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Der Mond hält inne. Ein klagender Ton schwirrt durch die Stille und es ist gerade, als schluchzt jemand leise.
Da beginnt auch der Mondstrahl ein wenig zu zittern.
»Du mußt nicht so traurig sein, liebe Laute, es ist ja alles vergangen. Deine kleine Marquise schläft lange den tiefen Schlaf, den die Lebenden so fürchten, weil sie ihn nicht kennen. Und er ist doch ein Ausruhen nach vielem Leide. Ich weiß, daß deine kleine Marquise viele Schritte hat gehen müssen, ehe sie in die ewige Ruhe eingegangen ist, aber das müssen auch andere Menschenkinder, und darüber darfst du nicht klagen.«
Es waren sehr viele Schritte,« erwiderte die Laute, und alle in Dorothees Zimmer horchten auf die sanfte, klingende Stimme. »Sehr viele Schritte, lieber Mond, und wenn du auch vieles siehst, so kannst du nicht alles erblicken. Und von uns hast du viele Wochen lang nichts sehen können, weil, wo wir waren, deine Strahlen nicht hinreichten. Du schienest auch nicht, als wir aus Paris, dieser Höllenstadt, flohen. Die alte Gemüsefrau, die jeden Morgen mit ihrem Kohl in die Stadt fahren durfte, weil die Pariser doch nicht verhungern wollten, die hat uns unter ihren leeren Säcken mitgenommen. Sie war eine gute Frau, und nicht geldgieriger, als sie alle sind. Sie wußte, daß die kleine Marquise ins Gefängnis und bald auf die Guillotine sollte, und sie empfand Mitleid. Hatte sie doch selbst eine Tochter von zwanzig Jahren, und sie würde sie ungern dem Henkerbeil ausgeliefert haben. Wenn sie auch meinte, daß den vornehmen Leuten ein Aderlaß nicht schadete. Im ganzen hatte sie vielleicht recht: ich habe manches gesehen und gehört, das mir sehr schmerzlich gewesen ist, aber meine kleine Marquise mußte gerettet werden, und die gute Mutter Grosset half uns nach besten Kräften. Wie alles eingerichtet wurde, weiß ich nicht, das ist nicht in meiner Gegenwart besprochen worden; wir saßen in tiefschwarzer Nacht unter leeren Kohlsäcken und sind von einem Wagen auf den andern gegangen. Bis wir in einem Dorfe Nordfrankreichs endeten, in dessen Mitte eine mächtige Kirche stand. Unter dieser Kirche lagen die unterirdischen Höhlen, in denen sich eine große Gesellschaft von Aristokraten versteckt hielt, bis sie Gelegenheit fanden, über die Grenze zu flüchten.«
»Und dorthin ist die kleine Marquise ganz allein gekommen?« Der Mond ist erstaunt, und die Laute singt leise weiter.
»Ganz allein, guter Mond. Wer sollte auch mitgehen? Die Eltern der Marquise, der Herzog und die Frau Herzogin mußten ihren Kopf verlieren, sie hätten fliehen sollen, als es noch Zeit war; aber sie konnten sich nicht denken, daß sie in Gefahr wären. Sie waren immer gut und verständig gegen ihre Leute gewesen, sowohl in Paris als auf dem Lande. Aber ihr Name war eben zu vornehm: ihr eigner Koch gab sie an, und ihre Tochter blieb allein. Ich glaube, sie hätte nichts dagegen gehabt, auch zum Richtplatz geführt zu werden, aber es gab einen alten frommen Abbé, der sich ihrer annahm. Er mag die Sache mit der Gemüsefrau verabredet haben; ich weiß nur, daß wir jetzt unter der Erde lebten und daß sich dort eine große Anzahl von Edelleuten und Frauen versammelt hatten. Schade, daß du diese unterirdischen Räume niemals sehen wirst, lieber Mond! Aber dorthin kannst du wirklich nicht scheinen, ebenso, wie deine große Mutter, die Sonne, nur selten einen kleinen Strahl unter die Erde senden konnte. Nämlich, wenn wir eine Falltür öffneten, die mitten auf einer Wiese lag, und die den Kellern frische Luft brachte. Sie war so verborgen und mit Gras bewachsen, daß niemand, der ihre Lage nicht kannte, sie finden konnte. Einige der Edelleute haben sie an Tagen, wenn die Wiese leer war, geöffnet, und dann konnte die Sonne, wenn sie am Himmel stand, bis tief nach unten scheinen. Dann sind die Flüchtlinge wohl die steilen Stufen nach oben hinaufgegangen und haben sich in die Sonne gesetzt. Besonders zwei alte Herzoginnen, die mit ihren Dienerinnen hierher verschlagen waren. Die eine war achtzig, die andre siebzig Jahre alt. Es war ihnen immer sehr gut gegangen: von Reichtum umgeben hatten sie auf ihren vornehmen Landsitzen gelebt, und im Winter in der Nähe des Hofes in Paris. Nun saßen sie unter der Erde, hatten einen Strohsack zum Lager, und wenig, und sonderbares Essen. Aber sie haben sich beide nicht beklagt und haben viel in ihrem Gebetbuch gelesen. Besonders wenn sie in der Sonne sitzen durften. Aber wir hatten unten Kerzen, viele kleine Räume und eine große Küche. Es gab verschiedene Diener und Dienerinnen, die ihre Herrschaft auch hierher begleiteten. Die sind dann als Bauern verkleidet ausgegangen und haben Eßwaren eingekauft. Wahrscheinlich werden sie oben im Dorf Freunde gehabt haben, die ihnen beistanden: davon habe ich wohl reden hören. Aber es kamen auch mehrmals Zeiten, wo die Jakobiner aus Paris und den Hauptstädten kamen, das Dorf durchzogen und nach Aristokraten suchten, damit sie sie töten, oder mit nach Paris ins Gefängnis führen könnten. Das war dann immer eine häßliche Zeit. Ich war die einzige Laute dort unten und wurde viel gespielt. Da war Graf Gaston, der oft zu mir sang, aber wenn oben die Sturmglocke ging und wir die Sanskulotten schreien und toben hörten, dann war alles still. Es war nicht zu befürchten, daß die Sanskulotten den Eingang unter dem Glockenturm der Kirche entdecken würden, aber besser war es doch, sich ruhig zu verhalten.«
»Wie lange bist du dort gewesen?« fragte der Mond.
Die Laute schwieg einen Augenblick. »Ganz genau kann ich es nicht sagen. Es war im Frühjahr, als wir in die großen Keller einzogen; als wir weiterreisen wollten, war es eine warme Sommernacht. Du standest nicht am Himmel, lieber Mond – du weißt, daß dein Licht manchmal zum Verräter wird. Meine kleine Marquise saß auf einem Wagen, neben ihr der Graf und die jüngere der zwei Herzoginnen. Die Marquise hielt mich auf dem Schoß, und manchmal strich sie über meine Saiten. Sie hatte mich manche Woche nicht angerührt, weil ihr der Sinn nicht nach Musik stand: aber sie hörte doch zu, wenn Graf Gaston mich spielte, und heute wußte ich, daß sie mich wieder spielen würde. Sie und Graf Gaston hatten sich dort unter der Erde gefunden; sobald sie Frankreich verlassen hatten, wollten sie sich vermählen. Die alte Herzogin hatte den besten Platz im Wagen und schlief ganz fest, die zwei andern saßen Hand in Hand und küßten sich. Es war warm und still; nur die Sterne leuchteten. Auf dem Bock saß ein Bauernbursche, der manchmal vor sich hinpfiff, dabei aber auf seine Pferde acht gab, daß sie liefen. Denn wir waren noch ein weites Stück von der Grenze entfernt. Ich hatte große Angst. Wenn nun die Jakobiner kamen und uns anhielten, was dann?«
Die Laute hielt inne, und wieder ging es wie ein Seufzer durchs Gemach. »Dann, gegen Morgen, sind die Soldaten der Republik gekommen und haben den Wagen angehalten. Sie haben den Grafen Gaston aus dem Wagen geholt und die kleine Marquise. Die alte Herzogin ließen sie weiterfahren, und mich auch. Da sind wir denn zusammen nach Deutschland gekommen, und endlich bis hier.«
»Und die kleine Marquise?«
»Ich habe nachher von ihr gehört!« erwiderte die Laute traurig. »Sie hat lange, lange im Gefängnis gesessen und ist erst wieder herausgekommen, als sie eine ernsthafte Frau war. Dann ist sie eine große Dame am Hofe des Kaisers Napoleon geworden, und man hat sie die stolze Marquise genannt. Der Kaiser ist immer sehr artig gegen sie gewesen und hat ihr manche Aufmerksamkeit erwiesen. Einmal hat er ihr eine Laute geschenkt, weil er gehört hatte, daß sie eine sehr schöne in der bösen Zeit verloren habe. Aber sie hat nie auf ihr gespielt. Sie machte sich nichts mehr aus Musik, seitdem Graf Gaston zur Guillotine fahren mußte. Auf dem Armensünderkarren. Die alte Herzogin hat öfters davon gesprochen. Sie hat mich zuerst verkaufen wollen, weil sie arm war, und oft sehr hungrig. Aber die Leute wollten nichts für mich geben. Mein blaues Band hatte die dunklen Flecken, und einige Saiten von mir waren auf der weiten Reise gerissen. Es gab auch noch mehr französische Lauten in der Stadt. Und die Herzogin freute sich im stillen, wenn niemand etwas von mir wissen wollte. Weil ich doch die dunklen Flecken im Bande hatte und weil diese Flecken vom Blut des guten Königs herrührten: Nämlich, als er enthauptet wurde und meine kleine Marquise, die unerkannt in der Volksmenge stand, mit vielen andern herbeieilte, um das Blut des heiligen Märtyrers in ihrem Taschentuch aufzufangen. Da sie das Lautenband um den Hals trug, erhielt dieses noch mehr Flecke, als das kleine Tuch, das ihr jemand gleich wieder entriß. Denn der arme König hatte viele Freunde in der Zuschauermenge, die seinen Richtplatz umgab – sie hatten nur nicht den Mut, hervorzutreten. Die Franzosen sind immer sonderbar gewesen. Sie lassen sich vom Schrecken regieren.«
Die Laute schwieg, und der Mond sagte eine Weile nichts. Er warf seine weißen Strahlen auf einen Stuhl, der gerade unter der Laute stand, und der nun zu knistern begann. Er wartete nicht die Erlaubnis des Mondes ab, sondern begann ohne weiteres zu reden.