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Tante Feddersen

Wir kannten sie alle, die ältliche Jungfrau mit der steifen Haltung und dem großen Strickbeutel, und wenn wir ihr begegneten, drückten wir uns scheu an ihr vorbei. Denn die meisten von uns lernten bei ihr Schreiben und Lesen und kannten genau ihr Lineal, mit dem sie sehr rücksichtslos umzugehen pflegte. Wie eine Königin thronte sie in einer engen, heißen Stube, und um sie herum saß auf kleinen Stühlen und Holzschemeln die Jugend beider Geschlechter im Alter von drei bis sechs Jahren und malte Striche auf die Tafel oder schrie im Chor: a-b, ab, b-a, ba. Tante Feddersen selbst strickte beim Unterricht Strümpfe und Unterjacken und trug dabei eine Hornbrille auf der Nase, die nur wie durch ein Wunder des Himmels nicht herunterfiel, sondern auf der äußersten Spitze ihres sehr entwickelten Atmungsorgans hing. Ich genoß keine Unterweisung bei Tante Feddersen, weil ich im Hause unterrichtet wurde; als aber mein jüngerer Bruder in die Jahre kam, wo kinderreiche Eltern ihre Sprößlinge gern für einige Zeit los sind, schickte man ihn in die Kleinkinderschule. Nach einer Stunde kam er weinend wieder angelaufen. Es stinkt dort so! erklärte er schluchzend, und erst durch vieles Zureden war er zur Rückkehr in die Hallen der Wissenschaft zu bewegen. Seit diesem Tage bestand sein Verhältnis zur Schule eigentlich nur darin, daß er sie schwänzte, und Tante Feddersen erlebte nicht viel Freude an ihm. Er aber wußte mancherlei von ihr zu berichten: daß sie immerfort Kaffee trinke und dabei Kandiszucker lutsche, daß sie sich manchmal die Haare mache und Haarnadeln in den Mund nehme, daß sie auf einem rotweiß gewürfelten Federkissen sitze, das eigentlich in ein Bett gehöre, und so weiter. Bei uns in Schleswig-Holstein gab es früher noch kein besonderes Examen für die, die eine Kleinkinderschule besaßen, und das war gut für Tante Feddersen. Sie stand nämlich mit der deutschen Sprache auf sehr gespanntem Fuße, vor allem mit den Geschlechtswörtern. Mein Bruder erregte unsere lebhafteste Freude, als er plötzlich die Mann, das Apfel, das Kartoffel, die Hund sagte; daß es auch ein männliches Geschlecht auf der Welt gab, schien Tante Feddersen nicht zu ahnen. So wurde ihr denn die Belehrung unseres Kleinen doch entzogen, was sie sehr übel nahm, ja sie sprach laut darüber, wie »komisch es doch sei, daß gewisse Leute ihr Fleisch und Blut in die Wildnis aufwachsen ließen«.

Ganz in unserer Nähe wohnte der Krämer Ehlers, ein älterer Mann mit kahlem Kopf und lustigem, rotem Gesicht. Wir Kinder liebten ihn leidenschaftlich, weil er uns immer »was zugab«, wenn wir bei ihm kauften, und erschienen daher oft in seinem Laden. Einer meiner älteren Brüder lief sogar zu Ehlers, wenn er wissen wollte, wieviel die Uhr sei, und rief, nachdem er Auskunft erhalten hatte: Nu noch een paar Plummen tau! Auch dieser Wunsch wurde erfüllt, und wir alle glaubten, daß unser dänischer König nicht halb so nett wie unser guter Krämer. Erwachsene Leute waren freilich nicht dieser Ansicht; Jens Lauritzen, unseres Großvaters Polizeidiener und ein Kopenhagener Kind, erklärte Ehlers für einen »Swindler« und behauptete, es würde einst ein »slimmes Ende« mit ihm nehmen. Aber diese Ansicht hinderte uns nicht, Ehlers bei allen Einkäufen zu begünstigen.

Als ich eines Tages zum Privatgebrauch für einen Schilling Feigen kaufte, stand Tante Feddersen vor Ehlers und forderte ein Pfund Zucker und eine halbe Flasche Jamaikarum. Zum Einreiben! setzte sie mit feierlichem Ernst hinzu, und Ehlers bediente sie mit seinem freundlichsten Lächeln. Als sie gegangen war, winkte er mir geheimnisvoll zu. Das wird auch bloß innerlich eingerieben! flüsterte er. Ich war damals noch nicht weise genug, diese Bemerkung zu verstehen, und sah ihn fragend an. Aber nach Art ungebildeter Leute, die mit Kindern alles besprechen, fuhr Ehlers mit noch geheimnisvollerer Miene fort: Früher wollte sie mir mal heiraten und hat mich auch'n Brief geschrieben! Liebe Zeit, hab ich damals gelacht! Ich hab ihr gar nicht geantwortet, und nun kommt sie immer und käuft was bei mich! – Heirate sie doch! sagte mein älterer Bruder Jürgen, der den Feigeneinkauf gewittert hatte, und mir, wie immer bei solchen Gelegenheiten, mit großer Zärtlichkeit gefolgt war. Herrn Ehlers rotes Gesicht wurde noch röter vor Lachen. I du meine Güte! Zehn Jahre älter ist sie als ich! Nein, mein Junge, solche alte Scharteke nimmt Christian Ehlers nicht! Jürgen hörte ihm gespannt zu, und als wir fortgingen, erzählte er mir, daß es schon früher, in ganz alten Zeiten so gegangen sei, daß einer hätte heiraten wollen und der andere nicht. Mein Bruder lernte nämlich schon biblische Geschichte, und während er großmütig die Feigen mit mir »teilte«, erzählte er mir von Joseph und Potiphars Weib. Sie hatte gewollt, er nicht – gerade so wie Tante Feddersen und Herr Ehlers. Seit der Zeit ist Potiphars Weib für mich eine alte Scharteke, bewaffnet mit Lineal und Hornbrille, geblieben.

Einige Wochen später schickte mich unser Mädchen in der frühesten Morgenstunde zu Ehlers. Sie hatte vergessen, etwas sehr Notwendiges einzukaufen, und ich ließ mich bereit finden, vor der Morgenmilch einen Gang zu meinem Freunde zu machen. Als ich in den Laden trat, saß der Krämer mit rotblauem Gesicht auf der Essigtonne. Er hatte einen Strick um den Hals und sah mit gläsernen Augen auf Tante Feddersen, die vor ihm stand und sich in solcher Erregung befand, daß sie mein Kommen nicht bemerkte. Gott in hogen Himmel! rief sie. Ehlers, Ehlers, was fällt dich eigentlich ein? An nen Schinkenhaken hast dich aufgehängt, und wenn ich mich nich gerade forn Hamborger Schilling Sweinesmalz kaufen will, hängst du an den heutigen Morgen schon vor deinen himmlischen Richter! Und das allens, weil du reinemang bankrott büst, was ich dich all ümmer sagte! Und ich hab gerade die alte Kleiderschere bei mich, die ich nach 'n Smidt bringen will, weil sie keine Spitze mehr hat und – – Hier drehte sich Tante Feddersen leider um und sah in ein über alle Maßen neugieriges Kindergesicht. In derselben Sekunde hatte sie mich aus der Tür geworfen und mich bei dieser Gelegenheit so unsanft angefaßt, daß ich weinend nach Hause lief.

Obgleich mir verboten wurde, über mein Erlebnis zu sprechen, so hatten doch wohl auch andere Leute Tante Feddersen in Ehlers Laden gesehen. Bald sprach die ganze Stadt davon, daß Ehlers sich hatte aufhängen wollen, weil er seinen Schuldnern nicht hätte gerecht werden können; der Laden wurde geschlossen, und es hieß, der lustige Krämer müsse sitzen. Aber da erschien Tante Feddersen beim Bürgermeister und hatte in ihrem großen Strickbeutel einige Strümpfe voll harter Speziestaler, und Ehlers brauchte nicht zu sitzen.

Eines Tages liefen wir Kinder, so schnell uns unsere Füße trugen, in die Kirche. Dort wurde Ehlers mit Tante Feddersen getraut, und dieses Ereignis regte unsere kleine Stadt so auf, daß Jens Lauritzen, der an der Kirchtür in voller Uniform stand, den andrängenden Müttern, die ihre neugeborenen Kinder mitgenommen hatten, immer wieder sagen mußte: Kein Mensk unter seks Jahre darf hinein in das Kjerke! Es war aber doch ein furchtbares Gedränge, und alle sprachen laut über das Paar, das zusammen hundertundzehn Jahre alt sein sollte. Mir gefiel Tante Feddersen sehr gut in ihrem schwarzen Kleide und in ihrer Mütze mit langen lila Bändern. Sie sah ernst ringsum, während Ehlers mit niedergeschlagenen Augen neben ihr stand. So hat Potiphars Weib doch ihren Willen durchgesetzt, flüsterte ich Jürgen zu, der an meiner Seite stand. Aber er antwortete ärgerlich, ich sollte kein dummes Zeug reden, sondern lieber zusehen, ob man an Ehlers Halse noch einen roten Strich erblicken könnte. Und so starrten wir denn den Bräutigam unausgesetzt während der ganzen Feierlichkeit an, was ihm gewiß sehr angenehm war.

Nun wohnte Herr Ehlers bei Tante Feddersen, ein Umstand, den wir ebensowenig begreifen konnten, als das Verlangen der jungen Frau, Frau Ehlers genannt zu werden. Dieser Wunsch wurde ihr durchaus nicht erfüllt. Die kleinen Kinder konnten wohl a-b ab lernen, aber daß Tante Feddersen jetzt anders heiße, vermochten sie nicht zu begreifen. Sie blieb Tante Feddersen, und da Ehlers jetzt beim Unterricht verwandt wurde, so nannten die Kleinen ihn Onkel Feddersen. Er war, wie sie sagten, »besser« als Tante Feddersen und gab ihnen manchmal ein Stück Kandiszucker, wenn seine Frau nicht im Zimmer war. Aber aus dem vergnügten, dicken Ehlers wurde ein magerer, stiller Onkel Feddersen. Wenn wir, seine alten Freunde, ihm begegneten und ihm zunickten, lächelte er zerstreut und sah zur Seite. Zum Zeichen, daß sich meine Freundschaft stets gleichblieb, obgleich er mir nichts mehr »zugeben« konnte, fragte ich ihn, ob das Aufhängen sehr weh tue; aber zu meiner Überraschung kehrte er sich ab und antwortete gar nicht. Anderen Kindern erging es ähnlich, und so wurde uns »Onkel Feddersen« langweilig und nach Art der undankbaren Welt endlich ganz von uns vergessen.

Unsere Teilnahme für ihn erwachte erst wieder, als wir hörten, daß er plötzlich gestorben sei. Da liefen wir alle zu Tante Feddersen, die Leiche noch einmal zu sehen. Wir wurden aber alle aus der Tür geworfen und mußten uns damit begnügen, dem Begräbnis auf dem Kirchhofe beizuwohnen, was wir denn auch taten, obgleich es uns längst nicht so gefiel wie die Trauung vorm Jahre. Die erwachsenen Leute, die mit uns auf dem Kirchhofe standen, sagten, Ehlers sei an der Auszehrung und an der Tante Feddersen gestorben, und alle bedauerten ihn und meinten, das käme davon! Wovon? fragte ich neugierig, und die Antwort war: Kind, das verstehst du nicht! Später habe ich einsehen lernen, daß die erwachsenen Menschen das Leben mit seinen Rätseln auch nicht verstehen, damals aber war ich sehr beleidigt über diese Antwort.

Tante Feddersen hat noch viele Jahre unterrichtet, und nach Ehlers Tode war sie mit der deutschen Sprache gespannter als je zuvor. Ich sah sie später einmal wieder, da sprach sie gerade über »die Männers«. – Sie taugen alle nix! sagte sie böse. Kaum hat man sie, dann kneifen sie wieder aus! Was ich mich bloß denke, was Ehlers mich für bar Geld gekostet hat; erst seine Schulden, und denn das Trauung und denn das Krankheit und denn die Begräbnis, denn kann ich rein swindlig werden! Ja, die Männers, da ist kein Verlaß auf! Und meinen ehrlichen Namen, der mich angetraut is, und der in Kirchenbuch steht, den krieg ich erst, wenn ich tot bin, da paß man auf!

Tante Feddersen hat Recht gehabt. Neulich war ich auf dem Kirchhof der kleinen Stadt und suchte ihr Grab. Ich konnte es nicht finden und wandte mich an den Totengräber. Tante Feddersen liegt hier! sagte er, indem er mir einen Stein zeigte, auf dem stand: »Hier ruhet in Gott die christliche Ehefrau und Witwe Dorothea Ehlers geb. Feddersen.« Es tat mir doch leid, daß sie es nicht selber lesen konnte. Aber so ist es immer mit der Erfüllung unserer Wünsche. Da ist kein Verlaß auf! sagte Tante Feddersen.

Das Haus, in dem die Alte wohnte, steht noch, und ich glaube, es wird dort wieder lesen gelehrt. Aber der Lehrerin steht kein Ehlers zur Seite, und die Geschichte von dem lustigen und später so ernsthaften Manne ist so lange her, daß einige Menschen sie beinahe vergessen haben. Aber andere wissen sie noch besser als ich; denn in der kleinen Stadt haben viele Leute ein gutes Gedächtnis. So kommt es, daß auf Ehlers Grab manchmal ein Kranz liegt. Niemand weiß, wer ihn hingelegt hat, aber ich denke, er stammt von denen, die früher als Kinder von dem lustigen Krämer etwas »auf zu« bekamen. Denn hin und wieder gibt es doch noch dankbare Menschen.


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