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Heute durfte Dorothees Zimmer zum ersten Male von ihren Freundinnen besichtigt werden. Das Zimmer, das Dorothees Mutter vorsichtig und liebevoll für ihre eben erwachsene Tochter zusammengestellt hatte. Alte Mahagonimöbel, Biedermeier und ein wenig Rokoko; weiße Vorhänge, und Bilder in einfachen Rahmen: hier Blücher, der Held der Befreiungskriege, dort Napoleon, und neben ihm Marie Antoinette.
Hübsch ist das Zimmer geworden, und dabei heimlich. Wer nachdenklich aufgelegt ist, der möchte sich in den alten hochbeinigen Stuhl setzen, der neben der kleinen Kommode steht, und die kleine Schäferin aus Porzellan betrachten, die lächelnd auf der blanken Fläche steht. Neben ihr steht ein abgegriffenes Metallkästchen und an der Wand darüber hängt eine Laute. Ein feines kleines Ding mit blauem Band. Das Band ist zerschlissen vor Alter und hat einige dunkle Flecke – eigentlich sollte man es wegtun und durch ein neues ersetzen.
So meint das junge Mädchen, das einen Augenblick vor der Schäferin und vor der Laute gestanden hat. Wenn Sachen zu alt sind, dann müssen sie eben weg.
Aber dann denkt sie gleich an anderes, und ihre Genossinnen gleichfalls. Wird draußen die Sonne nicht wundervoll rotgolden untergehen, und beginnen nicht die Rosen an den Hecken nach mehr zu duften als in der Mittagsglut? Und wartet nicht draußen die Fröhlichkeit, der Genuß auf sie? Noch mehr Jugend ist gekommen, und in den Rosenbüschen stimmt jemand eine Geige.
Die alte Zeit ist interessant, und die alten Sachen in Dorothees Zimmer sind angenehm zu haben, aber die Vergangenheit spricht noch nicht zu der Jugend – die will die Gegenwart. Und in den Rosenbüschen flüstert die zweite Geige.
Dorothees Zimmer steht leer. Die Sonne ist untergegangen, in der Ferne lachen die Menschen, und dazwischen schwirrt ein Geigenton. Hier aber ist alles still – schweigend stehen die alten Geräte, und als der Mond durch die offenen Fenster blickt, verzieht er sein breites Gesicht ein wenig. Denn er kennt alle die Dinge, die hier sein aufgereiht und aufgefrischt stehen.
»Ihr seid aber fein geworden!« sagt er. »Dich sah ich zuletzt bei der alten Frau im Siechenhaus und dich beim Lotsen am Elbstrand. Verändert habt ihr euch, aber recht zum Vorteil, das muß ich sagen.«
Sein Licht flimmert in den blanken Flächen, in den geputzten Beschlägen, und die Angeredeten stehen still und freuen sich, daß der Mond sie erkennt. Denn auch Wesen, die wir Menschen leblos nennen, wollen nicht vergessen sein. Die kleine Kommode zittert leise auf ihren vier Beinen: sie möchte gern antworten, aber der Mondstrahl ist schon weiter geglitten. Er umfaßt die kleine Schäferin aus Porzellan, und sie sieht ihn mit ihren leeren Augen an. »Bist du auch da?« sagt der Mond. »Es ist wohl lange her, daß ich dich nicht sah. In welcher Lade hast denn du so lange geschlafen? Als ich dich zuerst kennen lernte, da standest du in einem hohen Raum mit seidenen Vorhängen, und neben dir eine Menge ähnlicher Figuren. Das war nicht hier im deutschen Land. Es war damals, als das Volk der Franzosen so wild wurde und so viele seiner eigenen Landsleute zum Tode verurteilte. Es ist eine Reihe von Jahren seitdem vergangen; aber das Volk der Franzosen hat sich nicht gerade stark verändert.«
Die Schäferin reckt sich und möchte antworten, aber der Mondstrahl wandert weiter.
»Laß nur!« sagt er dabei, »du kommst noch an die Reihe. Ich unterhalte mich gern von alten Zeiten. Aber erst einmal« – er streichelt die alte Dose, die neben der Schäferin steht, legt sich dann aber auf die Laute, die an der Wand hängt. Irgendein Windhauch muß sie berührt haben – sie klingt ganz leise, und es geht wie ein Raunen durch das mondbeglänzte Zimmer.
»Sprich nur weiter!« sagt der Mond. »Du bist lange stumm gewesen, sehr lange, und vielleicht hast du deine Stimme ganz verloren. Damals, als ich sie hörte, war sie sehr lieblich. Ich habe es nicht vergessen, weil ich überhaupt nichts vergesse; aber ich wundere mich doch, dich hier zu finden. Und du hast noch das Band? Dasselbe blaue? Wenn man denkt, daß es weit über hundert Jahre alt ist, dann wundert man sich, daß es so lange hielt. Aber es war das beste Band aus der Seidenwirkerei zu Lyon, die kleine Marquise wollte nichts anderes für ihre Laute haben. Sie war damals ein verwöhntes kleines Mädchen: wie die meisten ihres Standes. Es ging ihr zu gut – gerade wie es ihren Standesgenossen zu gut ging: dafür mußten sie nachher alle leiden.«
Wieder klingt die Laute und das blaue Band raschelt im Zugwind. Der Mond versteht sie.
»Du meinst, die kleine Marquise wäre nicht allzusehr verwöhnt gewesen? Ich gebe zu, daß sie ein gutes Herz hatte, auch für die Armen und die Hungrigen. Denn damals gab es in der großen Stadt Paris eine Unzahl von Armen und von Hungrigen. Nur, daß die vornehmen und reichen Menschen davon nichts wissen wollten und es auch durchsetzten, daß niemand mit ihnen davon redete. Sie wollten ihrem Vergnügen leben, schöne Kleider tragen und sich vom Morgen bis Abend belustigen. Die schöne Königin ging ihnen mit ihrem Verlangen nach Zerstreuung voran. Damals, als sie von Österreich nach Frankreich geschickt wurde und noch ein wirkliches Kind war, das sich nicht als Kronprinzessin für ein fremdes Land eignete, damals habe ich versucht, mit ihrer kaiserlichen Mutter, der Maria Theresia, zu reden. Denn ich spreche genau so offen mit Kaiserinnen wie mit Holzfällern! vor mir sind alle Menschen gleich. Also, wie damals die Kaiserin im Garten zu Schönbrunn allein wanderte und ernsthaft zu mir herauf sah, denn ich stand voll am Himmel, wie heute abend, und die Majestäten sehen eben so nachdenklich in mein Gesicht als die einfachen Leute. Zu der Zeit also versuchte ich, der Kaiserin einen Gedanken ins Herz zu geben, sie möge ihre junge Tochter noch ein wenig bei sich behalten und sie nicht an den französischen Hof schicken. Ich meine, daß mich die gute Frau verstanden hat. So sehr ernsthaft schaute sie mich an und seufzte dabei. Aber dann hat sie doch gehandelt, was ihre Staatsmänner ihr vorredeten. Staatsmänner sind oft eine böse Einrichtung, weil ihnen der gesunde Menschenverstand fehlt. Nun, dann ist das Schicksal seinen Lauf gegangen und die junge lebenslustige Königin von Frankreich hat sich in die weißhaarige Witwe Capet verwandelt, die ich noch sah, als man sie in den kleinen elenden Sarg legte, der dann in die große Kalkgrube versenkt wurde. Ach ja, ich habe viel gesehen und viel erlebt: aber ich vergesse niemanden, und auch nicht die kleine Marquise mit der Laute und ihrem blauen Bande. Ich weiß noch, wie sie im Tuilerienschloß vor der Königin sang, und wie auch die Laute sang. Es war lieblich anzuanzuhören, und die schöne Königin vergaß ihre Sorgen und begann leise mitzusingen. Denn sie hatte schon viele Sorgen, und ich habe sie oft weinen sehen. Die sanfte Musik tat ihrem Herzen wohl, und ihre Kinder baten, zuhören zu dürfen. Der Kronprinz und die Prinzessin Maria Theresia. Du hast dich auch damals ausgezeichnet, kleine Laute, und ich muß dich noch heute deswegen loben. Denn es gibt nichts Besseres, als betrübte und verzagte Menschen zu trösten. Und die Musik versteht es am besten. Als die vornehmen Herrschaften in den Gefängnissen von Paris untergebracht waren, da habe ich oft auf sie hinabgesehen und dieselbe Erfahrung gemacht. Mancher hat sein Leid vergessen, wenn er singen und spielen hörte. Und mancher, der am Abend noch singen durfte, ist ganz gefaßt den anderen Morgen auf den Karren gestiegen, der ihn zur Guillotine brachte.«