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Um die Weihnachtszeit

Erwachsene Leute sprechen oft lange darüber, wie viel sie um die Weihnachtszeit zu tun haben, und bedenken gar nicht, daß die Kinder noch sehr viel mehr Arbeit und Nachdenken zum Feste nötig haben als die Großen. Sie haben sich erstens so viel zu wünschen und dann auch noch darüber nachzugrübeln, wozu sie alles, was sie haben möchten, nachher verwenden können.

Große Leute wünschen ja nicht halb soviel wie die Kinder. Ihnen gehen eben nicht alle Wünsche in Erfüllung, und weil sie dies wissen, wünschen sie sich manchmal gar nichts mehr. Dies aber kann kein Mensch ändern, und jedenfalls wird es kein Kind hindern, sich jeden Tag vor Weihnachten mehr zu wünschen.

So machten es auch mein Bruder Jürgen und ich, wenn wir dem Weihnachtsfeste entgegensahen; und wir lächelten mitleidig, wenn uns andere Ansichten entgegentraten.

»Kinder müssen immer bescheiden sein!« sagte eine von unseren Tanten. Sie hielt es für ihre Pflicht, uns tagtäglich zu erziehen, während wir die Notwendigkeit dieser Erziehung nicht einsehen konnten. Wenn sie ihre Weisheit von sich gab, dachten wir uns schnell noch einige Wünsche aus, und das Dokument, das wir mit dem bescheidenen Namen Wunschzettel belegten, vergrößerte sich alle Tage.

Vor dem Weihnachtsfeste, von dem ich jetzt erzählen will, bestand mein Wunschzettel aus verschiedenen zusammengestellten Papierbogen.

Zuerst hatte ich gar nicht so viele Wünsche, allmählich aber, bei eifrigem Nachdenken, kamen sie über mich, und wenn ich auch manchmal einen Gegenstand durchstrich, so traten an seine Stelle immer zwei andere.

Mein erster Wunsch, dessen Erfüllung mir sehr am Herzen lag, war ein lebendiges Lamm, das aber nicht größer werden dürfte. Leider sagte man mir, daß diese Bedingung schwer zu erfüllen sei: aus Kindern würden Leute, und aus Lämmern Schafe. Nach langem Besinnen entschloß ich mich also, diesen Wunsch zu streichen und einen sprechenden Papagei an seine Stelle zu setzen. Ein mit uns Kindern sehr befreundeter Schiffskapitän besaß nämlich ein solches Tier. Es war grün von Farbe, konnte Deutsch und Spanisch sprechen, wie ein Hund bellen und wie eine Katze miauen.

Wir wußten genau, daß ein so begabter Vogel viel zu unserm irdischen Glück beitragen würde. Wir wollten ihm einen Käfig verschaffen, dann müßte er sich eine Papageiin suchen und viele Jungen bekommen, die wir dann verkaufen wollten. Auf diese Weise konnten mir mit großer Geschwindigkeit reich und wahrscheinlich auch berühmt werden. Denn eine Papageienfamilie von solcher Fruchtbarkeit, wie die unsere haben würde, hatte noch kein Mensch auf der ganzen Insel.

Bei dieser Sache war übrigens viel zu bedenken. Sollte der Käfig lackiert oder von Messing sein, und ging es an, daß alle kleinen Papageien »Lora« hießen, wie der große vom Kapitän? Diese Fragen verdienten, daß man ihnen ernstlich näher trat, und wir bedauerten sehr, nicht viel Zeit zum Nachdenken zu haben.

Wir hatten nämlich so viel mit unserem Weihnachtsliede zu tun! Nicht allein, daß wir es auswendig lernen und am heiligen Abend unserem Vater hersagen mußten: wir waren auch genötigt, das Lied abzuschreiben, und zwar so schön wie möglich. Der Bogen, auf dem geschrieben werden sollte, mußte ausgezackt oder mit einem Kranze von Rosen oder Vergißmeinnicht verziert sein, und es war nicht immer leicht, sich in dieser Hinsicht zu entscheiden. Meistens tauschten wir den gewählten Briefbogen noch etliche Male um, ehe wir anfingen, auf ihm zu schreiben, und dann kamen fürchterliche Augenblicke. Denn wenn das Lied mit unendlicher Sorgfalt und vielem Gestöhn fast ganz abgeschrieben war, dann kam »ganz von selbst« auf der letzten Seite ein großer Tintenklecks.

Wenn man ihn zuerst erblickte, und sich die Haare auf dem Kopfe vor Entsetzen sträubten, dann war man fest davon überzeugt, niemals wieder im Leben froh werden zu können. Darauf leckte man den Klecks ab, radierte ihn energisch aus, und wenn nun der Vergißmeinnichtbogen ein kugelrundes Loch mit schwärzlicher Umgebung zeigte, dann betaute man das ganze Werk mit vielen Tränen.

Nein, es ist keine Kleinigkeit, ein solches Weihnachtslied abzuschreiben, und wenn man außer dieser Arbeit auch noch Lernstunden hatte und seine Teilnahme dem Kuchenbacken in befreundeten Familien nicht entziehen durfte, so wird jeder begreifen, daß unsere Zeit vielfach in Anspruch genommen war. Am Morgen empfand man auch große Unruhe beim Erwachen. Die Gedanken überstürzten sich, und man konnte trotz dringender Wünsche erwachsener Zimmergenossen nicht wieder einschlafen. Zuerst dachte man natürlich an das Weihnachtslied und sagte es sich leise auf. Es ging dann immer so schön, viel besser als nachher vor einem Erwachsenen – aber sehr lange beschäftigte man sich auch nicht damit.

Um die Weihnachtszeit wurden in der ganzen Stadt Schweine geschlachtet, und zwar in der frühesten Morgenstunde. Aber so nötig die frischen Würste zum Weihnachtsfeste gehörten, die Schweine trugen doch nicht gern zur Weihnachtsfreude bei. Sie weckten die ganze Nachbarschaft mit ihrem unvernünftigen Geschrei auf und konnten es niemals über sich gewinnen, ihr Schicksal etwas freundlicher zu tragen. Nun – einmal wurden sie doch still, und wir hatten sie schon vergessen; es war ja bald Weihnachten.

Fünfmal werde ich noch wach,
Heissa! dann ists Weihnachtstag!

Das Verschen wurde begonnen, als wir noch vierundzwanzigmal wach werden sollten: nun waren wir schon bis zur Zahl fünf gekommen, obgleich wir am ersten Dezember dachten, wir würden das Weihnachtsfest nicht mehr erleben, so lange, lange schien es noch hin. Nun kam es uns doch so vor, als könnte es möglich sein, noch fünf Tage weiter zu leben.

Dann aber! – Ach, es war kaum auszudenken, was dann kommen sollte! Wir drückten den Kopf in die Kissen und wollten so gern wieder einschlafen, da so die Zeit schneller ginge. Aber es ging nicht, und wir trösteten uns mit dem Vorsatze, heute abend recht früh zu Bette gehen zu wollen.

Es war also noch etliche Tage vor Weihnachten, und unser Wunschdokument befand sich schon in den Händen der glücklichen Anverwandten, als Jürgen und ich eines späten Nachmittags auf der Straße waren.

Irgend ein Kind unserer Freundschaft hatte die Dummheit begangen, eben vor Weihnachten Geburtstag zu feiern, und wir mußten natürlich dabei helfen. Jetzt gingen wir nach Hause und sprachen bedauernd von dem unglücklichen Geburtstagskinde, das gar nichts geschenkt bekommen hatte außer Schokolade und Kuchen, weil Weihnachten so nahe war, und dann lobten wir uns, weil wir unsere Geburtstage viel klüger eingerichtet hatten. Unser Städtchen rühmte sich keiner Beleuchtung; daher waren die Straßen sehr dunkel, und wir gingen sehr eilig: nicht daß wir bange gewesen wären – Gott bewahre! aber wir hatten uns angefaßt und sahen weder nach rechts noch nach links – bis wir plötzlich stehen blieben und vor Angst zitterten. Aus der Ferne erklang dumpfes Brummen, von eintönigem Gesang begleitet.

Was war das? Einen Augenblick dachte ich an alle Gespenster, die in unserer Stadt umgehen sollten – dann lachte Jürgen plötzlich.

»Da ziehen die Rummeltöpfe herum!« rief er, und darauf zog er mich mit sich fort, dem Geräusch entgegen. An der Straßenecke beim Bäcker stand eine Knabenschar. Ihre Gesichter waren in der Dunkelheit nicht zu unterscheiden; sie hatten aber für den Fall, daß etwa aus einer geöffneten Haustür ein Lichtstrahl auf sie hätte fallen können, auch dadurch noch einer Erkennung vorgebeugt, daß sie ihre Köpfe mit Tüchern und sonderbaren Hüten unkenntlich gemacht hatten. Jeder von ihnen trug einen länglichen Tonkrug, dessen obere Öffnung mit festem Leder verklebt war. In der Mitte dieses Leders war ein gewachstes oder mit Pech bestrichenes Rohrstöckchen angebracht, das mit großer Geschwindigkeit auf und nieder gezogen wurde und ein dumpfes, zugleich aber sehr durchdringendes Geräusch hervorbrachte.

Zu diesem »Rummeln« sangen sie:

Annlischen, mak de Dören apen
Und lat den Rummelpott in!
Und wenn de Schipper vun Holland kümmt,
Denn hett he goden Sinn!
Schipper wullt du wiken,
Bootsmann wullt du striken, Beide Ausdrücke sind etwas unverständlich, werden aber noch heute so gesungen. Das Lied stammt vermutlich aus dem achtzehnten Jahrhundert, zu der Zeit, wo die kleinen Ostseeinseln eifrig mit Holland handelten.
Treck de Segel op und dal,
Und gif mi wat in'n Rummelpott;
En, twe, dre, veer –
Und wennt ok en halmen Daler wer!

Alle Jungen hatten mit lauter Stimme gesungen, ohne sich vom Fleck zu rühren, und dabei rummelten sie so eifrig, daß es großartig anzuhören war. Als sie das Lied zu Ende gesungen hatten, stürzten sie wie auf Kommando in den Hausflur des Bäckers, um gleich darauf mit wildem Geschrei zurückzulaufen. Die Bäckerfrau schien keine Lust zu haben, ihren Wünschen nach einem halwen Daler zu entsprechen. Sie mußte schon hinter der Tür gestanden und auf die Eindringlinge gewartet haben, denn mit einem großen nassen Besen fuhr sie den Sängern ins Gesicht, und dabei schimpfte sie mit einer solchen Geläufigkeit, daß sie selbstverständlich einen glänzenden Sieg davontrug. Nach einer Minute befanden sich alle Rummeltopfbesitzer prustend und lachend in wilder Flucht auf der Straße, wahrend die Bäckerfrau siegreich auf der Schwelle ihres Hauses stand und noch lange hinter ihnen her drohte und schalt.

Jürgen und ich hatten uns den Rummlern angeschlossen; nicht allein, weil es uns wundervoll erschien, hinausgeworfen und ausgescholten zu werden, sondern weil uns auch einige Gesellen in der lustigen Gesellschaft sehr vertraut vorkamen. Wir hatten ältere Brüder und glaubten ihre Stimmen und auch einen alten Hut von Papa erkannt zu haben. Wo aber der Hut unseres Vaters war, da durften auch wir sein.

Die Rummler hatten sich durch die aufgeregte Bäckerfrau nicht abhalten lassen, einige Häuser weiter ihren Gesang wieder zu beginnen. Dieses Mal öffnete sich bald ein Fenster, ein Mann begann mit ihnen eine scherzhafte Unterhaltung, fragte, ob sie auch nötig hätten zu betteln, und reichte ihnen schließlich Gebäck und kleine Münze. Beides nahm ein Junge in Empfang, der einen großen Korb trug, und dann ging es weiter.

Jürgen und ich waren nun schon so angenehm angeregt, daß wir zum drittenmal laut mitsangen, aber diese offene Fröhlichkeit gereichte uns zum Verderben.

Jemand – seinen Namen will ich rücksichtsvoll verschweigen – trat zu uns und schickte uns mit so viel Drohungen, begleitet von sehr eindrucksvollen Püffen, nach Haus, daß wir eiligst entflohen.

»Ich will ihn verklagen!« schluchzte ich. »Er hat mich in den Arm gekniffen, und er darf doch gewiß nicht rummeln! Bürgermeisters Christian habe ich auch erkannt!«

Der Kummer, daß wir an den Freuden des Rummeltopfes nicht teilnehmen konnten, überwältigte uns eine Zeit lang. Dann kam Jürgen auf einen guten Gedanken.

Wir wollen jeder auch einen Rummeltopf haben und ganz allein damit herumgehen! Davon brauchen wir keinem Menschen etwas zu sagen!

»Wenn die Leute uns nun nichts geben, und wenn sie uns erkennen?« fragte ich zaghaft; aber mein Bruder lachte.

»Natürlich werden sie uns etwas geben, und erkennen sollen sie uns auch nicht. Wenn ich Großvaters alten Dreimaster aufsetze, der oben auf dem Boden liegt, dann sieht niemand, wer darunter steckt. Du weißt, das ist der Hut, den Großvater in der Hand halten mußte, als er in Plön zum König befohlen war. Als er nachher sitzen durfte und das Ding zwischen den Knieen hielt, weil er sonst keinen Platz dafür hatte, da kamen die Diener und brachten etwas zu essen. Und Großvater schüttete aus Versehen Heringssalat in seinen Hut, weil er meinte, es sei ein Teller. Deshalb trägt er den Dreimaster nicht mehr, ich kann ihn aber gut gebrauchen!«

Jürgens Vorschlag gefiel mir sehr gut, und da auf Großvaters Boden noch allerhand vakante Kopfbedeckungen umherhingen, so war in dieser Beziehung auch für mich gesorgt.

Viermal werden wir noch wach! mit diesem Gedanken erwachte ich am nächsten Morgen; als ich mir aber mein Weihnachtslied aufsagen wollte, da summte es mir in den Ohren:

Annlischen, mak de Dören apen
Und lat den Rummelpott in!

Ich mußte, ich mußte einen Rummeltopf haben; er erschien mir nötiger als der grüne Papagei mit seiner ganzen Nachkommenschaft, und ich versuchte also gleich, mir ihn zu verschaffen. Großvaters Kutscher Hinrich hatte Verständnis für die Notwendigkeit dieses Besitzes; es dauerte denn auch nicht lange, und Jürgen und ich drückten jeder einen Rummeltopf an unser Herz. Dieser Besitz machte uns nicht wenig froh, und bald hatten wir mit unserem Gesang und dem begleitenden Gerummel mehrere Erwachsene in eine so leidenschaftliche Erregung gebracht, daß sie sogar die Drohung ausstießen, uns zum Weihnachten nichts schenken zu wollen.

Da war es denn besser, die freie Natur aufzusuchen, um dann, nachdem es dämmrig geworden wäre, den ersten Straßenrundgang anzutreten. Leider geht nun nicht alles, wie man will. Gerade als Jürgen Großvaters Dreimaster gefunden und auch ich eine köstliche Mütze erwischt hatte, kam Besuch, der Jürgen zu sehen wünschte. Es war eine Tante, die ihm immer etwas mitbrachte, und in der Aussicht auf eine wohlschmeckende Gabe verschwand er mit seinem Rummeltopf und ließ mich im Stich. Er sagte allerdings, ich sollte auf ihn warten – mein Lebtag habe ich aber nicht warten mögen, und so beschloß ich, allein mit meinem Rummeltopf auszugehen.

Wenn wir ins Freie wollten, gingen wir eigentlich immer zuerst auf den Kirchhof. Er lag mitten in der Stadt, und über ihn führte uns immer unser Weg, wenn wir vom Elternhause zu unserem Großvater gingen. Im Sommer saßen wir unter seinen großen Linden und machten Ketten aus den langen Stengeln des Löwenzahns, und mit dem Totengräber verband uns zu allen Jahreszeiten eine innige Freundschaft. Dieser hieß Kelling, und wenn wir gerade nichts besseres anzufangen wußten, dann besuchten wir ihn und sahen zu, wie er ein Grab grub oder in Ordnung brachte. Auch heute beschloß ich, ihm meinen Rummeltopf zu zeigen und ihm »Annlischen« vorzusingen, das ich viel schneller gelernt hatte als mein Weihnachtslied.

Vergnügt vor mich hinsummend, lief ich über den breiten Kirchhofweg, als ich einen Jungen erblickte, der auf einem alten Grabsteine saß. Er hatte beide Hände vors Gesicht gelegt und weinte. Nicht laut und mit Geheul, sondern leise und von Herzen. Seine Kleidung bestand eigentlich nur aus Lumpen, und er war außergewöhnlich schmutzig. Ich stand still und betrachtete ihn nachdenklich, während ich mich zugleich sehr wunderte. Denn wer konnte in dieser Zeit so traurig sein, wo man doch nur viermal noch wach zu werden brauchte, um Weihnachten zu erleben? Unwillkürlich fing ich an zu rummeln und mit halblauter Stimme zu singen:

Annlischen, mak de Dören apen
Und lat den Rummelpott in!

Der Junge hatte die Hände vom Gesicht genommen. Mit großen, tränenschimmernden Augen sah er zu mir auf, und als ich nun fortfuhr:

Und wenn de Schipper von Holland kummt –

da lachte er.

»Was lachst du?« fragte ich, mißtrauisch die blanken Tropfen betrachtend, die auf seinen schmutzigen Wangen helle Straßen gezogen hatten.

»Ich lach, weil du es nich kannst,« lautete die Antwort. »Du kannst nicht rummeln! – Deerns können so was überhaupt nich!« setzte er verächtlich hinzu.

Ich war immer gekränkt, wenn mich jemand an die betrübende Tatsache, daß ich kein Junge sei, erinnerte, und mein Mitleid mit dem weinenden Knaben schwand dahin.

»Du bist ein komischer Junge!« sagte ich. »Erst weinst du, und dann lachst du. – Worüber hast du denn geweint? übermorgen und dann noch ein Tag, dann ist Weihnachtsabend!«

»Weihnachtsabend –« er sprach mir das hochdeutsche Wort nach, dann nickte er. »Ja – der Schulmeister sagt auch so was!«

»Nun, ist denn das nichts schönes?« rief ich eifrig. »Da bekommst du etwas geschenkt von deiner Mutter!«

»Ich hab keine Mutter!«

»Oder von deinem Vater –«

»Ich hab kein Vater!«

»Du hast keinen Vater und keine Mutter?« Ich mußte mir den Jungen daraufhin noch einmal ansehen. »Hast du denn deswegen geweint?«

»Nee –,« sagte er; »da hab ich mir all lang angewöhnt. Weinen tat ich, weil ich kein Rummelpott hab' und all die andern Jungens rummeln, und ich – und ich –« ei fuhr sich mit beiden Händen in die Augen, und von neuem begannen seine Tränen zu fließen.

Ich aber sah ihn hilflos an, während ich meinen eigenen geliebten Rummeltopf fest an mich drückte, und zugleich eine bange Ahnung mein Herz beschlich.

»Ich will flink nach Hause gehen,« sagte ich hastig; aber schon stand der Junge neben mir.

»Leih mich dein Rummelpott! Kannst ja doch nix mit das Ding anfangen! Soll ich dich mal das Rummeln zeigen? So mußt du den Stock anfassen und dann rummeln, daß es knarrt!«

Er hatte mir den Rummeltopf aus der Hand genommen, und während er mit ihm einen wahrhaften Höllenlärm machte, sang er dazu mit rauher Stimme:

Annlischen, mak de Dören apen
Und lat den Rummelpott in!

Ehe aber der Schiffer von Holland kam, war der Sänger mit lautem Hohngelächter über den Kirchhof gelaufen und samt meinem Rummeltopf verschwunden.

Einige Minuten war ich sprachlos über das mir Widerfahrene; dann fiel mir ein, daß trotz aller schlechten Menschen doch bald Weihnachten sei, und ich ging zu meinem Freunde Kelling. Der hatte gerade ein neues Grab zugeworfen und saß jetzt vespernd auf seinem Schiebkarren. Ich klagte ihm mein Leid, und er hörte mir mit gewohnter Teilnahme zu.

»Is die Möglichkeit! Hat der Franz dich deinen Rummelpott gestohlen! Nu seh doch einer an! Ja, das ist ein wilden Jung, der allens haben will! Ich kenne ihm ganz gut. Sein Vater is auf See geblieben, und was sein Mutter war, die hab ich all lang begraben. Swindsucht. Nu is er bei die Ohlsch; Tante Horn heißt sie auch!«

»Aber er bekommt doch etwas zum Weihnachten?« fragte ich, und Kelling schnitt sich mit seinem großen Taschenmesser bedächtig ein Stück Brot ab. »Für Schenken is de Ohlsch nich,« meinte er, »und sie mag hellschen gern hauen!«

»Aber, Kelling, Weihnachten kann sie Franz doch nicht schlagen!« rief ich entsetzt; der Alte aber wischte sich den Mund und meinte achselzuckend, einige Leute bekämen auch Weihnachten Prügel.

Dann stand er auf und schaufelte noch etwas an dem Grabe herum, während ich mich auf den Schubkarren setzte und seinem Tun in Nachdenken versunken zusah.

Viermal muß ich noch wach werden, überlegte ich mir – dann kommt Weihnachtsabend. Die Lichter an den großen Bäumen werden angezündet, die Klingel ertönt, und wir dürfen in den Saal kommen. Dann liest Papa mit seiner tiefen, ruhigen Stimme das Weihnachtsevangelium vor, von der Jungfrau Maria, dem Jesuskinde und den Engeln, die da sangen: Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen.

Nach dem Lesen durften wir zu unseren Geschenken gehen, und wenn wir sie noch längst nicht genügend bewundert hatten, dann mußten wir unsere Lieder hersagen.

Ich blieb immer stecken, ich wußte es schon im voraus, obgleich ich mir so viel Mühe gab – aber Papa half aus. Er hatte es im vorigen Jahre so geduldig getan; auch dieses Mal baute ich auf ihn. Er hatte mich auch nicht ausgelacht, wie die anderen es wohl taten, obgleich er wohl hätte böse werden können, wo es doch sein Weihnachtsgeschenk war, das ich ihm so schlecht und so stockend aufsagte. – Franz Horn hatte keinen Vater, der ihm half, wenn er etwas schlecht machte, keine Mutter, die ihm die Tränen trocknete – er bekam nichts zu Weihnachten, höchstens Schläge.

Es war ganz dämmerig geworden; die kahlen Linden rauschten über den Gräbern, und vom Kirchturm schlug es halb fünf. In der Ferne aber sang eine trotzige Stimme:

En, twe, dre, veer –
Und wennt ok en halmen Daler wer!

Am andern Morgen, bald nach Beendigung der Schulstunden, suchten Jürgen und ich Franz Horn. Er war nicht schwer zu finden. Vor einem der elendesten Häuser des ärmsten Stadtteils glitschte er auf einem eben zugefrorenen schmutzigen Rinnstein. Dabei hielt er die Trümmer meines Rummeltopfes in der Hand und pfiff ein Liedchen.

Wir waren noch unschlüssig, ob wir ihn für seinen gestrigen Raub zuerst gemeinsam durchprügeln und ihm dann die Aussicht auf eine Weihnachtsfreude machen sollten, als Franz diesen Zweifeln ohne weiteres ein Ende machte. Er kam auf uns zu und hielt mir den zerbrochenen Topf vor die Augen.

»Das war ein slechten Rummelpott!« sagte er geringschätzig. »Konnt auch nich das geringste vertragen! Als ich mir gestern abend mit Fite Schulz prügelte, smiß ich ihn das Ding an'n Kopp, und das ging gleich twei! – So'n slechten Pott hab ich lang nich gesehen. Aber ich kauf mich heut einen neuen! Acht Bankschillings hab ich mich gestern rangerummelt und ein Berg Brot und Kuchen!«

Dieser großen Unbefangenheit gegenüber mußten wir uns nicht recht zu benehmen und fanden es also richtiger, von der Franz zugedachten Bestrafung zu schweigen. Wenn sobald Weihnachten ist, dann kann man doch überhaupt keinem Menschen lange böse sein. Deshalb bemerkte Jürgen wohlwollend, wenn Franz artig sein wollte, so schenkten wir ihm trotz seines gestrigen schlechten Betragens vielleicht etwas zum Weihnachten.

»Was denn?« fragte der Junge. Er machte den Versuch die blaugefrorenen Hände in seine Hosentaschen zu stecken; er hatte aber keine.

»Ich schenke dir vielleicht eine Hose!« sagte Jürgen. »Sie ist schwarz und weiß kariert und noch ganz fein!«

»Geht sie twei?«

»Ja, kaput wird sie wohl einmal gehen – Hosen gehen leicht entzwei!« Und Jürgen seufzte. Er dachte wahrscheinlich an das Schicksal einer Sonntagshose, die nach dem Erklettern eines Baumes auf rätselhafte Weise zerrissen war, und die ihn dann in Unannehmlichkeiten mit Mama gebracht hatte.

»Ich will dir einen Kamm und Seife schenken!« schob ich großmütig ein. »Etwas Geld ist noch in meiner Sparbüchse, deshalb wollte Mama durchaus den Schlüssel haben. Wenn ich aber ordentlich schüttle und die Ritze etwas größer mache, dann wild das Geld schon herausfallen!«

Franz hatte uns aufmerksam zugehört. Jetzt spuckte er durch die Zähne, wie die Schiffer taten.

»Eine Hose, die twei geht, will ich nich! Wenn da ein Loch ein kommt, krieg ich bloß Prügel von die Ohlsch. Da is mich mein alte lieber!«

»Abel Kamm und Seife –« sagte ich ermahnenden Tones.

»Was soll ich mit so'n Kram?«

Er sah allerdings danach aus, als wenn er den Gebrauch von Kamm und Seife durchaus nicht zu schätzen wisse, und wir mußten die Richtigkeit seiner Frage im stillen zugeben.

»Was wünschst du dir denn?« fragten wir, und Franz spuckte wieder aus.

»Ich wünsch, daß ich die Ohlsch, was mein Tante is, mal tüchtig durchneien Durchprügeln. kunnt.«

»Magst du sie denn nicht leiden?«

Er sah erstaunt aus.

»Oh – ich mag ihr wohl leiden, was sollte ich ihr nicht leiden mögen? Aber ich ärgere mir, daß sie mir immer prügelt, und ich ihr nie. Fite Schulz sagt, wenn ich groß bin, denn is die Ohlsch alt und swach geworden, denn kann ich ihr über – abers denn bin ich nich hier!«

»Wo bist du denn dann?«

»Wo ich bin? Natürlich auf See! Vater is auch auf See gefahren, und ich will auch Schipper werden! Bloß, daß es noch so lang hin ist!«

Er seufzte, hob den Kopf und sah den grauen Schneewolken nach, die vom Ostwind über unsere Insel gepeitscht wurden.

Nein, er wünschte sich gar nichts – höchstens einen Rummeltopf, der aber unter keinen Umständen entzweigehen durfte, und dann glitt er wieder auf dem gefrorenen Rinnstein entlang, pfiff schrill und ohne Melodie vor sich hin und kümmerte sich gar nicht mehr um uns. Nur als wir fortgingen, rief er uns mit einem gewissen Wohlwollen nach, daß er zu uns zum »Gratulieren« kommen wollte.

Am 23. Dezember begann das Fest der Gratulation. Unzählige alte Weiber, mit Riesenkörben an dem einen und Kindern auf dem andern Arme, wuchsen urplötzlich aus der Erde und gingen von Haus zu Haus. Woher sie alle kamen, ist mir noch heute ein Rätsel geblieben – aber sie waren da, standen in dicke Tücher gehüllt schweigend im Hausflur, und wenn man nach ihrem Begehr fragte, sagten sie, daß sie »man bloß to'n Wihnachten gratteleeren« wollten.

Ein großer Korb mit Weiß- und Rosinenbrot und eine Schale mit Kupfergeld stand schon für die Gratulanten bereit, und wir Kinder durften diese Gaben überreichen, was wir natürlich mit großem Vergnügen taten. Auch die Rummler wurden jetzt sehr dreist: sie standen nicht mehr vor, sondern in den Häusern und sangen ihr Lied auf den Vordielen. Zwischen ihnen und den gratulierenden Frauen herrschte aber, der Konkurrenz wegen, ein gespanntes Verhältnis, und wenn sich beide Teile in einem Hause begegneten, dann ging es nicht ohne Geschrei und lautes Schelten ab.

Als wir gerade einer sehr verhüllten und sehr verdrießlichen Frau ein Weißbrot und mehrere Geldstücke gegeben hatten, steckte Franz Korn den Kopf in die Haustür und brüllte:

Annlischen, mal de Dören apen!

»I, du vermaledeiten Slüngel! Willst mal nah Hus gahn!« schrie die Alte, mit geballten Fäusten auf ihn losgehend.

Er aber schlüpfte unter ihren Armen durch und rettete sich zu uns auf die Treppe.

»Das is mein Ohlsch!« bemerkte er mit vorstellender Handbewegung. »Sie is doll, weil daß sie nich genug kriegt! Nich, Tante? Abers sei man still – ich bring dich noch ein Weißbrot mit und Geld. Die Kinners hier, die geben mich noch was!«

Die Ohlsch schalt noch eine ganze Weile zu Franz herauf, ehe sie sich zum Fortgehen entschloß. Daß sie in ihren Ausdrücken nicht wählerisch war, hörten wir mit einem Gemisch von Freude und Grauen. Franz aber nickte zufrieden.

»Kann sie nich fein fluchen? Wie'n Schipper, ganz wie'n Schipper! Na, nu gebt mich man zwei Bröte und nich so knapp Bankschillinge, daß ich nach Hause kann!«

Er war, wie wir bemerkten, gar nicht bange vor seiner fluchenden Tante und lief nachher eilfertig hinter ihr her.

Am 24. Dezember bettelte es bei uns den ganzen Tag, und das Gratulieren zum Weihnachten nahm kein Ende. Am frühen Nachmittage schon kochte ein Topf mit Milchreis auf dem Herde, und unsere Köchin bereitete mit hochroten Wangen eine Art Schmalzgebäck, das bei uns »Pförtchen« hieß. Dann kamen die besitzlosen Hausfreunde mit Töpfen und Tellern und erhielten von allem ihr reichlich Teil.

Einige Auserwählte waren zum Essen in die Küche geladen worden, und auch für Franz Horn hatten wir eine Einladung erwirkt. Er sollte reingewaschen um fünf kommen und war schon um drei Uhr da. Sein Gesicht zeigte Spuren von Wasser und war schwarz und weiß gestreift: auch trug er Jürgens karierte Hose, mit der er sich, obgleich sie »twei« ging, wegen ihrer Taschen ausgesöhnt hatte. Darauf fing er sogleich an, Milchreis und Pförtchen in solchen Mengen zu verspeisen, daß unsere Köchin beinahe weinte. Um vier kam dann die »Ohlsch«. Dieses Mal unverhüllt, glattgekämmt und mit einem Ausdruck stillen Friedens in den harten, früh gealterten Zügen.

Wir waren überrascht, denn unseres Wissens hatte sie kein Mensch eingeladen; Franz aber bemerkte mit vollen Backen kauend: »Ich hab ihr eingeladen, weil daß sie so gern kommen wollt. Sie is ja auch mein Tante und kann fluchen wie'n Schipperknecht!«

So löffelte die Ohlsch bald still und emsig und schien sich auf langes Bleiben eingerichtet zu haben.

Jedermann weiß, daß die Zeit am Weihnachtsabend vor der Bescherung entsetzlich langsam vergeht. Zuerst will es trotz der kurzen Tage gar nicht Abend werden, und wenn die Lampen angezündet sind, dann dauert es doch noch Ewigkeiten, ehe die köstliche Glocke erschallt. Jede Gelegenheit, die Zeit zu vertreiben, wird mit Freuden ergriffen, und deshalb saßen Jürgen und ich auch auf dem Küchentisch und suchten die nähere Bekanntschaft der Ohlsch zu machen.

Sie aß in Frieden, und unser unverwandtes Anstarren schien sie nicht zu stören. Als sie in sehr entschiedener Weise den dritten Teller Milchreis und das achte Pförtchen verlangte, da benutzten wir diese kleine Pause, um sie zu fragen, wo sie das Fluchen gelernt habe.

Sie sah uns nachdenklich an.

»Das Fluchen, Kinners? Ich fluch mein Dag nich!«

»Du fluchst nicht! Oh – gestern hörten wir es doch – und weshalb prügelst du Franz? Paß nur auf – wenn er groß ist, prügelt er dich!«

Die Ohlsch leckte behaglich die Finger ihrer linken Hand ab, die sie zum Essen benutzt hatte.

»Ich glaub nich, daß er mir prügeln wird, weil daß ich es bloß aus Liebe tue. Kinners müssen Släge haben, sonst werden sie nicht groß!«

»Aber du mußt ihn nicht so viel schlagen und auch nicht so viel schelten!«

Die Alte zuckte die Achseln.

»Wir sind ein büschen heftig in unsre Familie – da denken wir uns nix bei. Abers – sie erhob ihre Stimme und sah sich mit blitzenden Augen um – »was is das hier für'n Wirtschaft? Köksch, wo bleibt mein Teller? Willst mir narren? Meinst, daß ich hier sitz für nix und wieder nix, und daß ich tothungern will, bei labendigem Leibe? Köksch! Wenn du mich nich flink was gibst, denn slag ich dich die Knochens in Leib twei!«

Sie gebrauchte noch einige sehr kräftige Redewendungen mehr und beruhigte sich erst, als wieder ein gefüllter Teller vor ihr stand, Franz aber sah mich mit strahlenden Augen an.

»Kann sie nich fein schelten? Ich sag, da kommt kein Mann gegen!«

Als unsere empörte Köchin mit lauter Stimme sagte, er solle nur nicht auch so »eklig« werden, lachte er verächtlich.

»Als wenn Weibers da was von verstehn!«

Wir hörten der weiteren Unterhaltung nicht mehr zu. Es hatte vom Kirchturm fünf geschlagen – nun mußte es bald klingeln! Schon waren wir, um die fieberhafte Erregung auszutoben, treppauf und treppunter gelaufen, dann hatten wir unsere Weihnachtslieder aufgesagt, wobei ich zu meiner Bestürzung bemerkte, daß ich das von Jürgen besser konnte als mein eigenes – ein kleiner Streit war auch entstanden, weil jeder voranstehen wollte beim Hineingehen ins Zimmer, und dann – ja dann klingelte es wirklich!

Es war keine Täuschung – es klingelte, wir standen ganz still und sahen uns an – war es denn wirklich möglich – durften wir das herrliche, einzige Weihnachtsfest wirklich erleben?

Da wurden wir gerufen – es kam etwas feierliches über uns; scheu und langsam traten wir näher, und dann sahen wir die strahlenden Weihnachtsbäume.

Dies ist die Nacht, da uns erschienen des großen Gottes Herrlichkeit.

Ja, dies war die Nacht, und wir, die wir diese irdische Herrlichkeit sahen, dachten immer, sie könne nur übertroffen werden von dem Tage, wo wir an die dunkeln Pforten der Ewigkeit klopfen würden, und die Tür des Himmels sich öffnen würde.

Als wir nun unter den Weihnachtsbäumen standen, kehrte unsere Fassung wieder zurück, wenn wir auch wie auf Rosenwolken gingen. Wir hörten das Weihnachtsevangelium, wir besahen unsere Geschenke, und ich hatte den grünen Papagei so total vergessen, daß seine Abwesenheit gar nicht von mir bemerkt wurde.

Mein Weihnachtslied ging sehr gut. Zweimal nur wußte ich nicht weiter, und den dritten Vers überschlug ich aus Versehen – aber ich war doch außerordentlich mit mir zufrieden, denn es hätte viel schlimmer ausfallen können.

Plötzlich befand sich Franz Horn auch im Weihnachtszimmer. Wir hatten ihn gerade holen wollen, er war aber schon ohne Aufforderung gekommen und auch ein Zeuge unserer Deklamation gewesen.

»Du kannst dein Gesang man slecht,« sagte er zu mir. »Hast dich ja woll gar keine Mühe bei gegeben!«

Ich war tief gekränkt – er aber steckte die Hände in die Taschen, und mit seinen strahlenden Augen unverwandt in die Lichter der Bäume blickend sagte er mein Weihnachtslied ohne jeden Anstoß auf und Jürgens Lied gleichfalls.

Ihn störte gar nichts – weder die ungewohnte, für sein Auge doch glänzende Umgebung, noch die fremden großen Leute, die um ihn herumstanden und ihn betrachteten. Als er geendet hatte, wandte er sich wieder zu Jürgen und zu mir.

Das hab ich in Schule gelernt und denn bei die Ohlsch aufgesagt. Sie kann die Dingers auch!

Unsere Geschenke erregten kaum seine Neugier, nur Kuchen ließ er sich gern schenken, und als sich plötzlich ein großer Rummeltopf für ihn fand, da jubelte er vor Vergnügen. Dann gingen die Ohlsch und er sehr einträchtig nach Hause, und die Prophezeiung der Köchin, daß Tante und Neffe in kurzer Zeit an den Folgen des Genusses einer schier unglaublichen Quantität von Milchreis und Pförtchen sterben würden, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil, die Alte sah im Winter sehr frisch aus. Sie bewies unserem Hause ein dauerndes Wohlwollen dadurch, daß sie seit jenem Weihnachtsabend jede Woche einmal kam und sich Essen holte. Wenn sie nach ihrer Ansicht nicht genug bekam, schalt sie die Köchin so energisch aus, daß diese förmlich Angst vor ihr hatte.

Franz begleitete sie häufig, und wenn er sich auch manchmal noch dringend wünschte, seine Ohlsch durchprügeln zu können, so merkten wir doch, daß Neffe und Tante sich auf ihre Art sehr liebten. Der Junge wurde groß und stark – auch seine Wildheit nahm nicht ab. In der Weihnachtszeit bekam er immer einen Rummeltopf von uns, über den er sich mehr freute, als über den dabei geschenkten Anzug.

Als er eben dreizehn Jahre geworden war, war er in der Frühlingszeit ganz plötzlich verschwunden – er war, wie so viele unserer Insulaner, heimlich zur See gegangen, und zwar auf einem Schiffe, das nach England segelte.

Uns regte sein Fortgehen sehr auf. Die Ohlsch aber war sehr gleichmütig. »Er kommt all wieder,« sagte sie; »da hab ich kein Angst bei. Was sein Großvater war und sein Vater, die sind auch so weggelaufen. Das is so in die Familje. Sie kommen nach ein paar Jahrens wieder, und denn haben sie ein büschen von die Welt gesehen. Und denn wollt ich auch noch sagen, daß ich vergangen Woch gar kein Kartoffeln bei mein Essen gekriegt hab, bloß dicken Reis, was für'n labendigen Menschen nich genug is und nich wieder vorkommen darf!«

Franz kam nicht wieder, solange wir in der kleinen Stadt wohnten, und was aus ihm geworden war, wußte kein Mensch zu sagen.

»Er kommt all wieder!« sagte die Ohlsch zuversichtlich auf unsere Fragen; allmählich aber fragten wir nicht mehr nach ihm.

Dann zogen die Eltern fort aus dem Städtchen, und als ich einmal um die Weihnachtszeit wieder durch seine Straßen ging, lag die Kinderzeit hinter mir, und vieles war anders, ganz anders geworden. Äußerlich sahen die kleinen Häuserreihen aus wie früher; als es anfing dunkel zu werden, hörte ich auch den Rummeltopf brummen, das alte Lied dazu singen und die Leute lachen und schelten. Gerade so wie ehemals, und doch kam ich mir fremd vor in den dunkelnden Straßen. Da kam mir eine gebückte Alte entgegen. Sie stützte sich auf einen dicken Stock und fluchte und seufzte abwechselnd über das kalte Wetter und die schlechten Zeiten.

Es war die Ohlsch, die mich auch sofort erkannte und in ihrer bekannten dringenden Weise eine Weihnachtsgabe verlangte. Ich befriedigte ihren Wunsch, und dann fragte ich nach Franz.

Da schüttelte sie den Kopf und stieß mit dem Stock in die harte Erde. »Das is ein ganzen Dösbaddel gewesen,« sagte sie finster; »ein furchtbaren Dösbaddel! Da hab ich einen slimmen Verdruß von gehabt!«

Sie humpelte neben mir her und brauchte allerlei Kraftworte, ehe sie weiter erzählte.

»So'n verdwarsen Bengel! Daß er nach England fuhr mit Schipper Swarz, da war ja nich im geringsten was bei! Das haben sein Großvater und Vater auch getan, und was in die Familje is, das is in die Familie. Abers, er kam von Engelland nich wieder. Heuerte auf'n Schiff nach Merika und läßt mich sagen, ich sollte mir man nich um ihm quälen, was ich auch nicht tue. Denn das Seefahren is in die Familie, und in Merika sind die beiden annern auch gewesen. Und von da geht er nach Schina, wo ich auch nix gegen hatt, wenn ich auch nich weiß, wo das alte Land liegt. Abers wo in so'n slimmen Sturm der Steurmann über Bord fällt – daß Franz das einfallen muß, ihn nachzuspringen, das nenn ich ein offenbaren Unsinn! Denn er könnt sich denken, daß bei so was nix ordentliches herauskommt. So is es denn auch gewesen. Als die andern Jungens mit'n Boot kommen, kriegt Franz den Steurmann noch herein – denn abers kommt so ne greuliche swarze Welle, und von mein Jung is nix mehr zu sehen gewesen. Was mir nun nich wundert, weil daß ich das Wasser auch kenne. – Der Steurmann hat mich die Geschichte selbst auf engellisch geschrieben, und Schipper Swarz übersetzte mich das. Um Wihnachen is es auch gerade gewesen, und Franz hatte sich gerade ein Rummelpott gemacht und wollte die andre Mannschaft zeigen, wie man rummeln sollt. Nu is das allens umsonst gewesen, bloß, weil er ein dummen Jung war!«

Sie stand still und atmete schwer. Aus der Ferne klang es lustig:

Annlischen, mal de Dören apen
Und lat den Rummelpott in!
Und wenn de Schipper van Holland kümmt,
Dann hett he goden Sinn!

»Ich kann das Singen nich mehr hören!« sagte die Ohlsch. »Mein Jung, der verstand es besser – viel besser! – Er hat oft gesagt, daß er mir durchneien wollt, wenn er groß wär – hätt mir gern jeden Tag prügeln können, wenn er man bloß wiedergekommen wär!«

Schipper wullt du wiken,
Bootsmann wullt du striken,
Treck de Segel dal und op –
Und giff mi wat in'n Rummelpott;
En, twe, dre, veer –
Und wennt ok en halmen Daler weer!

So sangen die frischen Stimmen, und die Lippen der alten Frau begannen zu zittern. Aber sie wollte nicht weinen – das war wohl nicht Brauch in ihrer Familie.

»Nu« – sagte sie halblaut vor sich hin – »vielleicht nimmt uns' Herrgott meinen Jung sein Dösigkeit nicht übel – nu is doch wohl auch Wihnachten in Himmel, und vielleicht darf er da ein büschen rummeln!« – –

Ich glaube es beinahe.


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