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Svend Börgesen kehrte nach Tisvilde zurück.
Ganz draußen am Horizont gegen Südwesten erhoben sich die Wälder. Es war ihm, als wehte es wie Tannen- und Harzduft zu ihm herüber.
Oft ging er hinaus auf die hohen Felsen und sah mit sehnsuchtsvollem Blick landeinwärts. Dort, ganz weit draußen, konnte er den Gribwald in meilenweiter Ausdehnung unterscheiden, seinen Wald, der in seiner grünen Tiefe tausend Erinnerungen barg: alle die glücklichen Tage und Träume der Kindheit, den Duft der Kohlenmeiler, die unruhigen Wünsche des Jünglings, das verführerische Leben der nächtlichen Jagdfahrten – – –
Was war aus all diesem herrlichen Zauber hier in Tisvilde geworden? Diesem Zauber, den er in der Kindheit wie durch rote und blaue Gläser zu schauen vermeinte, dem Zauber, der in der Johannisnacht seine Sinne so sehr gefangen und ihn in einen Sinnesrausch hineingeführt hatte, der ihm das gesunde Urteil umnebelte? Jetzt erschienen ihm die Quellen als ganz gewöhnliche Pfützen, der Grabhügel als ein trauriger, verfallner Steinhaufen, wo die Einsamkeit im Unkraut nistete, und wo es nach verfaulten Lumpen roch. Und der Wald – der Wald, von dem er doch so sehr entzückt gewesen war, was war denn das für ein Wald, als er ihn genau betrachtete? Daß man bis zu den Knieen im Sand watete, ging noch an, aber was waren das für Bäume hier? Verfaulte Äste mit fahlen, zerfetzten Blättern streckten überall ihre langen, dürren Arme aus, viele Tannenbäume waren schon ganz verdorrt, viele kämpften noch mit dem Tode. Nur wenn man oben auf dem Hügel stand, vereinigten sich Bäume, Hügel und Thäler zu einem schönen Ganzen, wo all das Unschöne und Verkrüppelte hinter dem grünen Schleier der Baumwipfel verschwand oder sich in der Verschwommenheit der Ferne verlor. Aber wo waren die schlanken Buchen und riesigen Eichen des Gribwalds? Wo waren die unzähligen Rudel von Rot- und Damwild, die im Gribwald herumstreiften?
Doch das Schlimmste von allem war die Einsamkeit. Die ganze Umgegend, wo es am Johannistag von Menschen gewimmelt hatte, und wo die Luft mit menschlichen Tönen erfüllt gewesen war, lag jetzt öde und leblos da, oft von jagendem Sandstaub verhüllt, sodaß die Luft eine stumpfe rötliche Färbung annahm und Augen, Nase und Mund mit staubfeinen, knirschenden Körnchen erfüllte.
Er merkte, er war in mehr als einer Hinsicht an der Nase herumgeführt worden.
Was war also von dem Zauber zurückgeblieben? Ja – das Meer. Das Meer, das hatte allerdings gehalten, was es versprochen hatte. Das war immer neu, immer großartig, immer anziehend in seinem geheimnisvollen Rauschen, immer ehrfurchtgebietend in seiner Majestät. Es konnte sich so ruhig im ersten Morgenlicht ausbreiten, während es sich kaum in kleinen Wogen und Wellen schaukelte, und dann konnte es sich erheben und mit breiten, graugrünen Wogenkämmen daherrollen und in wildem Aufruhr donnernd und drohend, tobend und brüllend das tiefe Grauen, das die Meerestiefe birgt, aufregen.
Als er das Meer zum erstenmal in diesem wilden Aufruhr sah, war es ihm, als ob ein stärkeres Leben auch in ihm erwache.
Eine unbestimmte Sehnsucht nach Kampf und Streit, eine Lust, auf alle erschaffnen Wesen loszugehen und das Unerreichbare zu erstreben, durchzuckte ihn, und heiß wallte das Blut in seinen Adern.
Anine?
Warum mußte er denn hier draußen immer an Anine denken? Warum war sie immer dabei, wenn er sich in den Anblick der Wälder vertiefte? Die Rechnung zwischen ihnen war ja längst abgeschlossen, und bald würde sie in den Armen des dicken Troels liegen. Nun gut! er hatte ja seine Zügel selbst geführt, und der Wagen war auch sein eigen gewesen. Niemals, niemals sollte Anine aus seinem Mund das Zugeständnis vernehmen, daß er nicht richtig vorgespannt habe, als er nach Tisvilde fuhr. Dann kochte es in ihm mit unklaren Verwünschungen, und dann – ging er heim, um zu sehen, ob Tönnes endlich aus den Federn gekrochen sei.
Dazwischen hinein bekam auch die weiche, kindliche Kohlenbrennernatur wieder die Oberhand, und die wilde Leidenschaft beruhigte sich. Wäre es denn nicht das Beste, sich das Leben hier oben so gut als möglich zu gestalten? Dieses Leben, das doch gelebt werden mußte?
Maren, komm, wir wollen alles vergessen und recht zusammenhalten!
Dann lachte sie wohl recht herzlich über die Feierlichkeit seines Wesens und warf sich ungestüm an seine Brust.
Du bist ein gar zu komischer Kauz, wenn du mir auf diese Weise schön thust!
– – Nein nein, ihm ekelte vor dieser Frau. Unordentlich und unreinlich lief sie Sonntags und Werktags in einem Paar ausgetretner Pantoffeln, die bei jedem Schritt auf dem Boden schlurften, im Hause herum; alte Hauben und Strümpfe lagen zerstreut auf dem Tisch. Puh! Er dachte an seiner Mutter und Aninens pünktliche Ordnung zu Hause.
Svend, ich bekomme ein Kleines! erklärte Maren eines Morgens mit derselben raschen Offenheit, als ob sie gesagt hätte: Wie schönes Wetter ist heute!
Was bekommst du? fragte er erstaunt.
Ja. – Ach! wie oft habe ich lachen müssen, als ich noch zu Hause war und in den Büchern las, wie die jungen neuverheirateten Frauen, wenn sie ein Kleines bekommen, dann immer so – so – ja, so ehrbar und verschämt zu ihrem Manne hingehen und ihm etwas ins Ohr flüstern. Was! ist es wahr, mein geliebtes Weibchen? Und dann steht sie da und zupft an ihrer Schürze und wird so rot wie ein Truthahn!
Svend war stolz über diese Nachricht und fühlte sich aufs neue zu ihr hingezogen, als ob er jetzt erst die zusammenknüpfende Macht des Ehestands verstünde. Vielleicht konnte jetzt doch noch alles gut werden!
Sein Benehmen zeigte von da an eine gewisse männliche Reife, und die Bewirtschaftung des Hofs wurde ihm noch wichtiger als vorher. Aber die Tage waren eben doch zu inhaltlos, und ganz besonders langsam vergingen ihm immer die Sonntage.
Er ging nur selten aus, denn die Leute des Orts behagten ihm nicht, sie waren wie aus anderm Stoffe gemacht als er, ein ganz andrer Volksschlag, der sich nicht das Mindeste um Kohlenbrennerei und Jagd oder das Leben im Walde kümmerte.
Da erwachte aufs neue die von der alten Großmutter ererbte Lust, sich mit den Gestalten der Geschichte und der Sagen zu beschäftigen; er entlehnte vom Pfarrer und dem Schullehrer Bücher; hie und da kaufte er sich auch eins, das ihm besonders gefiel, und seinem neuerweckten Sinn für das Lesen strahlten Farben und Licht aus ihnen entgegen.
Es war im Anfang des Herbstes.
Mariannes Hof war sauber gekehrt und mit gelbem Sand bestreut; ein halbes Dutzend Wagen mit rot- und grünangestrichnen Wagenkästen und mit kleinen Pferden bespannt, denen Strohbänder in die Mähnen geflochten waren, hielten auf der Wiese vor dem Hof; ein ältlicher Mann und ein kleiner, bleicher Knabe standen an der Gangthür und bliesen mit aufgeblasenen Wangen jeder auf einem Klarinett, während ein schiefköpfiger, ewig lächelnder Mensch beständig herumlief und die Leute zu einem Glas frischer Milch einlud.
Bitte, bitte! Es ist, so wahr ich dastehe, heiß genug zum durstig werden!
Drin in der Zwischenstube stand Marianne und schalt ihre Tochter; diese spielte wie geistesabwesend mit den zerdrückten Stoffblumen und den langen Ketten aus großen, buntschillernden Glasperlen, die Marianne soeben auf der Tochter glatt hinaufgekämmtem Haar befestigte.
Aber, Kind, du reißt ja alles wieder auseinander, sobald ich es festgemacht habe; laß es doch nun in Ruhe.
Wo ist denn mein Gesangbuch?
Es liegt auf dem Fenstersims, gerade vor dir.
Gieb mir dein Riechfläschchen, Mutter.
Ich habe es dir ja in diesem Augenblick in die Hand gedrückt, du hast es hier in dein Taschentuch gewickelt.
Au! Nimm die Nadel weg! Au! Sie riß das rote, knisternde Seidenband, das die Mutter ihr soeben im Nacken festgesteckt hatte, herunter.
Marianne setzte sich seufzend aus einen Stuhl und erhob das Gesicht zur Decke. Eine Freundin des Mädchens, die Frau eines jungen Hofbauern von Tingstrup, kam jetzt herein, um zu helfen, und schließlich wurde der Hochzeitsstaat vollendet.
Die Hochzeitsgäste hatten sich alle in der Wohnstube versammelt; die Frauen nestelten an ihren großen, silbernen Mantelschlössern und strichen die mächtigen Sammetkapuzen zurecht, die ihre Köpfe wie riesige Heiligenscheine umgaben; die Männer aber schwatzten und tranken, schlugen Feuer für ihre Pfeifen und setzten die großen Hüte fest in den Nacken.
Seit jenem Tage, wo Svend herübergekommen war und selbst zu seiner Hochzeit eingeladen hatte, war Anine in einem halb unzurechnungsfähigen Zustande herumgegangen und hatte mit einer fieberhaften Rastlosigkeit von Troels, von Hochzeit und Tanz gesprochen. Dann kam die Cholera und warf sie nieder, aber bald hatte sie die Krankheit und deren Folgen überwunden und nahm nun mit neuem Eifer die Vorbereitungen zur Hochzeit auf. Sie hatte ein abgemagertes, bleiches Gesicht bekommen, aber sie klagte nie.
Als sie jetzt einen Augenblick allein in der Stube war, setzte sie sich und sah sich um – ja, das war ja ihre eigne Stube! Wie sonderbar war doch alles heute, so fremd, so verändert! Was klang und rauschte nur so merkwürdig durch die Luft? Jeden Augenblick ertönte es wie ein unterirdischer Knall draußen auf dem Grasplatz, die Männer schwatzten und lärmten mit den Bierkrügen und Zinnbechern drin in der Stube, ein Geruch von Feuerschwamm und Tabak erfüllte die Luft, die Klinke der Küchenthür wurde jeden Augenblick geräuschvoll auf- und zugemacht.
Sie erhob sich, ging an das Fenster und sah über das Moor hin; aber es war, als ob sie auch dieses nicht mehr erkenne; die Luft zitterte über dem Gras, die Torfgruben zeichneten sich mit sonderbaren Schatten davon ab, wie sie es noch nie gesehen hatte, und die Torfhaufen daneben ... waren es denn dieselben, die sie erst am Montag herausgestochen hatte? Ja, jetzt auf einmal hatte alles wieder sein altes, wohlbekanntes Aussehen. Dort drüben standen die Kühe und schlugen mit den Köpfen um sich, um die Fliegen zu verjagen. Sie wurde ganz ärgerlich über sich selbst, denn sie konnte sich nicht mehr erinnern, ob sie heute oder gestern zum letztenmal gemolken habe, und nachher ärgerte sie sich auch darüber, daß sie hier stehen blieb und etwas so furchtbar Gleichgiltiges dachte.
Eine Schmeißfliege summte ihr um den Kopf und setzte sich schließlich aus ihr Haar. Sie schlug mit der Hand danach und berührte dabei die Glasperlen. Da war es ihr plötzlich, als ob ein Wetterschein sie blende, sie schloß die Augen, setzte sich aufs neue nieder und drückte die Hände an die Stirn; aber schnell ließ sie die Arme niedersinken und richtete einen wilden, starren Blick auf einen Haken in dem Balken über sich, an dem ihres Vaters Rasiermesser zu hängen pflegte – nein, es hing nicht mehr da – ach richtig, ihre Mutter hatte es ja Lille Bendt geschenkt.
Sie begann zu zittern; doch gelang es ihr nach einigen heftigen Atemzügen, ihrer selbst Herr zu werden und ihren Körper zur Ruhe zu zwingen.
Troels lugte zur Thür herein und nickte ihr lächelnd zu.
Sie machte sich wieder mit ihren Haaren zu schaffen. Ich komme jetzt gleich.
Ja ja, laß dir nur Zeit.
Er zog sich wieder zurück, nahm seinen Hut, der unter dem Bettvorhang lag, blieb noch ein Weilchen stehen und strich mit der Hand über die weiche Decke; die Freude nahm ihm beinahe den Atem, aber mit keiner Miene, mit keinem Wort verriet er sein Glück. Dick und steif wie immer ging er zwischen den Gästen hin und her, verzehrte ein Butterbrot, mit Lammfett und Schafkäse belegt, nach dem andern und wischte sich den Schweiß von seinem roten Gesicht. Sein Halstuch war so eng gebunden, daß das Fleisch im Nacken und unter dem Kinn in runden Wülsten darüber hervorquoll, während seine Augen ein paar Kugeln glichen, die am Herausfallen waren.
Das ist ein Prachtstück, dieses hier, sagte er und griff nach Niels Bendtsens alter silberbeschlagner Pfeife.
Es giebt, so wahr ich dastehe, im ganzen Frederiksborger Bezirk keine solchen silberbeschlagnen Pfeifen mehr, nein, ganz gewiß nicht, sagte Lille Bendt schnell.
Ein Hofbauer teilte jedoch den andern mit, er habe eine dreimal so große und so schwere silberbeschlagne Pfeife zu Hause.
Lille Bendt drehte seinen schiefsitzenden Kopf so weit herum, bis er die Nase wirklich ganz über dem Nacken sitzen hatte, und rief: Ja, die deinige, Villum, die ist freilich dreimal so groß und so schwer.
Die Gäste bestiegen jetzt die Wagen, Troels nahm neben den Festordnern Platz und sah unverwandt nach den Fenstern hinüber; Marianne kam mit ein paar rotgestreiften Decken aus dem Hause und warf sie auf den Brautwagen.
Sie sind ganz neu und machen zum erstenmal bei einer Festlichkeit Staat.
Mille Bredal, die den ganzen Weg von Frederiksborg her zu Fuß gegangen oder vielmehr gelaufen war, bloß um ihrer Freundin einige Rosen mit in die Kirche zu geben, kam im letzten Augenblick mit ihren Blumen an, eilte hinein und übergab sie Anine mit hervorquellenden Thränen unter Lachen und Küssen.
Ich wäre sehr gern mit dabei gewesen; aber du weißt ja, Anine, ich kann heute nachmittag nicht zu Hause entbehrt werden.
Anine umschlang sie krampfhaft und wollte sie nicht wieder los lassen.
So, Anine, nun komm, man wartet auf dich.
Komm mit, komm mit, Mille!
Was fällt dir ein? In diesem Anzug? Ich könnte ja auch gar nicht, selbst wenn ich wollte; ich muß so schnell als möglich nach Hause eilen!
Komm später wieder heraus zu mir, bitte!
Ich kann doch nicht, ich kann wirklich nicht, Anine.
Heute abend?
Das ist ganz unmöglich; unsre Gäste bleiben über Nacht, und meine Mutter ist gar nicht wohl.
Dann komm morgen gewiß!
Mille legte Anine die Hand auf die Stirn; sie war brennend heiß, und die Augen hatten einen starren Ausdruck, funkelten aber zugleich in einem wilden, unheimlichen Glanz.
Ach, Anine! Warum hast du es auch so gewollt?
Ja, freilich!
So gebe Gott, daß es dir – zum Guten ausschlägt!
Sie wollte sich losreißen, aber Anine drückte sie fester und fester an sich.
Bleib da! flüsterte sie.
Dableiben? Ihr müßt ja jetzt zur Kirche!
Bleib bei mir! flehte Anine wieder.
Anine, laß mich jetzt los, sie sind draußen, schon alle aufgestiegen.
Sind sie? sagte Anine matt, nachdem sie einige Sekunden ganz versunken dagestanden hatte.
Noch eine Weile stand sie unbeweglich und sah still vor sich hin, dann stieß sie plötzlich einen lauten, durchdringenden Schrei aus, faßte sich aber gleich wieder und schien sich zu besinnen. Gott, was war das? flüsterte sie atemlos.
Du bist krank, Anine.
Krank? Sie lachte. Nein, mir fehlt gar nichts, fügte sie mit ihrer natürlichen, ruhigen Stimme hinzu. Ich habe nur ein wenig Kopfweh ... nein nein, bleib da, hörst du?
Zuletzt gelang es Mille doch, sich aus den sie umklammernden Armen loszumachen, und rasch schlüpfte sie zur Thür hinaus.
Marianne hatte sich indessen mit den Brautjungfern unterhalten; sie hatte nichts von der Ankunft Milles gewußt und sah diese jetzt zum erstenmal, als sie von Anine herauskam. Marianne wollte nun selbst noch einmal nach der Tochter sehen und ging, sich die Augen trocknend, wieder hinein.
Indessen wurden die Leute auf den Wagen ungeduldig. Sie sahen erwartungsvoll nach den Fenstern und Thüren, selbst die Pferde warfen die Köpfe zurück und stampften mit den Hufen.
Warum kommt sie denn nicht? fragte Troels, der sich beinahe den Hals verrenkte, um den Kopf weit genug herumdrehen zu können.
Da stürzte Marianne atemlos mit dem Ausdruck des höchstens Entsetzens heraus und schrie: Sie läuft, so schnell sie kann, nach den Torfgruben hinunter!
Die Brautjungfern fingen an zu jammern, ein paar Frauen fuhren von ihren Sitzen auf und fochten mit den Armen in der Luft; die Männer blieben wie versteinert sitzen.
Nur ein kräftiger zwanzigjähriger Bursche warf die Zügel aus der Hand, sprang vom Wagen und lief aus Leibeskräften auf das Moor zu, wo er gerade noch zu rechter Zeit ankam, einen Büschel bunter Blumen in dem schwarzen Wasser verschwinden zu sehen. In einem Augenblick hatte er die Uhr aus der Westentasche heraus, Jacke und Schuhe ausgezogen und sprang Hals über Kopf hinein in die gurgelnde Tiefe.
Ein paar Männer, denen die vor Schreck halb wahnsinnige Marianne folgte, erschienen jetzt mit einem Seil und einem Brandhaken.
Schnell, schnell! Ich habe sie, aber sie sträubt sich, ich kann sie nicht bemeistern! klang es ihnen entgegen.
Ein verworrner Knäuel aus zwei Köpfen und vier Armen, der in dem einen Augenblick unter dem Wasser verschwand und im nächsten mit den schmutzüberzognen Perlen und den heftig streitenden Händen wieder über der Oberfläche auftauchte, brachte das ganze Wasser in Bewegung.
Einer der Männer warf das Seil aus; aber es versank im Schlamm; ein andrer stieß den Haken in des Mädchens Kleid, sodaß ein großer Riß entstand, glücklicherweise hielt der untere Saum, und nach kurzer Zeit waren beide auf den Rasen herausgezogen, wo Marianne laut schreiend und händeringend auf den Knieen lag.
Anine hatte keinen Augenblick das Bewußtsein verloren, schien jedoch für das, was sich zugetragen hatte, gar kein Verständnis zu haben; sie schien nur ganz erfüllt von Entsetzen vor etwas Bösem, Schrecklichem, das auf sie eindringen wollte.
Anine, Anine! jammerte die Mutter. Wie konntest du das thun?
Man konnte Anine kaum halten, sie schrie und schlug in wahnsinniger Angst um sich, wie um sich so lange als möglich gegen das Böse, das immer näher zu rücken schien, zu wehren.
Schließlich sank sie entkräftet zusammen und ließ sich willenlos in den Hof zurücktragen.
Hier war alles in wilder Unordnung. Zwei von den Knechten verlassene Pferde jagten mit einem halbzertrümmerten Wagen auf einem Buchweizenfeld herum; zwei Frauen, die auf dem Feld heruntergestürzt waren, lagen mit zerrissenen Mänteln und blutigen Gesichtern im Buchweizen und jammerten aus lauter Angst, daß die Pferde wieder zurückkommen könnten. Männer und Frauen liefen zwischen den Wagen umher, schrieen einander an, ohne sich zu verstehen, die Pferde wieherten und schlugen nach allen Seiten hin aus.
Troels war aschgrau im Gesicht geworden; er lief von einem zum andern und hatte das bischen Verstand, das er vorher gehabt hatte, vollends verloren; aber als die Männer das Mädchen zum Hof hereintrugen, richtete er sich plötzlich gerade auf, ging zu ihr hin und sagte:
Es ist gewiß das Beste, Anine, wir geben es auf.
Dann wurden die Pferde eingefangen und die Trümmer des Wagens auf ein Fuhrwerk geladen; den zwei verunglückten Frauen, die blutige Schrammen im Gesicht davongetragen hatten, wurde das Blut abgewaschen, und ein mitleidiger Nachbar führte sie gefällig nach Hause.
Eine Stunde nachher waren Wagen, Pferde und Menschen wie weggeblasen, und die Stille des Todes lag über den Hufspuren auf dem Hof und dem Rasenplatze.
Aber drinnen in dem großen Himmelbett lag ein totenbleiches Mädchen und starrte in ein Lichtmeer von Millionen durcheinander wogender Lichtpunkte.
*
Aus einem riesengroßen Kohlenmeiler stiegen Rauch und Flammen gerade in die Höhe, mit einem singenden Ton wie von weit entfernten Klarinetten; ein Schwarm Fledermäuse und weiße Nachtschwärmer schwirrten in der Luft, und ganz draußen zeichneten sich die Umrisse eines Waldes mit den feinsten Regenbogenfarben im glänzenden Nordlichtschein ab.
Sei jetzt lieb, Anine, und laß mich diese Haarlocke wieder feststecken. Ich konnte ja nichts dafür, daß sie sich losmachte!
Nein, weg mit der Haarnadel!
Sei lieb, Anine! Sonst kommen wir zu spät zur Kirche. Hörst du denn nicht die Glocken läuten?
Ich bin böse auf dich!
Ich habe dich aber doch um Verzeihung gebeten; du kannst mir glauben, ich habe es oft genug bereut; aber Helene saß immer neben mir und flüsterte mir in die Ohren, daß ich nicht mehr aus oder ein wußte.
Sie sagte immer wieder ihren alten Spruch: Hier sah es schrecklich aus vor gar nicht langen Zeiten und so weiter.
Da mußte ich mich beeilen, den Hof herauszugraben, sonst wäre sie ja darin erstickt. Ach, sie war so froh, sie küßte mich und weinte dazu ... ja ja, so hör doch! Es war ja gar nichts weiter als das, jetzt ist es vorbei, und wir können zusammen tanzen und glücklich sein.
Ach, sie kann es ja gar nicht lernen, der Plumpsack; sie hat noch nie einen Riel gesehen, noch viel weniger einen getanzt.
Troels saß weit entfernt an einer Quelle und jammerte mit der Hand auf dem Rücken. Ich werde nie wieder gesund, ich kann es ebensogut gleich aufgeben.
Ja, so wahr ich dastehe, wirst du wieder gesund, zieh nur die Jacke aus!
Ein kleiner Mann mit einer Beißzange zog ihm eine große Kugel aus dem Rücken und hielt sie gegen das Licht. Siehst du, so wahr ich dastehe!
Ja, was kann das nützen, wenn du nur eine herausziehst, es sitzen ja elfhundert darin!
Anine! bat Svend, laß sie jetzt ruhig sitzen! Leg deinen armen Kopf hierher – so. Sieh dort hinaus ... siehst du die beiden, die auf Stern reiten ... dort drüben im Walde ...? Dort! Wir zwei! Wir zwei! ... Du kannst dich auf mich verlassen, es ist mir Ernst damit!
Es bewegte sich unter ihr, als ob sie über wogende Zweige dahinritte. Sterne von glänzender Farbenpracht tanzten am Himmel; in süßer, bebender Willenlosigkeit lag sie in Svends Armen und sang:
Du führtest selbst, o Gott, allgütger du,
Die erste Braut dem ersten Manne zu ...
Aber auf einmal brach ein Zweig unter ihr, und sie versank – hinunter in ein grundloses, schwarzes Wasser – – – sie schrie laut und fuhr auf.
Nun nun, Anine! Lieg doch still, wie du es mir versprochen hast! flehte Marianne und sah nach der Uhr. Komm, laß dich ein wenig einreiben.
Sie nahm eine Flasche mit Lorbeeröl und rieb des Mädchens Rücken und Scheitel damit. Versuche nun ruhig zu liegen und zu schlafen, bat sie und deckte die Tochter sorgsam zu; dann setzte sie sich neben dem Bett nieder und las in dem zweihundert Jahre alten, in Schweinsleder gebundnen Buch mit dem Titel Olea Aromatica Octo, das der Wunderdoktor von Nyhusene vergessen hatte.
Ach! für was alles sollte doch dieses Öl gut sein? Die Hälfte vom Buch verstand sie gar nicht, es war so viel Lateinisch dazwischen. Sie schüttelte den Kopf, legte es wieder hin und versank in schwere Gedanken über ihr künftiges, dunkles Schicksal.
Daß es ihr auch immer so gehen mußte! Das war doch recht schwer für eine Witwe! Wie sollte sie nun die vierundvierzig Reichsthaler im Jahre für Troels aufbringen, neben den Steuern und dergleichen?
Was die arme Frau aber am meisten kränkte, war, daß jedermann von dem verunglückten Hochzeitstage, der Torfgrube und allem andern, was damit zusammenhing, sprach. Die Enttäuschung und die Schande hatte ihrem Hof eine Art Brandmal aufgedrückt, und sie war vollständig machtlos dagegen. Lille Bendt und der Stalljunge thaten, was sie wollten, d. h. gar nichts, alles verkam, ihre Lage war ganz verzweifelt. Von Troels konnte nun natürlich nicht mehr die Rede sein, und welcher andre Bursche, der Geld hatte, würde ein Mädchen nehmen, das sich mit seinem ganzen Brautstaat in die Torfgrube gestürzt hatte? Und doch war eine gute Heirat das Einzige, das die Heimat vom Untergange retten konnte.
Anine erholte sich wieder.
Mutter, begann sie eines Tages, nachdem sie lange im Lehnstuhl geruht hatte, wo ist der Vater hingegangen?
Marianne heftete ihre Augen starr auf des Mädchens Gesicht und wurde kreideweiß, sagte aber kein Wort, sondern sah sie unverwandt an.
Da faßte sich das Mädchen an den Kopf und wurde unruhig, als ob sie sich klar machte, daß sie etwas ganz Unsinniges gesagt habe.
Ein wenig half sie bei den Herbstgeschäften; aber Marianne hielt sie so viel als möglich zurück und ging meist an ihrer Statt unter die Leute.
Eines Abends stand Anine an der Thür und sah auf den Weg, der zu Elses Hof führte, hinaus.
Hu! ... lauter Blut, in dem die Räder platschen!
Blut? Das ist ja die Sonne, die auf den Weg scheint.
Doch, doch! Es spritzt an den Rädern und den Seiten des Wagens hoch hinauf.
Aber Kind, es ist ja gar kein Wagen da!
Freilich! Siehst du denn Svend nicht, und ... sie auch? Oh! jetzt drehen sie um! Sie kommen hierher! Sie schrie laut und wollte davon laufen.
Jeden Tag rieb ihr Marianne den Kopf mit einer Mischung von Lorbeeröl und Theriaksalbe ein und war sehr besorgt dafür, daß sie wenigstens einigermaßen zur Ruhe kam.
Nach und nach klärte es sich auch wieder in ihrem kranken Kopf, aber die Angst vor einem Wiedersehen mit Svend erschütterte unaufhörlich ihren Körper. Dazu lebte sie in beständiger Furcht, sie könnte den Leuten aus dem Dorfe begegnen, wenn sie sich nur ein einziges mal vor den Hof hinauswagte. Eines Sonntags, als sie neben dem Gartenzaun stand, fuhr drüben auf der Landstraße ein Wagen voll geputzter Menschen vorbei, und plötzlich deutete der Kutscher mit der Peitsche nach ihr herüber und sagte: Das ist sie! Und alle stießen einander mit den Ellbogen und drängten sich gegenseitig beinahe zum Wagen hinaus, um sie nur recht genau sehen zu können.
Mutter, ich will fort von hier, ich kann es hier nicht mehr aushalten!
Marianne weinte. Ach lieber Gott im Himmel! jammerte sie, was soll aus uns noch werden!
Vorläufig zog Anine zu Adjunkt Bredals, die sie außerordentlich freundlich aufnahmen und sich freuten, ihr all die Hilfe, die sie ihnen während der Krankheit ihrer Tochter erwiesen hatte, ein wenig vergelten zu können.
Wir brauchen gerade jetzt sehr notwendig jemand zur Hilfe, log Madame Bredal mit der unschuldigsten Miene und mit großer Herzlichkeit.
Wie geistesabwesend machte sich Anine an die Arbeit; sie fegte die Stubenböden, rieb die Fensterscheiben spiegelblank, holte Wasser zum Begießen der Blumen und goß es anstatt auf die Pflanze auf den Boden, der schon gefegt war.
Tag und Nacht brauste es in ihrem Gehirn von unerträglichen Gedanken über Svend und den unglückseligen Hochzeitstag. Warum hatte man sie auch aus der Grube gezogen?
Ach! diese Torfgrube! Wie war sie nur hineingekommen? Sie erinnerte sich, daß sie gelaufen war, wie noch nie in ihrem Leben; sie konnte es noch nachfühlen, wie sie über die Felder hingeflogen war. Es heulte und brauste ihr in den Ohren, von allen Seiten erklangen Stimmen, in der Luft regten sich tausend Hände, die mit langen Fingern nach ihr griffen, aber sie lief allen davon, in wilder, jagender Eile, da ... an mehr konnte sie sich nicht erinnern; und doch, sie wußte, sie war auf die rechte Seite gefallen und hatte zugleich einen Warnungsruf hinter sich gehört.
Warum hatte man sie herausgezogen? Sie fühlte, welch unendliches Glück es für sie gewesen wäre, drunten in dem Graben zu schlafen, tiefer und tiefer in das weiche, braune Bett in Vergessen und ewige Bewußtlosigkeit zu versinken. Was war denn an ihrem Leben gelegen, das nicht eine einzige Minute des Glücks und der Freude aufzuweisen hatte, diesem Leben voll Kampf und Schmerz, voll dunkelster Hoffnungslosigkeit, einem Leben, das eine einzige große Sehnsucht war, die Sehnsucht nach dem langen, stillen Schlaf im Sarge!
Jetzt aß sie hier das Gnadenbrot in einem fremden Hause und mußte ihr Angesicht zu verbergen suchen, so oft sie an das Fenster trat; alle Leute wußten ja, daß sie das Mädchen von Alsingröd sei, das ... ach nein, nein, sie wollte fort, weit fort, wo die Leute sie nicht anstarrten und sich anstießen, wenn sie sich irgendwo zeigte! Bredals, ja, sie waren immer freundlich gegen sie, aber sie wußte doch, was sie dachten, wenn sie bei Tisch saßen und die Köpfe schüttelten. Und das Mädchen in der Küche – oh, wie konnte diese sie anglotzen!
Eines Tages hörte sie unabsichtlich einen Teil einer Unterhaltung, die der Pfarrer mit Herrn Bredal hatte.
Selbstmordversuch, lieber Bredal, das ist doch, vom moralisch christlichen Standpunkt aus betrachtet, wie ein vollendeter Selbstmord. Selbstmord und Empörung gegen den Himmel aber ist eine Sünde, die zur ewigen Verdammnis führt.
Ja, ich verteidige ja den Selbstmord durchaus nicht; aber kann die Sache hier nicht auch von einem andern Standpunkt aus betrachtet werden, Herr Pfarrer? Als eine im Wahnsinn ausgeführte That der Selbstverteidigung einer verzweifelten Seele ...
Nein nein, wir sprechen als Christen, wir urteilen nach Gottes eignen Worten. Der Selbstmörder und Gottesleugner, er leugnet, daß es einen allmächtigen und liebenden Gott giebt; er leugnet auch, daß es einen gerechten, einen richtenden Gott giebt, der jedem vergiebt, nachdem ...
Freilich, freilich, Herr Pfarrer, aber ...
Hören Sie weiter: Der Selbstmörder ist demnach der größte Thor auf der Welt, denn er schneidet sich selbst die Möglichkeit ab, sich von seinem Unglück zu erheben; er weiß ja nicht, ob er nicht vielleicht, indem er Zeit gewinnt, auch das Glück wieder gewinnen kann.
Wie merkwürdig doch unser Gespräch hier einer Unterredung gleicht, die irgendwo in Goethes Werther vorkommt. Können Sie sich erinnern, Herr Pfarrer, wo der junge Werther einen schlagenden Beweis liefert mit den Worten: ... Der Thor stirbt am Fieber! Hätte er gewartet, bis seine Kräfte sich erholt, der Tumult seines Blutes sich gelegt und seine Säfte sich verbessert hätten: alles wäre gut gegangen, und er lebte bis auf den heutigen Tag?
Anine hätte Herrn Bredal die Hand küssen mögen für diese Worte. Ja, wenn der Pfarrer wüßte, was sie durchgemacht hatte, wenn er die Gedanken kennte, die in ihr gebrannt hatten, all die glühende, verzehrende Qual, die sie des Nachts aus dem Schlafe aufgescheucht und sie am Tage in Verzweiflung und Ratlosigkeit herumgetrieben hatte – o, es war gräßlich, nur daran zu denken! Sie wußte ja wohl, sie hatte schlecht gehandelt; sie hatte nachher wohl eingesehen, wie greulich es war, so etwas zu thun, und sie hatte Gott flehentlich um Verzeihung gebeten für das, was sie gethan hatte; sie konnte aber doch ganz gewiß nichts dafür.
Im Haus Bredal herrschte überall Friede und Wohlbehagen. Die Wände im Wohnzimmer hatten eine lichte, gelbe Farbe, an den Fenstern hingen rote Kattunvorhänge, die der großen Stube eine warme, angenehme Beleuchtung gaben. Eine große eichne Truhe mit blanken Messingringen an den Schubladen, ein riesiges Mahagonisofa mit braunem Überzug und großen, mit schwarzem Wolldamast bezognen Kissen, die von einem frühern Überzug stammten, ein braunangestrichner Klapptisch, ein kleiner Nähtisch aus Mahagoniholz, ein zierlicher, kleiner Webstuhl, sowie vier schwerfällige Stühle mit losen Decken darauf machten die Einrichtung aus.
Dazu kam noch der Schmuck der Wände: ein großer Pfeilerspiegel mit zwei blauen Blumenvasen auf dem Bort darunter, drei große, vom Alter vergilbte Kupferstiche, einige in großen, goldnen Rahmen gefaßte Gemälde, die Madame Bredals Eltern in ihrer Jugend vorstellten, sowie eine ganze Sammlung kleiner Schattenrisse von längst gestorbnen Groß- und Urgroßeltern, alle von kleinen Immortellenkränzen umgeben, die einen eigentümlichen Wohlgeruch ausströmten, so oft man sie berührte.
Der große, magere Adjunkt, der zu Hause einen auffallend langen, engärmligen, braunen Schlafrock und eine bis an den Hals zugeknöpfte, schwarze Sammetweste trug, war für gewöhnlich etwas wortkarg und häufig ganz verloren in wissenschaftlichen Grübeleien, die ihn blind und taub für alles um ihn herum machten; aber dann konnte er sich auch wieder von den Grübeleien frei machen und frisch und fröhlich wie ein Jüngling sein. In seiner freien Zeit saß er meistens in seinem eignen Zimmer, halb versteckt zwischen hohen Stößen blauer Papierbogen, in denen seine getrockneten Pflanzen lagen; oft lag er aber auch auf seinem Sofa mit der Flora Danica oder einem dicken französischen oder deutschen botanischen Werk und las eifrig in seinen geliebten Büchern. Ein durchdringender Geruch von getrockneten Pflanzen und von alten Schmökern erfüllte dieses Zimmer, selbst seine Kleider, die Anine oft ausklopfte und bürstete, waren von diesen eigentümlichen Gerüchen gesättigt, und sie waren für Anine mit dem Hause Bredal für alle Zeiten innig verbunden; sie konnte niemals später einen verwelkten Strauß riechen oder ein altes Buch aufschlagen, ohne daß Herrn Bredals Gestalt wie lebend vor ihr auftauchte.
Die hübsche, zarte Madame Bredal, dreizehn Jahre jünger als ihr Mann, trug für gewöhnlich ein dunkelbraunes Kleid mit kurzem Leibchen und einen mit Fransen besetzten Schulterkragen. Auf ihren braunen, gesteckten Haarlocken saß eine weiße Haube mit veilchenblauen Bändern und großen Schleifen. Um ihren Mund lag ein wehmütiger Zug, der niemals verschwand; aber sie war immer freundlich und liebreich; das Beispiel einer echten, lebendigen Liebe, die sich im Leid und in der Freude gleich treu beweist.
Die Tochter Emilie aber flatterte in ihren hellen Sommerkleidern herum, wie ein Vögelchen, das nur an Sonne und Honigtau denkt.
Zuweilen kamen feine Leute aus der Hauptstadt zu Besuch; z. B. ein Großhändler Lynge mit Frau und Tochter, ein paar Kunstmaler und einige Schauspieler, darunter der bekannte Jörgen Frydendhal, der im Sommer beim Schloß in dem sogenannten Badehaus wohnte.
Wenn einer dieser Gäste sich einfand, wurden oft noch ein paar Freunde aus dem Städtchen dazu eingeladen – einige Kollegen des Adjunkts von der Lateinschule –, und dann wurde lebhaft hin und her disputiert; über die französische Revolution und das gärende Leben hier in der Heimat, überhaupt über alles, was zu jener Zeit die Gemüter erregte. Wenn der junge Student Jens Ludwig Nielsen dabei war, konnte er vor brennendem Eifer, auch mit darein zu sprechen, schwer aufatmen und erregt die Hände ineinander pressen, während ihn sonst seine Ehrerbietung vor den ältern Herren meist davon zurückhielt, seine eignen Anschauungen zu verfechten. Am Abend kam dann die Punschbowle auf den Tisch, und bis spät in die Nacht schallte es in den sonst so stillen Räumen von Becherklang, Guitarrenmusik und alten Liedern.
Das schöne, schweigsame Bauernmädchen, das immer die Aufmerksamkeit der Gäste, besonders die der Maler, auf sich zog, fühlte sich in der ersten Zeit durch dieses vornehme Leben äußerst bedrückt und hätte sich am liebsten mit dem Strickstrumpf in irgend einen stillen Winkel verkrochen. Jens Ludwig, der sich auch oft ein wenig überflüssig fühlte, rückte dann gern seinen Stuhl in ihre Nähe, und sie saßen in leisem, eifrigem Gespräch stundenlang bei einander, während Mille und einer der Schauspieler oder der junge Hilfslehrer Brammer in der entgegengesetzten Ecke einen großen Lärm mit Lachen und Scherzen ausübten.
Anine schlief mit Mille in einem Zimmer, und diese schwatzte jeden Abend noch lange von hundert und tausend Dingen: von Kragenmustern, Romanen, Strumpfbändern, von dem königlichen Theater u. s. w. Svends Name wurde nie erwähnt; Mille wagte es nicht, und Anine wollte ihn nicht in den Mund nehmen. Aber wenn Milles kleines Plappermäulchen endlich stillstand und sie in den tiefen, ruhigen Schlaf eines Kindes fiel, dann kamen für Anine die langen, schlaflosen Stunden, in denen ihr dieser Name unaufhörlich in den Ohren klang.
Nicht ein einziges Plätzchen in der Heimat gab es, an dem sie nicht mit ihm zusammen gewesen wäre! Und wie hatte sie Svend geliebt! Geliebt? Ja, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, war er ihre größte Freude gewesen, und mit jedem Jahre war er ihr lieber geworden; sein Lächeln und seine Worte wurden ihr so unentbehrlich wie die Luft, in der sie atmete. Niemals hatte sich ihr Herz einem andern zugeneigt, nur auf ihn war ihre Sehnsucht gerichtet gewesen; in seinem Arm legte sie sich nieder mit dem heißen Glücksgefühl ihrer reinen Liebe, einem Glücksgefühl, das bei jeder Feuerprobe, die sie durchmachte, stärker und stärker wurde. Wie hatte sie in unaussprechlicher Freude gejubelt und gesungen, als sie zuletzt die Seine geworden war, und sie ein Recht auf seine Umarmung und seinen Kuß hatte! Der Herr segne und behüte dich! das war immer ihr letztes Gebet in der Stille der Nacht; und beim ersten Morgengrauen war sein Heim das Ziel, nach dem ihre erwachenden Augen suchten.
Und nun saß er drüben mit einer andern auf dem Schoß, von Glück berauscht, mit heißem, vom Liebesrausch erhitzten Kopf! – Hatte nicht seine eigne Mutter gesagt: Es ist eigentlich gut, Anine, daß du ihn vergessen hast; er selbst ist so außerordentlich glücklich mit ihr und hat eine so schöne Heimat bekommen.
Ach! Sie hätte ihm ins Gesicht schlagen können! Denn wenn er sich auch hundertmal damit entschuldigte, daß es ja damals, als er sich verlobte, zwischen ihnen vorbei gewesen sei, so war und blieb es eben doch eine Unwahrheit. Wenn sie ihn je in ihrem Leben wiedersehen sollte, dann wollte sie ihm ins Angesicht rufen:
Es war eine Lüge, es war eine Lüge!
Und er würde dann nicht ein Wort darauf sagen können, da er wohl wußte, daß es so war; er hatte es ja selbst zugegeben. Hatte er denn nicht vor ihr gestanden, den Hut in der Hand drehend, wie ein verlegner Junge, damals, als er zu ihr herübergekommen war? Er wußte sehr genau, daß alles nur ein Geschwätz und eine Lüge war. Es war nicht vorbei gewesen zwischen ihnen. Hatten sie nicht oft vorher auch schon hitzige Wortwechsel gehabt und waren im Zorn auseinander gegangen? Nein, es war der schändlichste Betrug, die schamloseste Untreue, die um so unerträglicher für sie war, als er ein gewisses Recht auf seiner Seite hatte. Keck und herausfordernd hatte er an seinem Hochzeitstag auf den Boden gestampft – derselbe Bräutigam, der ihr selbst heilig und teuer versprochen hatte: Du kannst dich auf mich verlassen! Niemand konnte ihm etwas Böses nachsagen, dem großen, tüchtigen Hofbesitzer in Tisvilde. Wer konnte doch all dies ergründen? Auf der ganzen Welt gab es keinen Menschen, der sich die Mühe nahm, hinter den Vorhang zu blicken, um die Wahrheit zu entdecken, und es konnte dies ja auch niemand, selbst wenn jemand wollte, denn das Ganze war so ... so ... ach, kein Mensch konnte es verstehen!
So lag sie des Nachts da und warf sich unruhig auf ihrem Lager hin und her; manchmal richtete sie sich wie in wildem Fieber auf und kratzte mit den Nägeln auf der Bettdecke, während ihr das Blut in den Schläfen pochte, daß sie es wie einen förmlichen Schmerz in allen Nerven spürte. – –
In unerträglicher Unruhe hatte Svend während der Zeit, wo Anine an der Cholera krank gelegen hatte, oftmals nach den Wäldern in der Ferne hinübergesehen, und gar oft hatte er sich selbst bei seiner Mutter etwas zu schaffen gemacht. Als dann die Nachricht von dem, was sie an ihrem Hochzeitstage gethan hatte, ihn erreichte, war ihm das Herz wie zusammengeschnürt. Wenn er daran dachte, daß es soweit mit Anine gekommen sei, diesem gesunden, kräftigen Mädchen, das vor kurzem noch in seinen Armen in voller Lebenslust gebebt hatte! Was mußte sie gelitten haben! Das Grauenhafte ihrer Handlungsweise, die Vorstellung, wie sie sich krampfhaft im Wasser gewehrt hatte, die starren Augen, als sie zusammensank, dies alles und noch andres quälte und verfolgte ihn, je länger, je mehr.
Ein dunkles Grauen legte sich zentnerschwer auf seine Brust; stundenlang saß er an einsamen, verborgnen Orten und wand sich des Nachts unter feurigen Blitzen, die aus wilden Augen auf ihn eindrangen, in seinem Bette.
Früh und spät dachte er an ihren verwirrten Verstand, und mit einer gewissen Erleichterung hörte er von ihrer Übersiedlung zu Bredals, denn er wußte, bei diesen wurde sie mit Liebe und Sorgfalt gepflegt.
Wie merkwürdig war es auch, wie sehr das Leben der Menschen sich verändern konnte! War es nicht, als ob geheime Mächte im Hintergrunde lauerten und den Menschen in Wege zwängen, vor denen er selbst ein Grauen hatte? Wer hätte vor wenig Monaten voraussagen können, daß er in dieser abgelegnen Sandwüste sitzen würde, während sie als eine geistesverwirrte Unglückliche in einem fremden Hause aufgenommen war?
Das Schlimmste von allem aber war ihm der Gedanke an den Vorgang in der Torfgrube, diese Erinnerung brannte ihm Tag und Nacht im Gehirn. Mit Schaudern dachte er sich in ihren Gemütszustand hinein, schlaflos lag er stundenlang auf seinem Lager, brütete über den Gedankenvorgängen ihres Gehirns und fand niemals Frieden; ihre Augen schienen ihn unverwandt anzustarren.
Diese innern Kämpfe hatten ihn wieder weiter von seiner Frau entfernt, aber als sie infolge ihres Zustandes oft so sehr unter der Hitze litt, wurde er von Mitleid ergriffen und schloß sich aufs neue näher an sie an.
Maren, es wird gewiß noch alles gut werden!
Er tröstete und ermunterte sie und zugleich auch sich selbst; er fand Erleichterung in dem Gedanken an das Frohe, das Große, das Wunderbare, das ihnen widerfahren sollte.
Dann kam ein Ereignis, das plötzlich seine ganze, schwer erkämpfte Ruhe zerstörte.
Er war mit der Büchse draußen gewesen, um einen Fuchs zu jagen. Als er zurückkam und sich der Scheuer näherte, sah er durch ein Loch in der Mauer eine Frauenhand, die innen an dem Stroh herumzupfte. An dem blauen Perlenring erkannte er, daß diese Hand Maren gehörte. Was that sie denn dort, und nach was suchte sie?
Weißt du, was ich wünsche, Maren? erklang es von drinnen heraus.
Nun, was denn?
Daß die Cholera bald wieder in Alsingröd ausbrechen möchte!
Svend wurde so weiß wie die Wand, an der er stand, und spannte alle seine Gehörnerven an, um jeden Ton aufzufangen.
Ja, aber weißt du, wir gingen damals doch schließlich zu weit.
Was hat denn das zu sagen? Du warst doch vorher schon mein, ehe du die Seinige wurdest.
Bst! Sprich nicht so laut!
Das Gespräch sank nun zu einem undeutlichen Flüstern herab, von dem er nur einzelne Worte verstehen konnte; aber er hörte trotzdem genug.
Nun richtete er sich auf und sah um sich; vor seinen Augen leuchtete es dunkelrot. Was sollte er thun?
Hier war nur eins zu thun: Hineingehen und beiden den Kopf mit dem Flintenkolben entzweischlagen.
Aber seine Thatkraft war durch die rasende Wut, die seinen ganzen Körper erschütterte, wie gelähmt; er fühlte sich ganz verwirrt, sein Gehirn war wie umnebelt.
Was ist dir denn? rief ihm die alte Anne vom Garten herüber zu.
Er stieß die Flinte auf den Boden; da rasselte es drin zwischen dem Stroh, und einen Augenblick nachher erklang das Messer der Futterschneidemaschine.
Er ging in die Stube und überlegte, was er thun sollte.
Das Kind ...?
Ein tiefes Mitleid mit sich selbst überkam ihn bei dem Gedanken an diesen schweren Schlag, den er nie überwinden würde, und bei dem Gedanken an den Lohn, den ihm Maren für seine ehrlich gemeinte Zuneigung gegeben hatte. Ein enges, erstickendes Gefühl ergriff ihn, er riß das Halstuch herunter, um sich Luft zu verschaffen.
Erhitzt und mit dunkelrotem Gesicht kam Maren herein und wandte sich mit einem Korb voll Eiern nach der Speisekammer.
Svend stellte sich vor sie hin: Wo bist du gewesen?
Ich? Ich war im Hühnerstall.
Da sprühten seine Augen Feuer; mit geballter Faust trat er noch einen Schritt näher, und mit heiserer Stimme sagte er drohend: Ich könnte dir das Gehirn einschlagen!
Aber warum denn?
Warum? Willst du auch noch obendrein Komödie spielen?
Nein nein nein ... aber Svend! Aber Svend! bedenke doch, in welchem Zustande ich mich befinde!
Pack dich fort, auf der Stelle! Nimm deine sieben Sachen und nimm ihn auch gleich mit!
Mich packen?
Wenn ihr nicht alle beide innerhalb einer halben Stunde vor dem Hof draußen seid, so schlage ich euch ... schlage ich euch tot! Er schrie, daß es ihr in den Ohren gellte.
Kreideweiß, mit weitoffnen Augen wie ein Kind, das zum erstenmal von einer Mißhandlung wie gelähmt ist, zog sie sich rückwärts nach der Küchenthür, fiel über die Thürschwelle, erhob sich wieder und sah ihn noch einmal schreckerfüllt an, während sie sich unter der Thür zum Gehen wandte.
Einen Augenblick nachher waren beide, sie und Tönnes, auf und davon.
Svend dankte Gott für den zur rechten Zeit gekommnen Zuruf der alten Anne; es war kein Unglück geschehen, das Recht, das ganze Recht war auf seiner Seite.
Aber was nun?
Er setzte sich auf ein Pferd und galoppierte nach Frederiksborg, um mit einem Rechtsanwalt zu sprechen.
Ja wohl, ohne Aufschub, entschied der Rechtsanwalt, als er ihn angehört hatte – gleich, augenblicklich! Entweder durch das Gericht, oder mit königlicher Erlaubnis! – Königliche Erlaubnis, das wäre das Beste ... Christians V. Gesetz, Paragraph so und so viel. – Denn sie wird ihr Vergehen wohl zugeben, nicht wahr?
Sie muß, nach dem, was ich selbst gehört habe.
Aber wenn sie es nun für eine Lüge ausgiebt?
Ich will auf meine ewige Seligkeit schwören, daß es wahr ist!
Jawohl, jawohl, das ist ganz gut; aber diese Art Frauenzimmer ... wo ist sie denn eigentlich?
Das weiß ich nicht; ich warf sie gleich zum Haus hinaus.
Pfui Pfui! Dazu hast du kein Recht, Mann! Eine Frau in dieser Verfassung! Du hast sie hoffentlich nicht geschlagen?
Nein, aber ich sagte, ich schlüge ihr den Schädel ein, wenn sie nicht augenblicklich fortgehe!
O weh! O weh! Das ist ja eine lebensgefährliche Bedrohung! Der Rechtsanwalt kratzte sich hinter den Ohren. Aber Mensch! Was können wir da thun? – Sag einmal, wieviel willst du geben?
Svend griff in die Tasche.
Nein nein, nicht mir, ich meine ihr, ihr, ihr, dem Frauenzimmer – wenn wir die Sache ordnen könnten, ohne vor das Gericht zu gehen!
Der Hof gehörte ihr, und sie kann ihn auch gern wieder haben, wenn ich sie nur los werde!
Gut gut! Ich will sehen, wie ich es einrichten kann!
Der Rechtsanwalt Frandsen kam hie und da zu Bredals.
Zum Teufel! Es wird kalt! sagte er eines Tages und rieb sich die erstarrten Hände. Er komme, sagte er, von Gilleleje, er habe dort eine widerwärtige Ehescheidungsgeschichte mit einer jungen Frau.
Anine, die jetzt viel am Webstuhl beschäftigt war, saß gleichgiltig daran und spielte mit den aufgespannten Fäden; Mille nähte.
Frandsen! Frandsen! warnte Herr Bredal.
Ja, sie ist übrigens nicht schüchtern, das kann ich auch sagen, keck wie eine Bajadere, aber nicht besonders sylphidenhaft, wenigstens nicht im Augenblick; sie ist nämlich in Umständen, die ... nun, hm!
Und sie will sich von ihrem Mann scheiden lassen?
Nein, das ist es ja gerade, sie will nicht.
Sie sagten es aber doch vorhin.
Bitte um Entschuldigung, Verehrtester! Er, der Mann, will sich von ihr scheiden lassen.
Frau Bredal hatte aufgehört zu spinnen und sah den Rechtsanwalt erwartungsvoll an. Was hat es denn gegeben? fragte sie.
Hm! Der Rechtsanwalt warf einen bedeutsamen Blick auf die beiden jungen Mädchen: Nichtübereinstimmung über einen ziemlich wichtigen Punkt.
Madame Bredal ließ schnell ihr Rädchen wieder schnurren und machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, wie um zu sagen: So schweig doch endlich stille!
Wer ist denn der Mann? fragte Herr Bredal.
Er ist ein Hofbauer, ein schöner, prächtiger junger Mann. Er möchte am liebsten, daß das Ganze so still wie möglich abgemacht würde, und will ihr auch gern den großen Hof abtreten; aber sie ist frech, sie stellt ihre Bedingungen; um keinen Preis will sie den alten, verschuldeten Hof übernehmen; Geld will sie haben, 2000 Thaler. Und zum Unglück hat er seine eigne Sache noch verschlimmert, indem er mit Totschlägen gedroht und sie vom Hofe fortgejagt hat; dadurch hat sie eine Waffe gegen ihn in die Hand bekommen.
Ist sie denn nicht mehr auf dem Hof?
Nein, der Hof liegt bei Tisvilde, auf der Tisvilder Markung.
Anine ließ ihre Arbeit los, schlug ihre dunkeln, schweren Augenlider auf und wurde totenbleich.
Der Mann soll übrigens von Alsingröd sein ... ja was ... was giebt es denn?
Verwirrt sah er von einem zum andern; alle hatten sich erhoben und standen in tödlichster Verlegenheit vor ihm.
Der Mann ist wohl Svend Börgesen, das scheint uns klar, nahm Herr Bredal das Wort. Das junge Mädchen hier ist eine nahe Verwandte von ihm ... das ist natürlich eine sehr unangenehme Nachricht für sie.
Der Rechtsanwalt verstand nun alles; er drehte sich halb um und that einen langen, kaum hörbaren Atemzug, der wie eine Bitte um Entschuldigung aus tiefstem Herzen kam.
O, das thut gar nichts, sagte Anine mit einer Stimme, die munter klingen sollte, die aber kaum die einzelnen Worte deutlich herausbrachte. Es sind nur diese bösen Kopfschmerzen, die mich plagen.
Ja, rief Madame Bredal und schob ihren Mann und den verlegnen Rechtsanwalt beiseite, es ist wirklich schlimm mit diesen Kopfschmerzen! Komm. Anine, laß mich deine Stirn ein wenig halten, das wird dir gut thun. Ich glaube, du solltest dir einmal zur Ader lassen ... ja, du solltest das thun; das ist ungesundes Blut, das in den Kopf steigt ... Mille, ich glaube, du fängst auch an, dir den Kopf zu halten ... ich habe es gestern gut gesehen, daß du die Stirn in die Hand stütztest, als Brammer gegangen war ... Guten Abend, Frandsen! Gehen Sie schon? Grüßen Sie Ihre Frau und fragen Sie, ob sie mir wohl das Kragenmuster mit den schwarzen Zacken leihen könnte ... ach, Mille, du könntest gleich mitgehen und es holen!
Als das Ehepaar mit Anine allein war, machte Frau Bredal ihrem Mann mit den Augen ein Zeichen, das er richtigerweise als die innige Bitte auffaßte: Sprich du dieses mal ein wenig mit ihr.
Er setzte sich also neben das Mädchen und begann: Mein liebes, gutes Kind, du mußt sehen, daß du die Sache überwindest. Sie zehrt viel zu viel an deinen Kräften; du bist verbittert in deinem Herzen.
Sie sah nicht auf, sondern spielte mit einem Schlüssel, indem sie ihn fortwährend aus einer Hand in die andre warf.
Dann sprach er lange und ernst mit ihr von des Lebens Kämpfen und Enttäuschungen und sagte ihr, daß wir alle eine größere oder kleinere Menge unterdrückter Bitterkeit im Herzen trügen, ein ungesundes, giftiges Gewächs, das wir mit unsern Gedanken nährten; es nütze aber durchaus nichts, gegen den Stachel locken zu wollen, im Gegenteil, dadurch werde das Gift nur noch brennender, so oft wir uns durch fruchtloses Empören von unsrer eignen Hilflosigkeit überzeugten. Wenn die Menschen in alten Zeiten böse auf ihre Götter waren, fuhr der Adjunkt fort, so schossen sie einen Pfeil gegen das Himmelsgewölbe hinauf, aber dann kam es zuweilen vor, daß der Pfeil beim Herunterfallen den Schützen selbst traf. Nein nein, nur durch stille, ernste Selbstzucht ist es möglich, zu einem wahren Herzensfrieden zu gelangen, das darfst du glauben, mein Kind.
Anine warf immer noch ihren Schlüssel hin und her, ein höhnischer Zug legte sich leicht um ihren Mund. Madame Bredal stand daneben und schüttelte wehmütig und mit Thränen in den Augen den Kopf.
Nun begann Herr Bredal wieder, einer der sieben Weisen Griechenlands, Namens Bias, habe gesagt, die unglücklichsten aller Menschen seien die, die es nicht verstünden, ihr Unglück zu tragen; und ein berühmter Denker habe einmal geschrieben, wenn es auf der weiten Welt etwas gebe, das schöner sei als die Natur und schöner als die Kunst, so sei dies ein Mensch, der stärker sei als das ihm zugestoßne Unglück.
Sie erwiderte kein Wort, aber man konnte ihre Gedanken in den heruntergezognen Mundwinkeln lesen.
Ich glaube, liebe Anine, dein großer Fehler ist, daß du der Bitterkeit in deinem Herzen zu viel Raum giebst, du willst dich so zu sagen an deinem eignen Unglück rächen; aber das kann man nicht, das darf man nicht!
Und nun erzählte er ihr, wie man in Indien die Schlangen zähme: man wickle die Hand in ein mit spitzigen Stacheln besetztes Tuch, dann strecke man sie der Schlange entgegen, die wild darauf hineinbeiße, sich aber zugleich ein halbes hundert Stacheln in die Zunge und den Gaumen drücke; dadurch werde sie wütend, beiße wieder und wieder, bis sie endlich vom Schmerz überwältigt und ermattet zusammensinke und, nun vollständig schlaff und machtlos, gezähmt sei. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, Anine?
Ja, ich bin nicht schwer von Begriffen.
Nimm einen guten Rat an, mein liebes Kind, beiß nicht in das Tuch voll spitziger Stacheln! Du bist zu gut dazu, deine gesunde Kraft in einem fruchtlosen Kampfe gegen die Dornen zu vergeuden.
Er nahm ihre Hand und drückte sie fest in der seinigen. Wir urteilen nicht hart über dich, liebe Anine, wir wissen, was du gelitten hast und noch leidest, aber wir möchten dir helfen und all unsre Kraft dafür einsetzen, daß wir glücklich mit dir darüber hinwegkommen. Bedenke, daß dir die Kraft dazu gegeben ist.
Als Herr Bredal das Zimmer verlassen hatte, nahm seine weinende, kleine Frau ihres Gatten Platz ein.
Ach Anine, ich weiß am besten ...
Mit einer unruhigen Bewegung, als ob sie fürchtete, zu viel gesagt zu haben, ergriff sie Aninens Hand, die ihr Mann eben losgelassen hatte, und fuhr fort: Ich weiß, was du durchmachen mußt, aber der treue Vater im Himmel kann auch solchen Kummer heilen, ja, das kann er. Schließe dich nur recht an uns an, mein liebes Kind. Betrachte dich ganz als unsre eigne Tochter. Wir wollen dich lieb haben, dich trösten, dir helfen ... ach! Gott möge sich in Gnaden deiner erbarmen, liebe Anine!
Jetzt neigte sich Anine zu ihr hin und flüsterte: Danke, danke! Sie sind so gut gegen mich. Aber Sie glauben gewiß, daß ich ihn immer noch lieb habe!