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Das zehnte Kapitel

.Im Frühjahr des nächsten Jahres erhielt Michel einen Brief seines Vaters. Schon zweimal hatte Tante Male von seinem Wohlergehen geschrieben und auch einige Zeilen wieder erhalten. Aber damals gingen die Briefe langsam und kosteten sehr viel Geld; also besann man sich, ehe man wieder schrieb, und Michael Schneidewind hatte so mancherlei bei seinem Advokaten zu schreiben, daß er, wenn er mit der Arbeit fertig war, lieber der Ruhe pflegte. Michel aber freute sich nicht wenig, einen wirklichen Brief mit seiner Adresse zu erhalten, und er las ihn so oft durch, daß er ihn schließlich auswendig wußte.

Herr Michael schrieb nämlich, wenn er einmal schrieb, sehr ausführlich, und Michel erfuhr haarklein, wie es in seiner Familie aussah. Seine Schwester Anne hatte von einer Frau Doktor ein neues Kleid geschenkt erhalten, und vielleicht dürfte sie auch gelegentlich mit den Kindern der Dame spielen. Das war sehr gut für sie, weil sie sich dann in den feinen Manieren übte und später einen Dienst in einem guten Hause annehmen konnte, ebenso wie Martha, die aber noch zum Lernen reichlich klein war. Sie mußte schreiben und lesen lernen, und später sollte sie gleichfalls ihr Brot verdienen. Die Zeiten für Michels Vater waren nämlich schlecht gewesen. Er hatte lange krank gelegen, und die Mutter auch. Da war das Geld knapp geworden, und es war ein Glück, daß die Tante Male manchmal etwas durch einen Kaufmann gesandt hatte. Sie war recht zufrieden mit Michel; das hatte sie geschrieben, und daher wollte sie auch weiter Geld schicken, wenn sie nur welches hatte.

 

»Ich bitte Dich nun, mein lieber Sohn,« so schrieb Herr Michael des weiteren, »ich bitte Dich von ganzem Herzen, daß Du auch fernerhin gut und brav bleiben mögest, damit Tante Male immer mit Dir zufrieden sein kann. In Paris soll es ja recht wunderlich aussehen, wie ich hier von Claus Piepgras erfahren habe, der noch immer auf Havre segelt und der mit seinem Schiff, wenn er von Frankreich kommt, jedesmal vornehme Herrschaften nach Hamburg bringt. Diese Herrschaften werden Aristokraten genannt, und viele von ihnen sollen nichts taugen, während andre doch ganz ordentlich erscheinen. Hier in Hamburg sind einige von ihnen geblieben, und ich habe sie schon gesehen. Sie sind zum Teil sehr kostbar gekleidet und verkehren bei unserm regierenden Bürgermeister und bei den Senatoren, was eine große Ehre für sie ist. Aber ich habe gehört, daß einige von ihnen über unsre hochmögenden Herren lachen, weil sie ihnen nicht vornehm genug erscheinen. Wenn dieses wahr sein sollte, dann kann ich's den Franzosen nicht verdenken, daß sie sie wegjagen. Du aber, mein lieber Michel, darfst Dich um diese Dinge nicht bekümmern. Du hast fleißig zu sein, damit wir alle Freude an Dir haben, und ich hoffe, daß Du Dich auch im Lesen und Schreiben übst. Deine Mutter läßt fragen, ob Du noch den Gesang auswendig kannst, den sie Dich gelehrt hat, und auch die zehn Gebote aus dem kleinen Katechismus. Sie läßt Dir sagen, daß sie jeden Abend an Dich denkt und für Dich betet. Auch ich gedenke Deiner und bleibe Dein Vater

Michael Schneidewind.«

 

Auf diesen Brief antwortete Michel folgendermaßen und in etlichen Absätzen, weil er nicht viel Zeit hatte. Nach acht Tagen war der Brief fertig.

 

»Gestrenger Herr Vater!

Es hat mich sehr gefreut, einmal von Ihnen zu hören, und ich lasse der Frau Mutter sagen, daß ich »Befiehl du deine Wege« noch zur Hälfte kann und daß ich neulich mit Herrn Schmidt gesprochen habe, der den Gesang gleichfalls ein wenig vergessen hat. Aber er hat ein Gesangbuch, in dem er darinnen steht, und er und ich wollen ihn zusammen wieder einüben. Und die Gebote weiß ich noch alle, die hier auch nützlich zu wissen sind, weil die Leute viel stehlen und man nicht immer weiß, woher das Geld kommt. Die ehrlichen Leute haben meistens keins, und Tante Male hat viele Kunden, die nicht bezahlen. Wenn aber der König erst abgesetzt ist, dann wird es schon besser werden, weil er zuviel Geld gebraucht hat und seine Frau auch. Sie ist aus Österreich und heißt »Marie Antoinette«, gerade wie unser Schiff, auf dem Klaus Piepgras fährt. Und ich lasse ihm sagen, daß er das Schiff anders nennen soll, weil uns hier der Name nicht mehr gefällt. Nur den kleinen Prinzen mögen wir leiden, und es kann sein, daß er noch einmal König wird. Man kann es aber nicht wissen, und wenn Sie, gestrenger Herr Vater, einmal mit dem Bürgermeister von Hamburg sprechen, dann sagen Sie ihm, daß er sich mit den Aristokraten aus Frankreich nicht einlassen soll, da sie alle nichts taugen, was ich ganz genau weiß, weil ich auch eine kenne, die eine Aristokratin ist, und sie kennt mich nicht mehr und hat mich aus dem Schloß werfen lassen, wo ich gerade so gut hingehöre wie sie. Denn ich arbeite und verdiene mir mein Brot, und sie tut nichts. Und wenn ich mal selbst Geld habe, dann will ich der Frau Mutter ein Kleid schenken, und es soll ganz grün mit bunten Blumen sein, wie die Aristokratinnen die Kleider tragen. Und wenn der Herr Vater erlaubt, dann möchte ich gern Soldat werden und später General. Womit ich verbleibe Ihr gehorsamer Sohn

Michel Schneidewind.«

 

Michel war sehr stolz auf diesen Brief. Erstens, weil er doch das Schreiben gelernt hatte, was sein Vater noch nicht wußte, und dann auch deshalb, weil er fand, daß er ganz wunderhübsche Sachen geschrieben hatte. Nachdem er den Brief zu einem Kaufmann gebracht hatte, der mit der Stadt Hamburg handelte und der durch seine Reisenden die Post besorgen ließ, da hoffte Michel, daß er sehr bald eine Antwort erhalten würde. Sie blieb aber aus, und es war ganz gut, daß er nicht das Kopfschütteln seines Vaters sah, mit dem dieser dies Schreiben las. Und es war noch besser, daß er nicht ahnte, wie bald nach dem Eintreffen seines Briefes der Vater sich aufs Krankenlager legte und nicht wieder davon aufstand. Frau Schneidewind wurde das Schreiben noch viel saurer, als es ihrem Manne jemals geworden war, und es dauerte eine lange Zeit, ehe Michel erfuhr, daß er keinen Vater mehr hatte.

Es war schon wieder Sommer geworden, und in Paris ging es lebhaft her. Die Vögel sangen in den Bäumen, die Rosen dufteten in den Gärten, und wer die Menschen auf der Straße einherwandern und fröhlich plaudern sah, der konnte sich nicht denken, daß in dieser lustigen Stadt jemals etwas Trauriges geschehen könnte. Zwar saßen vorm Schloß und auf den freien Plätzen die Strickerinnen mit ihrer Arbeit, und wenn sie einen Aristokraten sahen, dann drohten sie ihm. Aber die Aristokraten drohten lachend wieder, wenn sie es nicht vorzogen, eilig aus der Stadt zu fliehen, wie es schon viele von den vornehmen Leuten getan hatten.

Aber es paßte nicht jedermann, auf Reisen zu gehen, und der König und die Königin waren ja auch hier, also durften die Höflinge, die es gut mit ihnen meinten, doch nicht davongehen.

Herr Schmidt und Doktor Guillotin sprachen in Tante Males Wirtschaft über diese Dinge. Der Doktor hatte vor einiger Zeit einen Mörder mit dem Schwert hinrichten sehen, und diese Sache war ihm sehr häßlich und grausam erschienen. Er sagte, wer einen Menschen tot gemacht hätte, der müsse natürlich wieder sterben, aber ein zum Tode Verurteilter dürfte nicht gequält werden. Herr Schmidt war ganz seiner Ansicht, und weil er doch sonst nichts zu tun hatte, so arbeitete er für Herrn Guillotin eine kleine Maschine, mit der, wenn sie vergrößert wurde, einem Menschen sehr rasch der Kopf abgeschlagen werden konnte. Das kleine Ding wurde in der Wirtschaft probiert, und es schlug mit einem scharfen Fallbeil mehreren Sperlingen so glatt die Köpfe ab, daß die Zuschauer sehr eingenommen von der neuen Erfindung waren.

.

Doktor Guillotin war am zufriedensten. Er ließ sich das Modell gut einwickeln und ging damit zu einem der Abgeordneten, den er kannte. In Frankreich nämlich hatte jede Provinz und jede Stadt ihren Vertreter gesandt, die zusammen in Paris über das Wohl des Landes beraten sollten, und diese Abgeordneten hatten mehr zu sagen als der König.

Doktor Guillotins Kopfabschneidemaschine wurde wirklich an Stelle des alten Richtschwertes angenommen und nach ihm Guillotine genannt.

Herr Schmidt war ein wenig traurig, daß von ihm so gar nicht die Rede war, wo er doch die Mühe mit der Maschine gehabt hatte, aber im Leben geht es manchmal so, daß der wirkliche Erfinder nicht zu seinem Recht kommt, und der gute Herr Schmidt mußte sich schon darein finden, nicht genannt und auch nicht belohnt zu werden.

Im Laufe des Sommers hieß er übrigens nicht mehr Herr Schmidt, sondern Bürger Schmidt, und einen Doktor Guillotin gab es nicht mehr, sondern nur einen Bürger diesen Namens.

Die Abgeordneten schafften alle Titel ab, und niemand durfte mehr Herr oder Frau angeredet werden, sondern alles hieß Bürger oder Bürgerin.

Für Michel war dieses Gesetz einerlei. Jedermann nannte ihn doch nur Michel, und Tante Male hieß immer Tante Male. Aber die Herzöge und Grafen, alle die, die auf Würden und Titel Wert legten, seufzten sehr. Sie waren einmal an ihre Titel gewöhnt, und sie glaubten auch mehr zu sein als die andern Menschenkinder. Da packten denn wieder viele vornehme Herrschaften ihre Koffer und suchten so schnell wie möglich Frankreich zu verlassen. Jeden Tag sah man einen hochgepackten Reisewagen durch die Straßen fahren, und das Volk lief nebenher und rief, daß die Aristokraten im Lande bleiben und nicht abreisen dürften. Noch aber schimpften sie nur, und die vornehmen Leute taten, was sie wollten.

Im »Gebratnen Kaninchen« wurde viel über die Fliehenden gesprochen und über sie gescholten. Auch Michel schalt, denn er war jetzt groß genug, um mitreden zu können; und er hatte schon gemerkt, daß die Menschen am beliebtesten waren, die am meisten raisonnierten.

»Diese elenden Aristokraten!« sagte er. »Wenn ich einen von ihnen auf der Flucht erwische, dem springe ich auf den Wagen und halte ihn zurück. Er soll hier bleiben!«

»Was sollen die Aristokraten denn hier?« fragte ein Gast, der den Jungen necken wollte.

Michel warf sich in die Brust.

»Sie sollen das Vaterland gegen den Feind verteidigen!«

Ging doch jetzt schon das Gerücht, daß das Deutsche Reich einen Krieg gegen Frankreich plane, weil der König nichts mehr zu sagen hatte.

Michel hatte davon die Glocken läuten hören, und deshalb gab er diese Antwort, nach der alle Gäste in lauten Beifall ausbrachen und Tante Male beglückwünschten, einen so braven Neffen zu haben.

Sie sagte nicht viel zu diesem Lob; sie war in dieser Zeit still geworden, was vielleicht von ihrer schlechten Gesundheit kam, aber als sie mit Michel allein war, zog sie ihn an den Ohren.

»Ich will nicht, daß du so böse Reden führst!« sagte sie. »Laß die Aristokraten fliehen und bekümmre dich nicht um sie. Es mag manchem traurig genug ums Herz sein, die Heimat verlassen zu müssen.«

»Tante, du bist am Ende selbst eine Aristokratin!« rief der Junge ärgerlich, und Tante Male zuckte die Achseln.

»Wie dumm du bist, Michel! Aber das kommt davon, wenn Kinder über Dinge reden, die sie noch nicht verstehen! Da lies lieber diesen Brief, den ich heute von deiner Mutter erhalten habe!

Michel las, daß sein Vater nach langer, schwerer Krankheit gestorben war, und daß seine Mutter nicht recht wußte, wie sie sich und ihre zwei Töchter durchbringen sollte.

Der arme Junge dachte nicht mehr an die Aristokraten und an seine Redensarten; er weinte bitterlich und konnte sich gar nicht denken, daß er seinen Vater niemals mehr sehen würde. Und seine arme Mutter war ganz allein, ohne Hilfe und Unterstützung!

»Tante Male, darf ich nicht nach Hamburg reisen und meiner Mutter helfen?« fragte er seine Tante am Abend, nachdem er die schreckliche Nachricht erhalten hatte. In der Wirtschaft war es gerade still, und die Tante saß über ihren Rechnungen.

Sie schob ihr Buch zurück und sah ihn ernst an.

»Wie alt bist du, Michel?«

»Ich bin gerade zwölf Jahre alt geworden!«

»Und glaubst du, daß du in Hamburg so viel verdienen würdest, daß du deiner Mutter helfen könntest?«

Michel dachte eine Weile nach und schüttelte dann den Kopf.

»Ich weiß es nicht, Tante Male, aber ich möchte gern nach Haus!«

»Du mußt aber hier bleiben, mein Junge. Du weißt ja, wie schlimm die Zeiten hier sind, und vielleicht kommen noch schlimmre. Am liebsten verkaufte ich mein Geschäft und ginge auch nach Deutschland, es wird sich aber kein Käufer finden, und wenn ich etwas verdienen und auch für deine Mutter sorgen will, dann muß ich die Wirtschaft weiter führen, und du mußt mir dabei helfen. Auf fremde Leute ist heutzutage kein Verlaß.«

»Wirst du meiner Mutter auch genug geben, daß sie und Anne und Martha nicht verhungern?« fragte Michel schluchzend, und die Tante zeigte ihm ein Papier, auf das sie eine ziemlich hohe Zahl geschrieben hatte.

»Ich verspreche dir, jedes halbe Jahr diese Summe nach Hamburg zu schicken, wenn du bei mir bleibst und mir hilfst. Gehst du aber weg, dann kann ich nicht mehr so viel verdienen, und dann müssen deine Mutter und Schwestern Mangel leiden.«

Da konnte Michel sich nur die Tränen aus den Augen wischen und seiner Tante versprechen, bleiben zu wollen. Ein kleiner Trost war ihm dabei, daß er wirklich für seine Familie arbeitete, selbst, wenn er nicht in Hamburg war. Und dann freute er sich gleichfalls, daß seine Tante Wert auf ihn legte, und er nahm sich vor, immer fleißiger zu werden. Aber schwer war's doch, so weit fort zu sein und nicht nach Hause reisen zu dürfen, und die Gedanken an seine Mutter und Schwestern kehrten so oft wieder, daß er ganz vergaß, an das zu denken, was in Paris geschah. Eigentlich wollte er von dem Straßenlärm und dem Schelten auf den König und die Aristokraten nichts mehr wissen. Ihm war alles ziemlich gleichgültig geworden, und als Bürger Guillotin ihn einlud, mit ihm nach dem Richtplatz zu kommen, wo ein Mann mit der neuen Guillotine hingerichtet werden sollte, da erklärte er, keine Zeit zu diesem Schauspiel zu haben. Herr Schmidt, der seine Weigerung hörte, klopfte ihn auf die Schulter.

»Du bist ein vernünftiger Junge, Michel! Ich mag auch nicht sehen, wie ein armer Mensch geköpft wird!«

»Es tut aber gar nicht weh!« versicherte der Doktor, worauf die andern Gäste in der Wirtschaft laut lachten.

»Probiere es doch selbst, Bürger Guillotin!«

Dazu aber hatte der Doktor durchaus keine Lust.


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