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Großvaters Schreiber

Unseres Großvaters Schreiber wußte alle Neuigkeiten der Stadt und der Umgegend, und kein Mensch verstand so wie er, aus kleinen, harmlosen Begebenheiten eine große, wichtige Geschichte zu machen. Auch gab es wohl niemand in der kleinen Stadt, dessen äußere Erscheinung so allgemein bekannt gewesen wäre, wie die von Großvaters Schreiber. Herr Seckertär nannten ihn die Leute, und Rasmus Rasmussen ließ sich diese Bezeichnung mit wohlwollender Herablassung gefallen, ebenso wie die kleinen Schnäpse, die er sich als Tribut seiner hervorragenden Stellung hin und wieder einschenken ließ. Wer Rasmus reden hörte, mußte glauben, daß das Wohl und Wehe des ganzen Bezirks von ihm abhinge, daß alle Beamten, vom Amtmann abwärts, eigentlich nur ihm zu gehorchen hätten, ja daß er mit dem König selbst auf vertrautem Fuße stünde. Besonders regten ihn die gebrannten Wasser auf die angenehmste Weise an, und wenn er nach einem Rundgang in den verschiedenen kleinen Wirtschaften der Stadt wieder zum Schreibpult zurückkehrte, so floß sein Mund über von den interessantesten Geschichten.

Wenn wir ihn in diesen Augenblicken der Verzückung besuchten, so hatte Rasmus für uns eine große Anziehungskraft. Er saß gewöhnlich an seinem Pult und schnitt Gänsefedern, probierte auch wohl eine oder die andere, während er seiner beredten Phantasie den freiesten Lauf ließ. Wir hockten auf Schemeln und Tischecken der alten räuchrigen und staubigen Schreibstube und regten unseren Freund zu immer weiteren Mitteilungen an. Durch jahrelange Bekanntschaft wußten wir ziemlich genau, was er uns erzählen würde, und mein Bruder Jürgen hatte Rasmus Geschichten förmlich in Klassen gebracht, die sich nach der Anzahl seiner Schnäpse richteten. Hatte er z. B. am Morgen nur zwei oder drei »Lütjenburger« genommen, dann berichtete er uns aus seiner weit hinter ihm liegenden Kindheit. Wie er sich immer so artig und brav betragen, wie er niemals »nachgesessen« hätte, wie er fast nie bestraft worden und stets ein Musterknabe gewesen sei. Obgleich sein rührendes Selbstlob mit vielen schönen Beispielen belegt wurde, so mochten wir diese Geschichten doch am wenigsten hören. Uns war es lieber, wenn Rasmus einige Schnäpse mehr getrunken hatte, weil er uns dann von den Irrfahrten seiner Jugend- und Mannesjahre berichtete. Er hatte nach unserer Ansicht die halbe Welt gesehen, denn er war in Hamburg Bierbrauer und in Kopenhagen Kaufmann gewesen, und einmal war er sogar zu Schiff von Fridericia nach Sonderburg gefahren, eine Reise, bei der Rasmus Meerungeheuer, Walfische, Delphine, ja sogar ein Meerweib erblickt hatte, bei dessen Beschreibung uns die Haare zu Berge standen. Denn das wußten wir ganz genau: wenn man einem Meerweibe begegnet, dann muß man sterben. Wann? ist freilich nicht bestimmt angegeben; denn die Meerfräulein haben die schlechte Angewohnheit, stumm zu sein, und manchmal lassen sie die Menschen noch vierzig bis sechzig Jahre leben, nachdem sie ihnen erschienen sind. Sie sind eben ganz abscheulich unberechenbar, wie alle Weiber, sagte Rasmus mit einem Seufzer, und wir seufzten teilnahmvoll mit ihm. Der arme Rasmus war nämlich einmal von einem Mädchen angeführt worden, und wir verstanden es sehr gut, daß er jetzt alle Weiber verachtete und immer höhnisch lachte, wenn von Heiraten und Verloben die Rede war. Wir wußten noch mehr: denn wenn Rasmus mehr als acht »Lütjenburger« getrunken hatte – Jürgen kannte die genaue Zahl –, so erzählte er uns von seiner jetzigen Braut. Es war eine rührende Geschichte, und daß ihm manchmal dabei die Tränen über die dicken Backen liefen, fanden wir selbstverständlich. Sie war so schön, so reich, so vornehm, und sie liebte Rasmus so glühend, daß ihm die Worte bei der Beschreibung dieser Leidenschaft ausgingen. Wir aber verstanden durch Fragen nachzuhelfen, die, wenn auch nur praktischer Natur, doch dazu beitrugen, die Geschichte für uns noch anziehender zu machen. O, was ist sie schön! stöhnte Rasmus, indem er mit seinen verschwommenen Augen die geschwärzte Zimmerdecke anstarrte. Schwarze Augen und blondes Haar, und jeden Tag ein seidnes Kleid an. Und immer Nachtisch beim Mittagessen, und abends Teepunsch und belegtes Butterbrot!

»Womit war es belegt?« fragte Jürgen, und Rasmus wurde nachdenklich.

»Mit Frikandellen und Käse!« murmelte er, während Jürgen die Achseln zuckte.

»Frikandellen mag ich gar nicht gern; wenn das meine Braut wäre, hätte sie mir Kalbsbraten mit Gelee geben müssen!«

Und nun kam die Reihe des Fragens an mich. »Weshalb hat deine Braut heute wieder schwarze Augen, Rasmus? Neulich hatte sie blaue, und die habe ich viel lieber!«

»Sie hat wahrscheinlich ein blaues und ein schwarzes Auge!« schlug Jürgen vor, und da mir ein kleines Mädchen kannten, die wirklich diese Naturmerkwürdigkeit besaß, so war ich mit diesem Kompromiß zufrieden.

Rasmus weinte inzwischen. Er wollte Federn schneiden, aber er ließ die Hand mit dem Messer sinken. »Was hat sie mich lieb!« schluchzte er. »Wenn sie mich sieht, dann wird sie ganz steif, und ihre Beine kriegen das Zittern – alles aus Liebe!«

Diese Mitteilung ließ uns kalt. Nach gelegentlichen Äußerungen von Erwachsenen mußten wir annehmen, daß die Liebe ein ganz absonderlicher Zustand sei – weshalb sollte man nicht vor Liebe steif werden können?

»Weshalb hast du deine Braut eigentlich nicht hier?« fragten wir wohl gelegentlich. »Sie könnte ja gut bei dir wohnen!«

Dann schüttelte Rasmus den Kopf. »Hier wohnen? In dieser Hütte? Meine Braut? Habe ich euch denn nicht gesagt, daß sie in Hamburg wohnt! Hamburg und hier!« Er lachte spöttisch, und wir stammelten einige Worte der Entschuldigung.

Rasmus Schreibstube ging auf den Hof hinaus und besaß keine sehr aufregende Aussicht. Eine Pumpe und der dahinter liegende Pferdestall bildeten die einzigen sichtbaren Gegenstände, mit denen sich die Phantasie des Schreibers beschäftigen konnte; dann war noch eine nach der Straße führende Pforte, die meistens offen stand. Durch diese Pforte kamen die Schulkinder in den Hof gelaufen, um sich Wasser in Mützen und Papiertüten zu holen, eine Liebhaberei, die den Hof zu gewissen Stunden recht lebhaft machte. Denn Rasmus fand die Benutzung »seiner« Pumpe sehr überflüssig und schalt die Kinder in seinem etwas fehlerhaften Deutsch oftmals aus; oder er jagte sie in höchsteigner Person fort, ein Unternehmen, das dem großen, unholfenen, meist ein wenig angetrunkenen Manne nur unvollkommen gelang, und das dann allgemeine Fröhlichkeit erregte. Abends aber war der Hof einsam und verlassen, und wir Kinder gingen dann ganz gewiß nicht allein hin, weil es, wohlverbürgten Gerüchten zufolge, lebhaft darin spuken, oder wie man bei uns sagte, »spökeln« sollte. Irgend eine Dame, die in ihrem irdischen Dasein geizig gewesen war und ihren Dienstboten nicht genug zu essen gegeben hatte, war jetzt dazu verdammt, auf dem Hofe und in den unteren Räumen unseres Hauses zu spökeln. Sie huschte mit drei Lichtern in der Hand bald hier, bald dort herum und benahm sich für ein Gespenst ziemlich leichtsinnig, da sie durchaus kein festes Standquartier besaß und es besonders darauf abgesehen hatte, den Dienstmädchen gerade dann zu erscheinen, wenn sie am lustigsten waren.

Wir Kinder glaubten felsenfest an die weiße Frau, und deshalb hüteten wir uns wohl, im Dunkeln über den Hof nach der Pumpe zu gehen. Einmal aber mußte ich doch den schweren Weg machen. Das war, als ich an einem warmen Sommertage versucht hatte, aus meinem Strohhut Wasser zu trinken, ein Versuch, dessen Ergebnis ziemlich verblüffend gewesen war. Wahrscheinlich war meine Kopfbedeckung nicht aus gutem Stroh, sondern aus irgend einem billigen Bast geflochten, jedenfalls hatte sie Form und Farbe bis zu einem solchen Grade verloren, daß ich mein unglückseliges Eigentum auf die Pumpenspitze drückte und den festen Vorsatz faßte, es ruhig dort sitzen zu lassen. Aber die Menschen sind neugierig. Mutter wollte plötzlich wissen, wo der »gute Hut« sei, und erzählte mir beiläufig, wie vorsichtig sie immer mit ihren Sachen umgegangen sei. Großvater, der sonst nie darauf achtete, ob seine Enkel überhaupt bekleidet waren, verlangte mit einemmal, ich solle in der Sonne nicht ohne Hut gehen, und selbst Jürgen meinte, wenn man so häßlich wäre wie ich, könnte ein Hut nur nützlich sein, weil man ihn so aufsetzen könnte, daß das Gesicht nicht zu sehen sei.

So näherte ich mich denn, obgleich es schon recht dämmrig geworden war, mit vorsichtigen Schritten der nach der Straße führenden Hoftür und schielte durch die Türöffnung nach der Pumpe. Nur die Pumpe wollte ich sehen, das hatte ich mir fest vorgenommen, und sollte das weiße Gespenst mit seinen drei Lichtern irgendwo auf dem Hofe umherstöbern, wollte ich es durch meine Blicke sicherlich nicht erzürnen. Mein Hut, eine weiße Ruine, hing unbeweglich auf dem Pumpenknaufe – was aber bewegte sich neben der Pumpe? Es war nicht die weiße Frau; ein ganz in dunkle Gewänder gehülltes Wesen stand dicht neben Rasmus Fenster, und dieser selbst hatte sich so weit aus eben diesem Fenster herausgelehnt, als es nur eben ging. Mit beiden Armen hatte er die Gestalt umfaßt, küßte mehreremal und sehr laut ein ihm zugewandtes Gesicht und flüsterte dabei mit gerührter Stimme einige Worte, deren Sinn ich nicht verstand. Einen Augenblick war ich starr vor Staunen; dann huschte ich nach der Pumpe, nahm meinen Hut und zog mich leise zurück. Keiner der zwei Liebenden hatte mich bemerkt; ich aber ging fort mit dem Bewußtsein, etwas Sonderbares gesehen zu haben und doch nicht genau die Bedeutung des Gesehenen zu kennen. Trotz seiner Verhüllung hatte ich übrigens das weibliche Wesen sofort erkannt, und ich würde von meinem Erlebnis gewiß anderen Mitteilung gemacht haben, wenn nicht der unglückselige Hut meine Gedanken gänzlich ausgefüllt hätte. Mein reumütiges Geständnis half mir wenig: ich bekam sehr viele Schelte, mußte ohne Abendbrot mein Lager aufsuchen und empfand eine so tiefe Zerknirschung über meine allgemeine Sündhaftigkeit, daß ich erst am anderen Morgen, als die Sonne schien, wieder die gewohnte Lebensfreudigkeit in mir fühlte. Mit dem Vergnügen am Dasein kehrte auch die Erinnerung an das Erlebnis des gestrigen Tages zurück, und bald steckten Jürgen und ich die Köpfe zusammen zu wichtiger Unterhaltung, deren Gegenstand Mamsell Hansen bildete. Denn so hieß die Dame, die von Rasmus so innig geküßt worden war. War sie seine Braut oder seine Frau? Und weshalb küßten sie sich im Dunkeln? Und was würde die andere Braut, die das Zittern bekam, dazu sagen, wenn Rasmus hier noch eine Braut hätte?

Jürgen, dem immer gleich seine biblischen Geschichten einfielen, bemerkte hierzu, daß Abraham zwei oder drei Frauen gehabt, und daß auch Jakob erst Lea und dann Rahel geheiratet habe. Aber Mamsell Hansen hatte nach der Bilderbibel gar keine Ähnlichkeit mit Rahel. Sie war klein, dick und besaß einen recht ansehnlichen grauschwarzen Schnurrbart, um den alle größeren Jungen sie beneideten. Sie hatte eine Leidenschaft für Menschen, die böse Finger oder die Rose hatten; dann verband oder »besprach« sie das kranke Glied und gab alle Medizin umsonst, so daß sie sich unter der dienenden Klasse eines großen Zuspruchs erfreute. Vor Jahren war einmal ein sogenannter Gesundheitsapostel, Ernst Mahner mit Namen, im Städtchen erschienen; zu seinen Hauptjüngerinnen hatte Mamsell Hansen gehört. Auf den Befehl dieses Mannes hatte sie jeden Morgen ein kaltes Bad genommen und war dann ohne jede Bekleidung im Garten spazieren gegangen, damit die Sonne auf ihren ganzen Körper wirken könne. Selbstverständlich war dieser Spaziergang immer in aller Herrgottsfrühe gewesen; aber die bösartige Jugend des Städtchens war noch früher auf den Beinen gewesen, sogar das Stadtoberhaupt hatte sich aufgeregt, und der armen kleinen Mamsell wurde es nicht vergönnt, die Sonne nach Mahnerscher Manier auf sich wirken zu lassen. In unserem kalten Norden hatte man für paradiesische Trachten so wenig Verständnis, daß Mamsell Hansen seit der Zeit für ein wenig übergeschnappt galt, und daß Jürgen und ich uns sorgenvoll anblickten bei dem Gedanken, daß Rasmus, der kluge Rasmus, einen so sonderbaren Geschmack entwickelte. Selbstverständlich wollten wir ihn fragen, was er eigentlich mit Mamsell Hansen vorhabe; aber es war gerade eine sehr beschäftigte Zeit. Mein Großvater nahm den Schreiber ganz in Anspruch, er kam nicht dazu, seine geliebten Schnäpse zu trinken, und als er wieder mehr Ruhe fand, war unsere erste Erregung über Mamsell Hansen verflogen.

Da geschah es eines Tages, daß die Genannte, am Fenster ihres Hauses stehend, Jürgen und mich heranwinkten. Wir hatten gerade nichts Besonderes zu tun und folgten mit großem Vergnügen ihrer Einladung, ein bißchen zu ihr »einzukommen«, wie sie sagte. Es war sehr gemütlich in ihrem Altjungferstübchen mit dem blanken Kaffeegeschirr auf dem Tisch, und bald saßen wir beide vor einer vollen Tasse und »stippten« Kuchen hinein. Auch die Unterhaltung riß nicht ab. Wir gehörten nicht zu den Kindern, die den Finger in den Mund stecken und trübselig um sich starren, wenn sie Rede und Antwort stehen sollen; wir berichteten heiteren Herzens alles, was wir wußten. Wir nahmen natürlich an, daß Mamsell Hansen sich gerade so für unsere Familie interessiere, wie wir selbst, und so erzählten wir denn, daß unser jüngstes Brüderchen schon anfange zu laufen, daß der älteste einen Anzug beim wirklichen Schneider gemacht bekommen, und daß wir heute Klöße mit Pflaumen gegessen hätten. Freundlich hörte Mamsell Hansen uns an, mit großer Freigebigkeit bot sie ihren Kuchen an, und da sie überhaupt ein gutes Gesicht hatte, so faßten wir unbegrenztes Zutrauen zu ihr. Plötzlich, ich weiß nicht mehr, wie es kam, sprachen wir von Rasmus. »Nicht wahr, er ist ein sehr netter Mann,« fragte die kleine Mamsell, und wir nickten mit vollen Backen. »O, er ist riesig gut – und so stark, daß er uns an seinen Daumen zehn Minuten lang in der Luft hängen läßt, und wie schön sind seine blanken Westen, in denen man sich beinahe spiegeln kann. Und was kann Rasmus für Schnaps trinken!« setzte Jürgen nachdenklich hinzu. »Ja, Mamsell Hansen, das glaubst du gar nicht, was er vertragen kann. Neulich bin ich mal mit ihm gegangen, als er was zu besorgen hatte, und da sind wir überall eingekehrt, und Rasmus hat gewiß vierzehn Lütjenburger getrunken. Und nachher konnte er gar nicht mehr genau den Weg sehen, aber vergnügt war er ordentlich, das ist wahr!«

Trotz dieser Lobeserhebung schien Mamsell Hansen von dem eben Mitgeteilten nicht besonders entzückt zu sein. Sie seufzte, wischte sich ein wenig die Augen, nahm einen Schluck Kaffee und murmelte dann allerlei von Übertreibung, daß man nicht auf schlechte Menschen hören solle, und was dergleichen mehr war. Wir nickten wohlwollend, obgleich wir ihre Worte nicht verstanden, und ich beschloß, auch mein Scherflein zu Rasmus' Lobe beizutragen.

»Seine Braut hat ihn auch so furchtbar lieb!« berichtete ich, indem ich meine zweite Tasse Kaffee zufrieden umrührte. »Sie kriegt immer das Zittern, sobald sie ihn sieht, und sie hat ein seidnes Kleid an, und jeden Tag gibt es Nachtisch bei ihr! Mamsell Hansen, darf ich noch ein Stück Zucker haben? Jürgen hat zwei genommen. Nächstens kommt sie auch zu Rasmus zum Besuch!«

»Das ist noch gar nicht gewiß!« unterbrach mich Jürgen. »Großvater muß seine Erlaubnis dazu geben, und er ist noch nicht gefragt worden! Und du hast gar nicht gesagt, wo sie das Zittern kriegt, wenn sie Rasmus sieht. In den Knien kriegt sie es!«

»In den Beinen!« widersprach ich.

»Sie wird ganz steif vor lauter Liebe, und dann muß sie an einem Glase riechen, wo Salmiakgeist darin ist. und –«

»In den Knien bekommt sie das Zittern!« schrie Jürgen, der meinen Widerspruch stets sehr übel nahm. »Rasmus hat es mir erst gestern selbst gesagt, und du bist ein –«

Aber er stockte in seiner Rede, und auch ich starrte sprachlos auf Mamsell Hansen, die, das Taschentuch vor ihr Gesicht gedrückt, in ihrem Stuhl lag und weinte. Große Tränen rollten über ihre roten Wangen, und ihr Stöhnen klang so erbärmlich, daß auch mein Herz ein Gefühl unendlicher Wehmut beschlich. Schon rieb ich an meinen Augen herum, während ich plötzlich glühende Sehnsucht nach meinen Eltern und den kleinen Geschwistern empfand, als sich Bruder Jürgen zum Herrn der Situation machte.

»Trinke deinen Kaffee aus!« flüsterte er mir zu. »Wir wollen nach Hause gehn, Mamsell Hansen hat gewiß einen schlimmen Finger bekommen, das tut weh, und dabei muß man immer weinen!«

Da schlimme Finger gewissermaßen zu Mamsell Hansens Attributen gehörten, fand ich diese Erklärung sehr glaubwürdig. Meine schmerzliche Rührung war verflogen, und mit vielen Danksagungen und Wünschen für »gute Besserung« verließen wir Mamsell Hansens gastliches Dach, während sie noch immer in Tränen schwamm. Unaufgefordert versprachen wir auch bald wieder zu kommen und berichteten den anderen aufhorchenden Geschwistern von so viel Kaffee und Kuchen, daß den älteren das Wasser im Munde zusammenlief und sie uns prügelten, weil wir ihnen nichts mitgebracht hatten. Natürlich besuchten wir Mamsell Hansen am nächsten Tage wieder, und zwei der älteren Brüder gingen mit, um festzustellen, ob sich alles so verhielte, wie wir berichtet hatten; aber die Haustür der guten Jungfrau war verschlossen, und die Fenster verhängt. Eine Nachbarin sagte, sie sei aufs Land gegangen zu ihrem Bruder, und wir mußten nicht allein unverrichteter Sache wieder abziehen, sondern uns auch noch allerhand spöttische Neckereien von den Großen gefallen lassen, die, wie so oft, so auch jetzt wieder behaupteten, daß Jürgen und ich unleidliche Großmäuler seien, denen man gar nichts mehr glauben könne. Und weil sie uns tagelang fragten, ob wir nicht wieder Kaffee bei Mamsell Hansen trinken wollten, so war es ganz begreiflich, daß wir von unserer so schnell erworbenen und plötzlich so grausam wieder verlorenen Freundin nicht gern mehr sprachen.

Rasmus hatte sich übrigens auch verändert. Er erzählte uns keine Geschichten mehr, ging uns vielmehr aus dem Wege, sah böse aus, wenn wir mit ihm sprachen, und was uns alle im höchsten Maße interessierte: Großvater jagte ihn zweimal fort. Der Schreiber ging zwar nicht, sondern blieb hartnäckig an seinem Posten; aber für uns Kinder war doch die ganze Geschichte sehr aufregend. Weshalb sagte Großvater, Rasmus solle machen, daß er fortkäme, als wir gerade alle bei Tische saßen, und der Schreiber mit seligem Gesicht hereinkam? Die Größeren hatten es bald heraus – es war der Schnaps aus Lütjenburg, der Rasmus so gleichgültig, so blaurot, so sonderbar machte –, und allmählich begannen wir den großen, starken Mann, der sich von einem kleinen Glase beherrschen ließ, zu verachten. Mochte er uns in seinen nüchternen Augenblicken auch noch die städtischen Neuigkeiten und sonstigen Mordgeschichten erzählen, wir hörten ihm wohl zu, aber wir besuchten ihn nicht mehr in seiner Schreibstube, und unsere vertrauliche Freundschaft für ihn hörte vollständig auf.

Es war gewiß ein Jahr vergangen, seitdem Mamsell Hansen aufs Land gegangen war; da erschien sie eines Tages wieder in der kleinen Stadt. Wir hatten sie noch nicht gesehen, aber ein junger Onkel von uns erzählte bei Tisch, daß er ihr begegnet sei. Sie hatte einen famosen Schnurrbart, setzte er halb lachend, halb neidisch hinzu, und ich sah zu Rasmus hinüber, der unten am Tische saß und eifrig zu essen schien. Er sagte kein Wort, obgleich noch allerhand Spöttisches über die gute Mamsell geredet wurde. Ich aber fühlte mich veranlaßt, ihre Verteidigung zu übernehmen.

»Mamsell Hansen ist sehr nett, nicht wahr, Rasmus?«

Der Angeredete bekam einen roten Kopf. »Ich kenne die Dame gar nicht!« sagte er so bestimmt, daß meine Augen rund vor Staunen wurden.

»Du kennst sie nicht? Und vorigen Sommer hast du sie hinter der Pumpe geküßt und deine Arme um sie geschlungen. Ich habe euch wohl gesehen, und Jürgen weiß es auch, und als wir nachher bei Mamsell Hansen Kaffee tranken, hat sie so viel nach dir gefragt, und wir erzählten ihr von deiner anderen Braut, und nachher weinte sie, weil sie einen schlimmen Finger bekam, und da –« aber weiter kam ich nicht. Zu Anfang meiner Rede war bei Tisch eine große Stille entstanden, nun sprachen alle durcheinander und sagten zu mir, Kinder dürften nicht so viel erzählen, das schicke sich nicht. Und weil Rasmus jetzt aufstand und erklärte, unaufschiebbare Geschäfte zu haben, und weil der Pudding gerade ins Zimmer gebracht wurde, so dachte ich bald an etwas anderes und konnte nicht recht begreifen, weshalb der Onkel so furchtbar lachte, und weshalb ich ihm später noch einmal erzählen mußte, was ich mit Rasmus und mit Mamsell Hansen erlebt hatte. So war ich es leider gewesen, die mit kindischer Hand den Schleier weggerissen hatte von einem zarten Verhältnis, das viele Jahre hindurch nur in verstohlenen Spaziergängen und in noch heimlicheren Zusammenkünften bestand. Denn Mamsell Hansen verzieh dem Schreiber jene glühende Braut, die das Zittern bekam, sobald sie erfuhr, daß dieses entzückende Wesen schon lange verheiratet war und von Rasmus nur aus der Entfernung angebetet wurde. Wie sich die Versöhnung der Liebenden machte, weiß ich nicht; sie kam aber zustande, und etwa acht Jahre später führte Rasmus seine letzte Liebe zum Altar, nachdem sein Brautstand niemals veröffentlicht und doch von allen anerkannt worden war. In der Zwischenzeit geschah allerlei Bemerkenswertes: unser Land wurde z. B. von den Preußen erobert, ein Ereignis, das unseren Rasmus sehr ärgerte, weil er sich plötzlich seiner dänischen Geburt entsann. Er verhielt sich in Gesellschaft der unser Haus besuchenden preußischen Offiziere meistens sehr still und drückte sich in den dunkelsten Ecken herum. Sah er uns Kinder aber allein, dann stieß er allerhand geheimnisvolle Drohungen gegen die »frechen Kerls« aus und behauptete, sie sollten ihn noch alle kennen lernen. Selbst seine Braut vernachlässigte er in diesen Zeiten, und als er erfuhr, daß Mamsell Hansen preußische Soldaten ins Quartier genommen hatte, wuchs sein Zorn gegen die siegreiche Armee bis ins Unendliche. Getan aber hat er den Preußen niemals etwas, und diese waren schließlich die Urheber seines Glückes; denn trotz seiner dänischen Geburt und seiner Vorliebe für den Lütjenburger Schnaps ist Rasmus Rasmussen als wohlbestallter preußischer Amtsgerichtssekretär gestorben, und Mamsell Hansen durfte als Frau Sekretärin den Lebensabend ihrer langjährigen Liebe verschönern. Als ich sie zuletzt sah, war ihr Schnurrbart schneeweiß geworden; sonst sah sie gesund aus und sprach mit Rührung von ihrem verstorbenen Eheherrn: Er war ein guter Mann, und sein Herz war erst recht gut, und Herr Justizrat war der beste von allen. Denn wenn er nicht immer mit Rasmus Geduld gehabt hätte, dann wäre der ja nicht Sekretär geworden, wo ich nun die schöne Pangschon von kriege. Und wenn Rasmus den Lütjenburger nicht so gern gehabt hätte, könnte er es heute noch gut bei mir haben! Aber sterben müssen wir alle, und wens zuerst trifft, der ist auch zuerst damit durch!

Frau Rasmussen sprach noch eine Weile so weiter, und ich kam nicht in die Lage, ihr Trostworte sagen zu müssen. Und doch sah ich im Geiste den dunkeln Hof so deutlich vor mir, auf dem zwei Liebende zärtlich sich umfangen hielten. Frau Rasmussen wollte durchaus, daß ich bei ihr Kaffee trinken und das Buch vom gesunden und kranken Menschen lesen sollte, auf das sie große Stücke hielt; ich dankte indessen und ging hinüber in den Hof, aus dem die Pumpe aber verschwunden war. Unser Spielplatz war ein Kohlgarten geworden, und als ich mich nach unserem Hausgeist erkundigte, hieß es, daß selbst diese Dame verschwunden sei und sich gar nicht mehr blicken lasse. Wenn aber sogar die Gespenster das Geschäft des »Spökelns« aufgeben, wie langweilig muß die Welt geworden sein! Da kommen die Kinder aus der Schule! Wie vernünftig gehn sie, und welch einen Packen neuer Schulbücher tragen sie! – Ihr Armen! Wir waren lange nicht so klug; unsere Bücher waren lange nicht so schön; und wir hatten es dennoch viel, viel besser!


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