich nicht reißen lasten, und der Mann hatte große Arbeit, während das Schiff nicht von der Stelle kam. Michel hatte sich an das Schaukeln gewöhnt. Sein Magen war recht leer, aber er wollte nicht in die Küche gehen, wo der Koch vorhin gelacht hatte, als er einen Puff von Claus gekriegt hatte. Lieber saß er auf einer kleinen Bank und maulte. Zugleich sehnte er sich wieder nach Hause, und gerade wischte er sich eine dicke Träne ab, als das kleine vornehme Mädchen plötzlich vor ihm stand.
»Wo bleibst du?« fragte sie. »Der Mann sagte, daß du mich unterhalten solltest, du bist aber nicht wieder gekommen! Weißt du nicht, daß ich eine Gräfin bin, und daß ich Clarissa von Melion heiße? Du bist nur ein armer Junge, und du mußt dich sehr freuen, wenn ich mit dir spreche. Ich tue es auch nur, weil meine Gouvernante krank ist und mein Vater auch. Ich dachte, sie würden beide sterben, weil sie sich so schrecklich anstellten, aber der Kapitän sagt, daß sie morgen oder übermorgen wieder besser sein werden. Dann spreche ich natürlich nicht mehr mit dir, aber jetzt darfst du mich unterhalten.«
Clarissa hatte sehr schnell und in einem etwas fehlerhaften Deutsch gesprochen, aber Michel konnte sie sehr gut verstehen, und es machte ihm Spaß, ihr zuzuhören.
»Wenn du morgen nicht mit mir sprechen willst, dann brauche ich es heute auch nicht zu tun!« sagte er trotzig, worauf das kleine Mädchen eilig aufstand und auf Claus Piepgras zulief, der eben von seinem Steuerrad kam.
»Er ist wieder unartig,« klagte sie. »Er sagt, morgen will er nicht mit mir sprechen und heute auch nicht.«
Claus Piepgras ging auf Michel zu und zog ihn so heftig an den Ohren, daß er aufschrie.
»Wenn du nicht alles tust, was diese junge Dame befiehlt, dann wirst du ins Wasser geworfen!« sagte er mit einem so finstern Gesicht, daß Michel erschrak.
»Siehst du wohl?« Clarissa sah ihn triumphierend an. »Du darfst nicht unartig sein!«
Sie setzte sich neben ihn, und als er noch seine schmerzenden Ohren rieb, da streichelte sie ihn ein wenig.
»Nur immer artig und gehorsam sein!« ermahnte sie. »Dann schenke ich dir vielleicht etwas, und ich sage meinem Herrn Vater, daß er dich in seine Dienste nimmt. Wir sind nämlich schrecklich vornehm und reich. Wir können viele Dienstboten gebrauchen!«
Michel wollte eben sagen, daß er keine Lust hätte, Diener bei Clarissa zu werden, als das Schiff eine tiefe Verbeugung nach vorn machte und sich dann so scharf auf die Seite legte, wo Michel und das kleine Mädchen saßen, daß beide Kinder von ihren Plätzen fielen und dem Wasser zurollten. Michel hielt sich krampfhaft an der festgenagelten Bank fest und faßte gerade noch Clarissa an der Schulter, ehe sie ins Wasser fiel. Die Wellen spülten über beide Kinder hin, und Michel kriegte einen Schlag auf den Kopf, daß er beinahe die Besinnung verlor. Aber er war eigensinnig: er wollte Clarissa nicht loslassen, die noch mit dem halben Körper über den Rand des Schiffes hing. Da kam auch schon jemand von der Mannschaft gelaufen, und er hörte, wie Clarissa gellend aufschrie – dann verlor er die Besinnung. Als er wieder zu sich kam, lag er auf einem bequemen Sofa, und eine Frau beugte sich über ihn.
»Er lebt!« sagte sie erfreut, und Michel wunderte sich, weshalb er nicht leben sollte.
»Darf ich nicht ein Butterbrot kriegen und Kaffee?« fragte er, und nach wenigen Augenblicken wurde ihm eine dampfende Taste gebracht, die er mit Vergnügen austrank. Dabei merkte er aber, daß sein Kopf dick verbunden war, und als er noch das Tuch befühlte, stand Clarissa schon neben ihm.
»Du hast mich festgehalten, als ich in die See fallen wollte,« berichtete sie, »und dann ist dir ein Segel auf den Kopf gefallen, und du hast mich doch nicht losgelassen. Also hast du mir das Leben gerettet, und mein Vater ist dir auch sehr dankbar. Ich bin nämlich sein einziges Kind, und er hat mich sehr lieb. Auch ich bin mit dir zufrieden, weil ich noch keine Lust zum Sterben habe, was mir niemand verdenken kann, und dies ist Mademoiselle Danneel, meine Gouvernante, die gleichfalls glücklich ist, daß ich noch lebe. Denn mein Vater hätte sie einsperren lassen und hart bestrafen, wenn ich ertrunken wäre. Nicht wahr, Demoiselle?«
Sie wandte ihr fragendes Gesicht der älteren Frau zu, die ihr aber nicht antwortete und nur Michels Hand streichelte.
»Er ist ein tapferer kleiner Knabe, und wir wollen ihm alle dankbar sein!« erwiderte sie, und da sie noch ein Butterbrot in ihrer Hand hielt und Michels Augen begehrlich darauf ruhen sah, so steckte sie es ihm zwischen die Finger, was Michel angenehmer war als alle Lobsprüche der Welt. Aber er schlief dann gleich wieder ein, und als er nach langem Schlaf erwachte, da schien die warme Sonne, das Meer leuchtete wie ein Schild von Stahl, und alle Segel waren ausgespannt, um ein wenig Wind zu fangen. Der aber hatte sich ausgetobt und so weit verkrochen, daß er auf der ganzen Nordsee nicht zu finden war.
Der Kapitän schalt, denn er wollte bald in Frankreich sein, und der Graf Melion gähnte den ganzen Tag. Auch er hatte Eile, nach Frankreich zu gelangen, das sein Vaterland war, und wo er wichtige Geschäfte am Hofe des Königs zu besorgen hatte. Aber, obgleich er sehr vornehm und reich war, so konnte er dem Winde nicht gebieten, aus seinem Versteck zu kommen, und er mußte sich in Geduld fassen.
Michel dagegen fand die Reise sehr nett, und seinetwegen konnte sie ewig dauern. Alle Leute waren freundlich gegen ihn, und sogar der Graf, der sonst mit keinem Menschen sprach und nur dem Kapitän gelegentlich ein mißbilligendes Wort über die lange Reise sagte, selbst der Graf nickte ihm zu und hatte nichts dagegen, daß er mit seiner Tochter spielte. Graf Melion verstand nur wenig Deutsch: er hatte es seine Tochter nur lernen lassen, weil er sie an einen vornehmen deutschen Herrn verheiraten wollte. Deshalb hatte er auch die deutsche Lehrerin angenommen, die von Michel Mamsell Danneel genannt wurde, und mit der er am liebsten plaudern mochte, weil sie immer freundlich gegen ihn war und nicht davon sprach, daß er nur ein armer Tölpel wäre, für den es eine große Ehre war, wenn Clarissa sich mit ihm unterhielt.
Michel hatte Clarissa gern, so gern, wie er überhaupt ein Mädchen haben konnte, aber wenn sie ihre hochmütigen Einfälle bekam, dann lief er von ihr weg, steckte sich hinter Claus Piepgras und lernte das Steuern oder sonst irgend etwas, das ein Seemann wissen mußte.
Doch bei dieser Beschäftigung konnte er niemals lange sein; die kleine Gräfin ließ ihn immer wieder zu sich holen, und er mußte ihr erzählen, wie es in Hamburg war.
»Meine Stadt Paris ist natürlich viel schöner als dein Hamburg,« sagte sie dann wohl.
»Dann frage mich nicht immer, wie es bei uns ist!« gab er zur Antwort.
Clarissa lachte. »Ich frage nur, weil ich mich langweile. Ich spreche überhaupt nur mit dir, weil ich es sonst vor Langeweile nicht aushalten könnte, und weil du mir das Leben gerettet hast. Aber wenn wir uns später in Paris einmal wieder sehen sollten, darfst du nicht mit mir sprechen, das schickt sich nicht, weil ich so vornehm bin und du gar nichts.«
»Liebe Clarissa, so dürfen Sie nicht reden!« sagte Mamsell Danneel, die bei dieser Unterhaltung zugegen war. »Vor Gott sind wir alle gleich, und diesem Knaben sind wir alle zu Dank verpflichtet, weil –«
Michel unterbrach sie.
»Das ist lauter dummes Zeug!« lachte er. »Ich habe die Clarissa nur ganz von selbst festgehalten und mir nichts dabei gedacht. Und mein Loch im Kopf wird bald wieder heil sein und tut mir gar nicht mehr weh: wenn ich die Clarissa in Paris wiedersehen sollte, will ich sie nicht wiedererkennen. Weil sie doch nur ein Mädchen ist und ich nur mit Jungen sprechen werde.«
»Du sollst mich aber kennen,« rief die kleine Gräfin böse. »Den Hut mußt du abnehmen bis zur Erde und dich tief verneigen. Und wenn ich dann gnädig gestimmt bin, dann sehe ich dich ein wenig an. Und wenn ich verdrießlich bin, dann kehre ich dir den Rücken!«
So schwatzten die Kinder miteinander, erzürnten sich und versöhnten sich bald wieder. Noch immer kam kein Wind, und die »Marie Antoinette« kam nur langsam vorwärts. Da gab es viele Stunden zum Schwatzen, und einmal sprach Mamsell Danneel davon, daß sie Clarissa etwas zum Lernen aufgeben wollte und daß auch Michel ein wenig schreiben und lesen sollte. Denn von beiden Künsten verstand er nicht so viel wie die Kinder von heutzutage.
Schrieben wir doch das Jahr 1788, wo es nicht so viele Schulen gab wie jetzt, und wo nur die Kinder ordentlich lernten, deren Eltern ein hohes Schulgeld bezahlen konnten. Und Michels Vater hatte kein Geld dazu gehabt. Michel war's egal, warum sollte er Buchstaben auf die Tafel kritzeln lernen, wenn es nicht nötig war; aber Claus Piepgras, der hörte, wie er Mamsell Danneel einen Abschlag gab, stellte ihn nachher zur Rede.
»Du solltest man nicht dumm sein, Junge, und was Ordentliches lernen!« sagte er. »Ich habe mich immer geärgert, daß ich als Junge so töricht war und auch vor der Fibel und der Schiefertafel weglief. Da kann ich heute kaum meinen Namen schreiben, und manchmal schäme ich mich deswegen. Und wenn du nun nach Frankreich kommst, solltest du doch klüger sein als die Franzleute. Dann kannst du es noch zu etwas bringen!«
Er hatte sich Michel mit nach vorn auf das Verdeck genommen. Der Kapitän drehte am Steuerruder, und Claus hatte nichts zu tun. Da rauchte er aus einer kleinen Tonpfeife, streckte die Beine von sich und starrte ins Wasser. Er war jetzt viel freundlicher gegen Michel als zu Anfang, was wohl daher kam, daß sich Michel nichts aus dem Loch im Kopf machte, das er bei Clarissens Rettung erhalten hatte und das jetzt soweit wieder zusammengeflickt war, daß er ohne Verband gehen konnte. Aber über seine Stirn lief ein großer, roter Streifen, und Claus sagte, daß jedermann ihn an dieser Narbe erkennen würde.
Dies war Michel natürlich auch einerlei; er dachte jetzt an ganz andre Dinge.
»Sag, Claus, ist Frankreich eigentlich so groß wie Hamburg?« fragte er, und der Steuermann sah ihn erstaunt an. »Mein guter Junge, Frankreich ist ein großes, weites Land und Hamburg nur eine Stadt, wenn auch eine große. In Frankreich gibt es wohl mehr als hundert Städte, viele Schlösser und Güter, und einen König, der alles regiert.«
»Wie heißt er?«
»Ludwig der Sechzehnte heißt er, und seine Frau heißt Marie Antoinette. Sie hat Gevatter bei diesem Schiff gestanden, wenn sie es auch nicht weiß. Eine feine Frau soll sie sein, sehr schön und sehr stolz. Früher haben die Franzosen sie gern gehabt, jetzt mögen sie sie nicht mehr leiden. Als wir das letztemal in Havre waren, habe ich im Wirtshaus darüber reden hören.«
»Was haben sie denn gegen sie?« fragte Michel. »Ist sie gerade so verdreht wie Clarissa, die immer sagt, daß sie mehr ist als ich? Und sie ist doch nur ein elendes Mädchen!«
Claus sog bedächtig an seiner Pfeife.
»So etwas darfst du nicht sagen, Junge, und wenn der Kaptein das hört, kriegst du einen hinter die Ohren. Aber ich will dich nicht angeben, weil du ja nur schrecklich dumm bist. Die kleine Gräfin ist eben ganz etwas andres als du, und ihr Vater ist sehr vornehm und kann jeden Tag auf goldnem Geschirr speisen. Er hat in Frankreich ein Dutzend Schlösser, wohl hundert Pferde und tausend Bauern, die für ihn arbeiten müssen. Der Kaptein hat mir eine Menge davon erzählt, und für unser Schiff ist's ne große Ehre, so feine Herrschaften mitnehmen zu dürfen. Du bist eben noch töricht, sonst würdest du wissen, daß die vornehmen Herrschaften anders sind und immer mit viel Respekt behandelt werden müssen! Sieh, da kommt die kleine Gräfin und sieht sich nach dir um. Sei nur recht artig gegen sie: sonst muß ich dich noch an den Kaptein verklagen, damit du deine Hiebe kriegst. Lieber tue ich es aber nicht!«
Und der gutmütige Claus schob den Jungen dorthin, wo Clarissa ihn suchte.
Sie faßte ihn an die Hand und zog ihn mit sich.
»Nun wollen wir schön spielen, und du sollst mein Bedienter sein!« rief sie.
Aber Michel kümmerte sich nicht um Claus seinen Rat und gab ihr einen Puff, daß sie fast zur Seite flog.
»Ich will der König sein und du darfst meine Königin sein!« meinte er gnädig. »Aber nur, wenn du mir gehorchen willst. Mädchen müssen immer gehorchen!«
Clarissa war so überrascht, daß sie keine Widerrede wagte.
Gehorsam holte sie einen roten Sammetrock ihres Vaters aus der Kajüte, den sich Michel um die Schultern hängte. Dazu setzte er eine blauseidene Nachtmütze auf, die gleichfalls dem Grafen gehörte, und dann kletterte er auf das Kajütendach und kommandierte, daß Clarissa ihm Schokolade und Kuchen bringen sollte, die sie in einer Blechschachtel mit sich führte.
Sie selbst hatte einen weißen Mantel umgebunden und sich aus Goldpapier eine Krone gemacht, die Michel ihr aber gleich wegnahm, um sie selbst aufzusetzen, während er ihr die Nachtmütze gab.
»Nachtmützen sind bester für Königinnen als für Könige!« sagte er dabei, und Clarissa ließ sich wiederum alles gefallen, bis ihre Gouvernante aufs Deck kam und eilig die verkleideten Kinder wieder auszog.
»Solche Spiele darf der Herr Graf nicht sehen!« sagte sie dabei und merkte nicht, wie der Graf eine ganze Weile an einen Mast gelehnt gestanden und sich die Spielerei angesehen hatte.
Jetzt trat er hervor, zog Michel leicht am Ohr und sagte einige Worte, die der Junge nicht verstand. Er merkte aber, daß es nichts Böses war und daß Mamsell Danneel leise lächelte.
»Was sagte der Herr Graf?« fragte er nachher die Dame, die einen Augenblick verlegen wurde, dann aber ruhig antwortete.
»Er sagte, daß du nicht solche Nachtmütze wärest wie ein wirklicher König, den der Herr Graf kennt.«
»Ist es der König von Frankreich?« fragte Michel weiter, erhielt aber keine Antwort. Sie war dem Jungen auch einerlei. Das Königsspiel hatte ihm gefallen, und wenn er nur recht fest mit Clarissa sprach, dann tat sie auch, was er wollte. Morgen wollte er es wieder so machen. Ihr Bedienter wollte er nicht werden, nein, ganz gewiß nicht; das würde er ihr schon zeigen. Und wenn Claus Piepgras und der Kapitän hundertmal etwas andres sagten.