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Es war ein häßlicher Oktobermorgen, als die Fischfrau, die in der nahen Halle ihre Fische verkaufte, zu Tante Male kam. Sie hieß Mutter Tilda und war eine große Frau mit einem harten Gesicht.
»Höre, Bürgerin,« sagte sie zu Tante Male, »heute mußt du mit mir und andern Frauen nach Versailles zum König. Es gibt fast kein Brot mehr in Paris, und meine Fische sind schon lange ausgeblieben. Seit drei Tagen habe ich nichts zu essen gekriegt, und so wie mir, so geht's wohl tausend Frauen mit ihren Kindern in Paris. Wir wollen jetzt mal zu Ludwig hin und wollen ihn fragen, was er sich eigentlich bei der Geschichte denkt. Wenn er wahrhaftig das Mehl nach England verkauft, dann wollen wir ihm den Hals umdrehen und seiner Frau gleichfalls!«
»Aber Tilda!« Tante Male machte ein erschrocknes Gesicht, »so spricht man doch nicht vom König!«
»Warum nicht? Den Mann haben wir zu lange mit Sammethandschuhen angefaßt, jetzt wollen wir ihm einmal zeigen, daß wir mit ihm unzufrieden sind. Und du sollst es ihm auch sagen!«
»Fällt mir nicht ein, Mutter Tilda! Ich muß auf mein Geschäft acht geben und kann keinen großen Spaziergang machen.«
»Du willst nicht mit?« Die Augen der Fischfrau begannen zu funkeln. »Du bist also keine gute Patriotin, und dann kannst du erleben, daß von deinem elenden Hause kein Stein auf dem andern bleibt. Gestern ist eine Frau in die Seine geworfen worden, weil sie nicht mit auf die Königin schimpfen wollte! Ich rate dir, Male, komm mit nach Versailles!«
Tante Male wurde ein wenig blaß, aber sie schüttelte doch den Kopf, gerade wie Michel in den Laden gelaufen kam, um den Auftrag eines Gastes auszurichten. Bei seinem Anblick wurde das Gesicht Mutter Tildas wieder freundlicher.
»Ist das nicht der junge Mensch, der uns bei der Erstürmung der Bastille etwas vorgetrommelt hat? Ich erkenne dich wieder, mein Sohn, an deiner großen roten Narbe! Komm her, gib mir einen Kuß! Deine Tante ist ein furchtsames altes Weib, du aber hast Grütze im Kopf! Komm du mit nach Versailles und sprich mal mit dem König! Dann wollen wir die alte Male hinter dem Ofen hocken lassen!«
Michels Augen strahlten. Natürlich wollte er nach Versailles und mit dem König sprechen, und Mutter Tilda küßte ihn noch einmal, was ihm nicht besonders gefiel, aber mit in den Kauf genommen werden mußte. Und weil Tante Male wohl einsah, daß sie klüger tat, die Fischfrau nicht zu erzürnen, so ließ sie Michel ziehen, nachdem sie ihm noch ein Stück Brot in das Kamisol gesteckt und ihm zugeflüstert hatte, nicht allzu übermütig zu werden. Wie sie ihn mit so ernsthaften Augen ansah, mußte Michel an seine Mutter denken, die auch so ernsthafte Augen machen konnte und die ihm noch zum Abschied zugeflüstert hatte: Tue recht und scheue niemand! Ja, er wollte recht tun und vor nichts Furcht haben. Und wie er bald in einem großen Menschenhaufen ging, der sich beständig vergrößerte, da hörte er in Gedanken den alten, guten Pastoren in der Hamburger Michaeliskirche über die Worte predigen: »Kindlein, liebet euch untereinander!«
Seine Mutter hatte gesagt, so schön hätte der Pastor noch gar nicht gesprochen, und niemals im Leben sollte man vergessen, was er gesagt hätte.
Michel hatte aber dennoch die Predigt vergessen, und es war komisch, daß ihm gerade heute der Text einfiel.
Von Menschenliebe war nämlich in diesem großen Zuge nichts zu verspüren, der jetzt von Paris nach Versailles wanderte. Zuerst waren es vielleicht einige hundert Menschen gewesen, die dorthin gehen wollten; bald wurden es tausend und dann zehntausend und mehr. Zum großen Teile waren es Frauen und Mädchen, allmählich aber kamen auch die Männer dazu, und die meisten sahen aus, als ob man ihnen nicht im Dunkeln begegnen möchte. Sie trugen wieder Piken und Musketen, einige schwangen große Säbel, und andre steckten sich die Taschen voll von Steinen, damit sie die Fenster einwerfen konnten. Alle heulten und schrien durcheinander und wollten zum König und zur Königin. Einige Frauen trugen weiße Kleider und hatten sich für diesen Besuch geputzt, andre waren in Lumpen gehüllt und schrien mit heiserer Stimme nach Brot.
Michel aber mußte wieder trommeln, daß ihn seine Arme schmerzten. Er war nicht der einzige Trommler in dem großen Haufen: wohl ein Dutzend andrer Knaben hatte man gleichfalls zu diesem Amt erwählt, und wenn einige von ihnen nicht mehr trommeln konnten, dann begannen die andern von neuem.
Zuerst war Mutter Tilda sehr freundlich gegen Michel gewesen und hatte ihn ihren Freundinnen als den braven Jungen gezeigt, der geholfen hatte, die Bastille zu erstürmen. Nachher aber fand sie so viele Freunde und Freundinnen, mit denen sie ging und laute Lieder sang, daß sie Michel ganz vergaß. Da lief er denn allein in der Menschenmenge, hatte bald müde Füße und müde Arme und ärgerte sich, mitgelaufen zu sein. Es war ein tüchtiger Marsch zu Fuß nach Versailles. Die Wege waren von Regen durchweicht, und dazu regnete es manchmal ganz fein. Bald waren die weißen Kleider der Frauen und Mädchen ebenso schmutzig wie die Lumpen der andern.
Wohl fünf Stunden mochte man marschiert sein, als es hieß, daß nun bald Versailles käme. Alle waren müde und hungrig, und als Michel verstohlen sein Stück Brot essen wollte, wurde es ihm weggenommen. Ein dürrer Mann nahm es ihm ab, stopfte es sich gleich in den Mund und sagte, als Michel zornig aufschrie:
»Wenn du nicht still bist, dann haue ich dir den Kopf ab! Hier muß jedermann von seinem Reichtum abgeben!«
Michel wollte erwidern, daß er überhaupt gar nichts von seinem Eigentum bekommen hätte, aber der dürre Mann war schon verschwunden, und andre standen neben Michel, schwangen ihre Säbel und riefen, daß sie mit Ludwig sprechen wollten. Michel wurde so hin und her gedrängt, daß er manchmal glaubte, sein Ende wäre nahe. Dann aber faßte ihn eine starke Hand an den Arm und hob ihn ein wenig aus dem Gedränge.
»Du bist auch hier, Michel? Da freue ich mich aber sehr! Was sagst du denn zu der ganzen Geschichte?«
Es war Peter, der den armen Jungen anredete, und dieser freute sich nicht wenig, ein bekanntes Gesicht zu sehen und noch dazu Deutsch sprechen zu hören.
»Ich wünschte, daß ich zu Haus geblieben wäre!« sagte er etwas kläglich, während Peter ihn noch weiter aus dem Tumult führte.
Bei Michels Worten lachte er.
»Meiner Treu, ich habe mir die Geschichte auch anders gedacht! Denke dir, Michel, niemand will mich zum General haben. Obgleich ich mir einen feinen roten Rock gekauft habe, in dem ich großartig aussehe. Er hat dem alten General gehört, den die Leute neulich bei dem Bastillensturm einen Kopf kürzer gemacht haben, und da er ein Dummkopf gewesen sein muß, so könnte ich die Sache besser als er machen. Aber in der Nationalgarde wollen sie mich nur als gemeinen Soldaten nehmen, und das gefällt mir nicht. Dann kann ich nur wieder nach Hause zu meiner Frau und den Kindern gehen: da habe ich es dort noch besser! Aber vielleicht kommen bald andere Zeiten; ich habe nun einmal das Zeug zum General in mir, und dann werde ich es auch sicherlich werden!«
Im Sprechen war Peter mit Michel in eine kleine, dunkle Nebengasse gegangen, und bald lag das Getose der vielen Menschen hinter ihnen, und beide landeten in der kleinen Herberge, in der Peter mit seinem Planwagen einzukehren pflegte.
Der Wirt stand vor der Tür und machte ein zorniges Gesicht.
»Gehört ihr auch zu der Pariser Bande, die nichts Bessres zu tun hat, als Spektakel zu machen? Was wollt ihr bei uns in Versailles?«
»Wir wollen den König in die Stadt holen!« entgegnete Peter, und der Wirt, der den Fuhrmann inzwischen erkannt hatte, lachte zornig.
»Höre, Peter, dich hätte ich auch für verständiger gehalten! Du treibst dich hier mit dem verrückten Volk umher, und deine Frau und Kinder sitzen allein in Havre!«
»Ich will General werden!« erwiderte Peter so ernsthaft, daß der Wirt ihn nur kopfschüttelnd betrachtete.
Er hatte auch keine Zeit, viel mehr zu sagen, denn es kamen jetzt mehr Leute aus dem Zuge, die hier Speis und Trank suchten und dabei berichteten, wie es vor dem Königsschloß aussähe. Die Gittertüren wären fest geschlossen, und niemand von der königlichen Familie ließe sich sehen.
»Warum sollen sie sich auch gleich sehen lassen?« brummte Peter, der sehr schlechter Laune über den Empfang des Wirtes geworden war. »Ich lasse mich auch nicht gleich sehen, wenn ein xbeliebiger Kerl bei mir ans Fenster klopft.«
Der Mann, der vorhin gesprochen hatte, stand jetzt auf, stellte sich vor Peter hin und zog eine Pistole aus der Tasche.
»Nennst du mich einen xbeliebigen Kerl? Ich bin ein Schlachter aus Paris, und ich habe schon manchem Ochsen den Kopf abgeschlagen. Wenn du etwas von mir willst, so kannst du eine blaue Bohne in den Leib kriegen!«
Er drückte seine Pistole auf Peter ab, der nur ein wenig den Kopf zur Seite drehte und dann seinen Angreifer mit beiden Armen um den Leib faßte, ihn hoch hob und mit solcher Wucht auf die Erde schmetterte, daß er bewußtlos liegen blieb.
Der Streit und der Schuß hatten eine ganze Menge von Leuten in die Wirtsstube gebracht. Jetzt, da Peter sich ruhig wieder hinsetzte, brachen die Zuschauer in Rufe der Bewunderung aus.
»Wie stark du bist! Dem hast du es ordentlich gegeben! Wie heißt du, und was bist du?«
Peter trank einen Schluck Wein, ehe er antwortete.
»Ich heiße Peter, und ich bin eigentlich ein General. Aber die abscheulichen Menschen wollen mich nicht so nennen!«
Die Menge drängte sich immer näher um Peter.
»Natürlich sollst du General sein, du verstehst deine Sache! Komm nur morgen mit ins Schloß, wenn wir mit dem König und der Königin ein Wort reden wollen; dann kannst du uns anführen!«
Peter nickte zufrieden.
»Nun natürlich, Kinder, will ich euch führen! Und nun trinkt nur alle auf meine Gesundheit!«
Das taten die Leute denn auch, und Michel hörte sie noch lange singen und schreien. Er selbst war nämlich so müde von dem langen Wege, daß er keine Lust verspürte, noch einmal zum Schloß zu laufen, vor dem sich viele Menschen aufstellten und Spektakel machten. Lieber kroch er in den Pferdestall, wickelte sich in eine Decke und schlief gleich ein, obgleich es noch nicht sechs Uhr nachmittags war.