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Übers Wasser

Als ich ein Kind war, dachte man noch nicht viel ans Verreisen. Unser Großvater, der in Heidelberg studiert und der für den Schwarzwald wie für den Rhein eine große Vorliebe hatte, sprach viel von der Schönheit des Landes jenseits der Elbe, und hin und wieder war er auch wohl wieder dorthin gereist. Unsere Eltern aber blieben zu Hause, und wir Kinder ebenfalls. Ich bin auch der Meinung, daß unsere großstädtischen Verwandten nicht besonders begeistert waren von dem Gedanken, uns wilde Kleinstädter in ihre engen Wohnungen aufzunehmen, und noch heute wissen alte Familientanten von einigen Streichen zu erzählen, die zwei der ältesten Brüder in Hamburg verübten, als sie dort leichtsinnigerweise eingeladen worden waren. Also wir blieben hübsch zu Hause und empfanden auch keine Sehnsucht nach der Ferne. Es war nach unserer Ansicht immer schön bei uns. Im Frühling war es lustig, den Flug der Vögel zu beobachten, die wieder gen Norden zogen; viele Störche richteten sich ihre Häuslichkeit in unserer Stadt ein, und wir riefen ihnen unermüdlich zu: Adebar, du goder, bring uns 'n lütten Broder! Adebar, du bester, bring uns 'n lütte Swester, worauf jedesmal ein lebhafter Streit entstand, was wünschenswerter sei, das nächste Mal ein Brüderchen oder ein Schwesterchen zu bekommen. Wer für den Bruder gestimmt hatte, triumphierte, wenn wieder ein dunkelhaariger kleiner Junge bei uns in der Wiege lag, und sagte dann mit wichtiger Miene, er hätte es schon lange gewußt, daß es so kommen würde. Im Frühling kamen die Vögel, und die Veilchen, und die großen Brüder fuhren mit Großvaters Knecht Hinrich aufs Feld, um das Land zu bestellen. Das Sommervergnügen fing mit der Rapssaaternte an und hörte erst auf, wenn das letzte Fuder Weizen eingefahren war, und der Herbst brachte wieder so manche Freuden, daß schließlich Weihnachten kam, ehe man sich's versah. Im November wurden Gänse und Großvaters erstes Schwein geschlachtet, ein Fest, auf das wir uns schon wochenlang vorher freuten, indem wir uns mitleidlos jeden Tag an der zunehmenden Rundung des Opfertieres ergötzten, das wir als Ferkel leidenschaftlich geliebt hatten und durchaus hatten »zähmen« wollen.

Nein, zum Reisen hatten wir weder Lust noch Zeit. Manchmal aber gab es doch Gelegenheit, einmal übers Wasser nach dem Festlande zu kommen, sei es nun, daß wir Besuch wieder fortbrachten oder abholten. Der Sund, so heißt die Wasserstraße, an der ein Fährhaus sich befindet, liegt etwa anderthalb Wegstunden von der kleinen Stadt entfernt; mit Großvaters Kutsche und seinen etwas steifen Pferden fuhr man etwa eine Stunde. Der beste Platz war selbstverständlich bei Hinrich auf dem Bock. Dort saßen aber schon seit einer Stunde die großen Brüder, und wir kleineren mußten im geschlossenen Wagen entweder zwischen zwei sehr kompletten Erwachsenen oder auch auf deren Schoß sitzen. Auf dem sogenannten Sundswege – wir Niederdeutschen schieben nun einmal überall das böse s ein – wehte es immer sehr; alle Fenster des Wagens wurden daher geschlossen, und wenn die Sonne schien, wurden auch noch die verblaßten rotseidenen Vorhänge zugezogen. Großvaters Kutsche stand in unserer Stadt in dem Rufe, daß sie ein sehr feiner Wagen sei, und als ein naseweiser Großstädter von dem Gefährt als einem Rumpelkasten sprach, empfanden wir diese Bemerkung wie eine Art Gotteslästerung. Wir waren stolz, daß wir einen Großvater hatten, der einen solchen Wagen besaß, und in unseren Gedanken kannten wir nichts Besseres, als das Rasseln der vielen Wagenfenster, das Schaukeln und Stoßen des ganzen schwer beladenen Kastens. Wie selig fuhren wir durch die holprigen Straßen, wenn es endlich losging; wenn uns so viel Bewegungsfreiheit gestattet war, so nickten wir unseren Freunden, an denen wir vorbeifuhren, vergnügt zu, denn wir verreisten ja auf längere Zeit, auf mehrere Stunden, hoffentlich bis zum dunkeln Abend, wo man mit Laternen fahren mußte.

Die ersten zehn Minuten in der Kutsche waren sehr genußreich. Selbstverständlich mußte man sich mit den erwachsenen Hauptpersonen »einschütteln«. Gewöhnlich saß man zuerst auf der Hutschachtel, in der irgendeine Tante ihre Sonntagshaube wie ein Nationalheiligtum verwahrte, oder man stieß mit den Füßen gegen die Knie eines empfindlichen Onkels; da gab es dann allerhand Erregungen, Schelte und Ermahnungen, bis wir Kleinen uns so dünn wie möglich gemacht hatten und kaum zu atmen wagten, aus Furcht, mit dieser Bewegung unsere Verwandtschaft auch noch zu belästigen. Endlich wird es still, über alle kommt eine gewisse Ruhe, langsam ziehn die Pferde den klappernden Wagen, hin und wieder stößt es einmal, der Wind bläst um das Gefährt, und die Sonne scheint grell in die schwach verhängten Fenster. Die beiden großen Brüder sitzen in der frischen Luft bei Hinrich, wir hören sie laut lachen und sprechen, wir aber empfinden plötzlich gar keine Lust zur Unterhaltung. Eine Zeitlang mache ich die Augen zu und will mir einbilden, daß es wundervoll sei, auszufahren, aber ich kann es nicht recht, und dann sehe ich verstohlen nach Jürgen hinüber, der totenblaß geworden ist und schon zum zwanzigstenmal fragt, ob wir noch nicht da wären. Und nicht lange, so kommt der Augenblick, wo ich mit zitternden Lippen kaum die Worte hervorbringen kann: Darf ich nicht am Fenster sitzen? Ich – ich muß – mich brechen!

Und dann sitzt Jürgen an dem einen und ich an dem anderen Fenster; der Wind bläst plötzlich in den dumpfen Wagen, die lauten Verwünschungen unserer Verwandtschaft sind uns ganz gleichgültig, und nachdem wir unser bedrängtes Innere erleichtert haben, merken wir nicht ohne eine gewisse Genugtuung, daß wir jetzt die besten Plätze im Wagen einnehmen, und daß sich die alten, dicken Tanten plötzlich merkwürdig dünn machen können. Diese Wahrnehmung gibt uns neuen Lebensmut: wir bitten um ein Butterbrot, weil wir das Bedürfnis empfinden, unseren angegriffenen Organismus wieder zu stärken, und als dieses Gesuch in Gnaden oder vielmehr in Ungnaden abgeschlagen wird, kommen wir uns so mißhandelt vor, daß wir uns vollständig berechtigt fühlen, etwas unartig zu werden. Ich habe schon lange mit dem Weinen gekämpft; jetzt heule ich, so laut ich nur kann, und freue mich über die blanken Tränen, die mir die Wangen herunterrollen, und die ich ganz gut sehen kann, wenn ich ein bißchen nach unten schiele. Jürgen weint auch, aber gemächlicher, während er unseren jüngeren Bruder, der unter einem Haufen von Mänteln gleich eingeschlafen ist, bei den Beinen zieht und so unsanft aufweckt, daß dieser sofort mit gellender Stimme die Leitung unseres Schrei-Terzetts übernimmt. Und dann hält Hinrich plötzlich an; irgend jemand öffnet die Wagentür, wir werden auf die Landstraße gesetzt, und während der alte Glaskasten langsam weiterschaukelt, weht uns der Salzwind um die Ohren und bringt uns auf andere Gedanken.

Wir sind nämlich am Sunde angelangt, und wenig Schritte vor uns sehen wir den aus großen Steinen bestehenden Strand, über den manchmal die Wellen schlagen. Etwas weiter entlang ist die starke Holzbrücke, an der die großen Boote zum Übersetzen liegen. Hier steht auch die Stange, an der die Flaggensignale gegeben werden. Sie biegt sich im Winde hin und her, und als wir dem Wasser zulaufen, fliegen uns kleine Stücke Seeschaum und Tang ins Gesicht. Dort ist das Wasser! Heute siehts in der Nähe grün und in der Ferne blau aus; manchmal fliegen funkelnde Sonnenlichter über die weißköpfigen Wellen; manchmal ist's, als wenn ein stahlgrauer Schleier über die glitzernde Fläche gebreitet würde. Unter den Bohlen der Brücke murrt leise die See. Manchmal wirft sie von unten zwischen die Spalten einen Regen von Gischt, manchmal kommt eine größere Welle und bewirft uns alle mit ihrem gelblichen Schaum, während die Boote fortwährend auf- und niedertanzen, halb vorwärts, halb seitwärts, und niemals aus der Bewegung kommen, und an jedem Fahrzeug gluckst das Wasser in einer anderen Tonart. Eins der größten wird bereits für uns »klar gemacht«, d. h. Niels Jens, der ein Fährknecht und unser Freund ist, schöpft mit einer großen hölzernen Kelle das Wasser heraus. Niels Jens ist ein großer Mann mit eisgrauem Bart und riesigen Wasserstiefeln. Er kaut beständig Tabak, spricht fast gar nicht, nickt uns aber immer gutmütig zu, wenn wir einmal am Sund erscheinen, und wir sind überzeugt, daß er uns gern hat.

Nachdem wir uns vergewissert haben, daß die Wasserfahrt bald vor sich geht, wenden mir uns dem Fährhause zu, das etwas mehr landeinwärts liegt. Ein Garten mit verwehten Bäumen und ein Dornenwall schützen es vor der Gewalt des Sturms, und dicke warme Luft schlägt uns entgegen, als wir in das beste Gastzimmer treten. Hier sitzen die Onkel und trinken einen Grog; die Tanten nippen an gefüllten Milchgläsern, und auf dem Tische steht ein Teller mit belegtem Butterbrot, auf den wir uns stürzen. Natürlich entsteht ein Streit, wer die größten Stücke haben soll, aber im ganzen sind wir doch ziemlich artig, denn die an den Wänden hängenden Bilder von Schiffen, einige Schiffsmodelle und vor allem eine Puppe unter Glas beschäftigen uns ungemein. Die Puppe stellt eine Dame aus Südamerika in ihrer Promenaden- oder Brauttoilette vor. Ganz in Mull gehüllt, die weit auseinandergebreiteten Arme in Glacéhandschuhe bis zum Ellenbogen gesteckt, sieht sie uns aus blöden schwarzen Augen so gespenstisch an, daß wir von der Schönheit der Südamerikanerinnen keinen großen Begriff bekommen. Alles Fragen beim Fährpächter, wo die Figur hergekommen sei, hilft nichts.

Die hat einer mal mitgebracht, aus Lima oder Valparaiso – so um die Gegend herum –, mehr wußte uns der gutmütige, aber auch schweigsame Mann nicht zu sagen, und unbefriedigten Herzens, aber mit gefülltem Magen ging es nun auf sein Geheiß nach der Brücke. Dort lag das große Boot mit den mächtigen Steinen als Ballast drin, die Segel schlappten am Mast, und Niels Jens stand mit weitgespreizten Beinen auf der mittleren Bank und verstaute uns gemächlich alle nacheinander in dem geräumigen Fahrzeug.

Wenn wir mit einem so vollen Wagen am Sund erschienen, gab es gewöhnlich verschiedenen weiblichen Besuch fortzubringen, der nun angesichts des unruhigen Wassers und der wenig bequemen Beförderungsweise vom Abschiedsschmerz übermannt wurde. Die Damen weinten meistens und überschütteten Niels Jens mit Fragen: ob das Boot auch sicher sei, wie lange die Überfahrt nach dem anderen Ufer dauern könne, ob es schaukeln würde, oder ob sie lieber einen anderen Tag wiederkommen sollten – Fragen, die unser Freund mit unverständlichem Grunzen und damit beantwortete, daß er die Fragerin anfaßte und ins Boot setzte. So störte er mit rauher Hand manche wehmütige Abschiedsszene, denn manche der zurückbleibenden Verwandten zogen es vor, die Wasserfahrt nicht mitzumachen. Wir Kinder aber saßen schon ungeduldig auf den geteerten Bootbänken, bespritzten uns mit Wasser und erwarteten sehnsüchtig den Augenblick, wo es los ginge. Endlich stößt Niels einen unverständlichen Laut aus, tief wühlt sich das Boot durch die Wellen, legt sich auf die eine, dann auf die andere Seite – klatschend fliegt das Segel herum, und wir sind mitten auf dem grün-blauen Wasser, über uns schweben die weißen Möwen, am Bug des Schiffes zischen die Wellen, und hin und wieder werden wir mit einem Sprühregen von Salzwasser übergossen. Es ist herrlich, und wir sind zuerst so stumm vor Entzücken, daß wir auf das Schreien einer bejahrten Tante gar nicht achten und erst allmählich dahinter kommen, daß ihr Mützenkorb sich nicht im Boot befindet, sondern selbständig hinter uns herschwimmt. Wie es gekommen ist, weiß kein Mensch; aber der heilige Gegenstand scheint es ergötzlich zu finden, seine eigenen Wege zu gehen, und als Niels nach einigem Besinnen die Ruderstange holt und den Ausreißer einfangen will, versinkt dieser in den Wellen, um nicht wieder zu erscheinen. Die Tante ist außer sich vor Schmerz, wir sind außer uns vor Vergnügen, und selbst Niels spuckt mehrere Male durch die Zahne aus, was immer ein Zeichen von besonders guter Laune bei ihm ist. Und dann müssen wir kreuzen, hierhin und dorthin, bald zurück, bald vorwärts. Bald wird das Segel auf diese Seite gelegt, bald auf jene; das Wasser wird immer unruhiger, und uns kommt es vor, als schaukelten wir beständig auf derselben Stelle. Immer tiefer sinkt das Boot, um dann wieder halb aus dem Wasser zu steigen; die Erwachsenen sitzen nachdenklich da, uns scheint es, als wenn dort jemand aus einer kleinen Flasche tränke – endlich sehen wir uns hilfeflehend nach Niels um, der dem beim Segel stehenden Schifferknecht zuruft: Klas, lang mi mal de Bütt her, de Kinner wart wöhlig von wühlen. in't Liv! Es waren meistens die einzigen Worte, die er während der Überfahrt sprach; aber sie waren bedeutungsvoll, denn von diesem Augenblick an hatten wir keinen rechten Genuß mehr von der Wasserfahrt. Eine merkwürdige Gleichgültigkeit bemächtigte sich unser; als wir endlich am Festlande anlegten, blickten wir verständnislos auf den sandigen Strand und die mit Seegras bedeckten Flächen und machten uns gar nicht klar, daß wir nun bis Italien zu Fuß gehen konnten, ohne daß sich die See hindernd dazwischen legte. Davon sprachen wir nämlich immer zu Hause. Jetzt aber ging unser Hauptverlangen dahin, möglichst bald wieder in den heimatlichen Fluren und in Großvaters Glaskutsche zu sein. Der Wunsch ging denn auch zu seiner Zeit in Erfüllung. Niels Jens lieferte uns zwar hohläugig, aber sonst unversehrt wieder an der Sundfähre ab; wir wurden in den Wagen gepackt, schliefen ein und wachten gewöhnlich erst auf, wenn uns das schlechte Straßenpflaster so durchschüttelte, daß wir mit den Köpfen zusammenstießen. Wie wir dann später ins Bett kamen, weiß ich nicht mehr, meine Erinnerung versagt bei diesem Punkte völlig; ich weiß nur, daß es am anderen Morgen herrlich war, aufzuwachen und den Kopf voll der schönsten Erinnerungen zu haben. Was hatten wir alles in wenig Stunden erlebt! Es war kaum auszudenken, und unseren Spielgefährten wurde so viel erzählt, daß sie uns sehr beneideten.

Wir kamen übrigens auch noch auf andere Weise übers Wasser: an lauen Sommertagen, wo der Wind kaum die Segel füllte, wo die See glatt war wie Atlas, wo an Seekrankheit nicht gedacht wurde, und wo uns Niels Jens das Blinkern lehrte. Wir warfen einen blanken, schweren Bleifisch ins Wasser, und die großen Dorsche kamen und schnappten danach, was ihnen schlecht bekam; denn an einem versteckten Haken hingen sie fest, und mit einer an dem Lockfisch befindlichen Leine wurden sie an die Oberfläche gezogen. So war es wenigstens in der Theorie. In der Praxis haben wir höchst selten einmal auf diese Art einen Fisch gefangen, und wir ärgerten uns außerordentlich über Niels, der einen ganzen Eimer voll Dorsch blinkerte.

Einmal erlebten wir auf dem Wasser ein Abenteuer, daß ich jetzt nicht mehr mit so viel Fassung tragen würde wie damals. Es war an einem grauen Sommertage, wie wir sie so häufig in unserem trüben Norden haben: grauer Himmel und graue See, auf der fast keine Bewegung zu sein schien. Wir sollten irgendeinen Besuch abholen, der vom Festlande mit Extrapost am anderen Ufer ankommen sollte. Dann zog man dort einen schwarzen Korb an der Signalstange empor, und Niels Jens holte, von uns begleitet, mit seinem Boote die Erwarteten ab. Aber zu damaliger gemütlicher Zeit blieb die Extrapost gerade so oft in den tiefen Sandwegen stecken wie die anderen Posten: wir hatten schon stundenlang auf dem Wasser gelegen und gänzlich erfolglos geblinkert; und noch immer war das Signal nicht gegeben, daß der erwartete Wagen sein Ziel, die äußerste Spitze des Festlandes, erreicht habe. Dieser Umstand beunruhigte uns indessen gar nicht; wir überredeten Niels, mit uns in die freie See zu fahren, was er denn auch tat. Am Tage vorher war ein sehr starkes Gewitter gewesen, das in unserer flachen Landschaft viel Unheil angerichtet hatte; wir erzählten Niels, daß in unseren Kirchturm der Blitz eingeschlagen hätte, ohne zu zünden, daß ein kleines Haus in Brand geraten sei, und was der Geschichten mehr waren. Er hörte uns in seiner stillen Weise zu, spuckte durch die Zähne und sagte kein Wort. Es war fast gar kein Wind, das große geflickte Segel schlug müde gegen den Mast, und das Boot bewegte sich nur langsam vorwärts. Ich hatte die Hände bis zum Ellbogen in das laue Wasser gesteckt und griff nach kleinen abgerissenen Stücken Seegras.

»Sieh mal, Niels,« sagte ich schläfrig, »hier guckt ein Pfahl aus dem Wasser!«

Mit einem langen Schritt stand der alte Seemann neben mir, und seine scharfen Augen schienen das graue Wasser durchbohren zu wollen. Da war der »Pfahl«, die Spitze eines schlanken Mastes, neben dem allerhand Tauwerk schwamm! Unser Boot lag ganz ohne Bewegung; Niels rief dem hinten sitzenden Schifferjungen ein paar Worte zu, dieser zog die hohen Stiefel aus und glitt plötzlich fast geräuschlos ins Wasser. Es war still in unserem Boot. Niels stand, mit einem Ruderpatten in der Hand, bewegungslos wie aus Stein gehauen; nur an dem Funkeln seiner Augen konnte man erkennen, daß er aufgeregt war. Da tauchte der flachsblonde Kopf des Jungen wieder aus dem Wasser; aber er war nicht mehr allein – hinter ihm hebt sich's leise, von den flüsternden Wellen liebkosend getragen. Es ist ein blasses, ernstes Menschenantlitz, in das wir sehen, noch unentstellt von der Häßlichkeit des Todes, mit dem Ausdruck des Friedens in seinen Zügen.

Da hängen noch zwei mehr in der Rigging, aber ich konnte sie nicht loskriegen! berichtete der Junge, indem er sich am Bootrande festhält. Scheint ne Jacht aus Lübeck zu sein – gerade so'n Takelwerk, wie sie da immer haben! Wird wohl im Gewitter auf'n Stein getrieben sein!

Jetzt sitzt er vorn im Boot, schüttelt sich wie eine Ente, und hinten auf einem Stück Segeltuch liegt der tote Seemann. Niels hat ihm ein Tuch über das Gesicht gelegt, und wir können von ihm nur die Hand sehen, an der ein Trauring wie eingewachsen scheint. Und dann kommt plötzlich die Sonne durch die grauen Wolken, ein goldener Schein zittert über der düsteren See, und violette Lichter tanzen neben unserem Boot auf und nieder. Ich kann es nicht länger aushalten. Plötzlich sitze ich neben dem Toten, habe ihm das Tuch vom Gesicht genommen und rufe Niels zu, der mich daran hindern will: »Oh, laß ihn die Sonne doch noch einmal bescheinen, nur noch ein einziges Mal!« Und Niels läßt mich gewähren. »Er liebt ja die Sonne wie ich, wie wir alle, die wir im Nebellande geboren sind.« Dann rudern wir leise an die Brücke und sprechen kein Wort.

Inzwischen war unser Gast angekommen und von einem anderen Boote bereits abgeholt worden, so daß er auf uns gewartet hatte und uns nicht sehr freundlich begrüßte. Es war damals so schwer, zu uns zu gelangen, und auf einer bestimmten Stelle des Festlandes warfen die Wagen so oft um, daß die uns besuchenden Verwandten eigentlich Anspruch auf eine Belohnung machten, wenn sie ihr teures Leben unsertwegen in die verschiedensten Gefahren brachten. Später, wenn sie sich bei uns erholt hatten, trennten sie sich wieder ungern, und so kam niemand auf kürzere Zeit. Heute waren wir nun so voll von unserem Erlebnis, daß unsere Begrüßung wahrscheinlich sehr gleichgültig ausfiel, und daß sich unser Besuch, ein älterer Herr, fröstelnd in die Wagenecke setzte und sehr einsilbig wurde. Er mochte natürlich nicht gleich bei seiner Ankunft von Gewitter und Schiffbruch und Tod hören und war nicht erfreut von unserer Vorliebe für diese Art von Unterhaltung. Ich denke mir aber jetzt zu meiner nachträglichen Beruhigung, daß wir nicht allzulange von diesen Dingen gesprochen haben, und daß er allmählich etwas mehr Gefallen an uns gefunden hat. Von dem Ertrunkenen mußte er allerdings noch öfter hören, denn als dieser auf unserem Kirchhof beerdigt wurde, liefen wir Kinder alle mit, und wir haben noch lange Blumen auf einen Grabhügel gelegt, der ohne uns bald vergessen worden wäre. Wir aber hatten ein entschiedenes Eigentumsrecht auf dieses einsame Grab, und wir haben es viele Jahre treu gepflegt, obgleich es weder Kreuz noch Stein kenntlich machte. Den Namen »unseres Seemanns«, wie wir ihn nannten, haben wir niemals erfahren; was fragt auch ein Kind nach Namen – der liebe Gott wußte, wie er hieß, das genügte uns. Noch oft sind wir übers Wasser gefahren; bei allen Jahreszeiten, beim schönsten und beim schlechtesten Wetter, echte Seekinder, hin und wieder seekrank, aber niemals ängstlich und den gefährlichen Augenblicken mit derselben Ruhe entgegensehend, wie wir sie an unseren Seeleuten kannten. Niemals aber haben wir wieder einen so stillen Gast »an Land« gebracht, wie damals, obgleich wir in kindischer Neugier oft genug danach aussahen. Jetzt hoffe ich sehr, daß ich es nie wieder erleben werde.


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