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Buchschmuck

Erstes Kapitel

U Ueberall in den Wäldern von Seeland sind im Laufe der Jahrhunderte aus unzähligen Kohlenmeilern graue Rauchwolken in die Luft aufgestiegen. Der scharfe teerartige Geruch des verkohlten Holzes hat sich in den Kleidern und in den Behausungen festgesetzt, und er ist von Geschlecht zu Geschlecht den Alten wie den Jungen als ein lieber heimatlicher Duft angenehm und vertraut gewesen.

Im Mittelalter hatten die Wälder einen viel größern Umfang als heutzutage. Da mußten die Äxte der den Klöstern verpflichteten Bauern Luft zwischen den allzu dicht stehenden Buchen schaffen und durch die beinahe undurchdringlichen Wälder einen Weg bahnen. Die gefällten Bäume wurden dann zu Kohlen gebrannt, und der Boden zu Ackerland umgearbeitet. Dann zog der Pflug seine Furchen, und die Sichel schnitt da das reife Korn, wo früher der Wolf und der wilde Eber ihre verborgnen Gänge gehabt hatten.

Zur Zeit der Reformation kamen die Klostergüter an die Krone, aber in den ärmlichen Verhältnissen der Kohlenbrenner und der andern gemeinen Leute trat keine besondre Veränderung ein. Die Kronbauern mußten sich jetzt für weltliche Lehnsherren ebenso plagen, wie früher für die Herren der Kirche. Unter Christian IV. wurde das Los der Kohlenbrenner allerdings etwas gemildert, sie kamen an Stelle des Frondienstes mit einer glimpflichen Geldabgabe davon, aber erst im Jahre 1784, als der Kronprinz Friedrich und seine Bundesgenossen für das Volkswohl eintraten, brach eine leichtere Zeit für die Bauern von Nordseeland an.

Damals lebte in dem Bezirk von Alsingröd ein geachtetes Bauernpaar, Jens Börgesen und Boline Marie, geborne Hansen, die beide aus altem, echtem Kohlenbrennergeschlecht stammten. Der Mann war eine begabte, feurige Natur; mit der ganzen Thatkraft seines Blutes warf er sich auf die Bebauung seines ihm bei der Parzellierung des Bodens zugeteilten Stück Landes, während er zugleich eine möglichst große Ausbeute aus dem ihm nach altem Verjährungsrecht zugefallnen Waldteil zu erzielen suchte. Mit seiner riesigen Arbeitskraft mühte er sich in Wald und Flur, mit krummem Rücken und hervorstehenden Augen, während ihm dabei beständig der Klang von künftigen Silberthalern in den Ohren tönte. Im Umgang mit seinen Standesgenossen war er als der hervorragendste Bauer in der Umgegend meistens kurz angebunden und gebieterisch, allen »Vornehmen« und »Großen« gegenüber aber war er geschmeidig, beinahe kriechend – er war selbst in der Luft des Frondienstes aufgewachsen und hatte auf den Fronfeldern gelernt, die Mütze mit einem Ruck vom Kopfe zu reißen. Die Frau, eine schöne, dunkle, kräftige Gestalt, mit einem nicht eben spärlichen weichen, schwarzen Flaum über dem Mund, half ihm treulich bei der Arbeit, obgleich sie eigentlich lieber in alten Chroniken las und mehr Freude an alten Volksliedern als am Ackerbau und an der Kohlenbrennerei hatte. In ihrer Jugend hatte sie als Stubenmädchen im Pfarrhaus in Vejby gedient und hatte dort Gelegenheit gehabt, mancherlei zu lesen; oftmals hatte sie auch mit den Kindern in der Stube gesessen und dem beredten Hausvater zugehört, wenn er in der Dämmerstunde in der Ofenecke saß und aus dem reichen Schatz seines Wissens erzählte. Ihr angeborner poetischer Sinn und ihr unersättlicher Wissensdurst hatten in diesem Hause die ersehnte Befriedigung gefunden, und mit einem für die damalige Zeit außergewöhnlich reichen innern Leben kam sie als junge Frau zu ihrem geliebten Jens nach Alsingröd.

Alsingröd war kein schlechter Platz für arbeitsame Leute. Freilich war der Boden hart und lag da und dort noch in einer Art Urzustand; aber die tiefen Torfmoore und die vielen Gehölze waren mit ihrer Masse von Brennstoffen eine sehr gute Einnahmequelle. Eine Menge Torf wurde nach Frederiksborg und Kopenhagen verkauft; Männer und Weiber fuhren abwechselnd mit den Torfwagen nach der Stadt; oft konnte man noch zur Nachtzeit eine frische, junge Maid mit den Zügeln in der Hand auf dem Wagen sitzen und mit ihrer Torflast nach der Hauptstadt fahren sehen. Bei Jens Börgesen brachte hauptsächlich der Kohlenverkauf etwas ein; unaufhörlich brannte ein Kohlenmeiler neben seinem Gartenzaun.

Obgleich die Kohlenbrennerei im Rückgang begriffen war, hatte sie für viele kleine Leute doch noch eine große Bedeutung; aber sie verlangte viel Arbeit, und sie mußte, um einen zufriedenstellenden Gewinn zu ergeben, mit viel Sachkenntnis betrieben werden. Das Holz mußte zuerst in passende Stücke zersägt und sorgfältig abgerindet und ausgetrocknet werden; dann erst konnte der Meiler »gesetzt« werden. Dazu bildete man in einer runden Vertiefung im Boden, am besten in einem Loch, wo früher schon Kohlen gebrannt worden waren, einen Hügel von Holzscheiten, die, mit dem einen Ende auf dem Boden ruhend, alle schräg gegen einander gestellt wurden. Der ganze Meiler, der etwa sechs Meter im Umkreis und ein bis zwei Meter hoch sein durfte, wurde mit Reisig, Rasen und Erde bedeckt, doch derart, daß rund um den Meiler eine Anzahl Zuglöcher offen blieben. Mit Hilfe von Stroh und Spänen wurde er nun von unten herauf in Brand gesteckt. Der Meiler mußte dreimal vierundzwanzig Stunden brennen, und während dieser ganzen Zeit mußte immer jemand dabei sein, der auf das Feuer acht gab, denn die Hauptsache war, daß die Verbrennung im ganzen Meiler zugleich so gleichmäßig und ununterbrochen wie möglich vor sich ging. Deshalb mußte der Wachthabende genau aufpassen, daß das Feuer nicht in hellen Flammen herausschlug, sondern nur in einem ruhigen Glühen blieb. An dem herausdringenden Rauch konnte ein kundiges Auge erkennen, ob es richtig brannte; und jeden Augenblick mußte eine Hand bereit sein, das Feuer zu regeln; entweder mußten die alten Öffnungen zugestopft oder es mußten neue gebildet werden. Durch diese Behandlung wurden die Holzscheite leicht verkohlt und damit zum Verkauf fertig. Durch die Verbrennung verlor das Holz drei Vierteile seines Gewichts, wurde glänzend schwarz und zerbrach, wenn es zu Boden fiel, mit metallischem Klang. Zahlreiche, haushohe Kohlenlasten fuhren in der Nacht auf halb grundlosen Wegen zu den »Königswegen«, wie die Landstraßen genannt wurden, und weiter nach der Hauptstadt, wo die königliche Küche ihrer wartete, und wo die Gelbgießer, Klempner, Goldschmiede und andre mit einem ruhigen, beständigen Feuer arbeitende Handwerker am frühen Morgen mit ihren Groschen in der Hand warteten und nach ihnen ausschauten. Der Verkauf von Kohlen und Torf geschah nach der Fuhre und nicht nach dem Maß, und da die Kohlenbrenner pfiffige Leute waren, die es verstanden, eine große Fuhre mit verhältnismäßig wenigen Säcken aufzubauen, wurden die Stadtleute oft tüchtig geprellt, und die vergnügten Verkäufer schwangen auf dem Heimweg die Mützen und tranken in den Wirtshäusern am Wege auf die Gesundheit der dummen Kopenhagner.

Viele Bauern waren beinahe die ganze Zeit »auf der Fahrt.« Dieses unruhige, ungebundne Treiben erfüllte sie mit Abneigung gegen das einsame Leben auf den Feldern, das Zechen in den Wirtshäusern verwilderte ihren ohnehin leichten Sinn, und das hatte oft traurige Folgen zu Hause.

Jens Börgesen war auch nicht ganz frei von den Sünden seiner Zeit, aber er bebaute doch sein Feld treulich. Der große, schwerfällige Räderpflug, oft mit vier bis sechs, ja sogar acht Pferden bespannt, mußte seinen Weg über die schweren Erdschollen machen, wo er oft über Steinen und Baumwurzeln hoch aufsprang. Überall war Jens Börgesens Grundstück von Reisighecken sorgfältig eingefaßt, und diese wurden nicht wie auf den meisten der Nachbargüter einfach niedergerissen, wenn es sich darum handelte, im Winter leicht zu Brennholz für den Ofen zu kommen. Im Herbst erscholl Sang und Klang bei ihm wie auf allen andern Feldern der Kohlenbrenner. Öfters mußten die Leute bis tief in die Nacht hinein arbeiten, waren aber doch auch bereit, sich nach gethaner Arbeit noch lustig im Tanze zu drehen und dabei mit den Füßen auf den Boden zu stampfen.

Die Bauern in Frederiksborg hielten sich in jenen Zeiten eine ganz unverhältnismäßig große Anzahl Pferde, gewöhnlich zwölf bis sechzehn Stück. Es waren kleine, harte, genügsame Tiere, die frühzeitig daran gewöhnt wurden, dem Hunger und jeder Witterung zu trotzen. Nur ein oder zwei Paare wurden in den Stall gestellt und einigermaßen ordentlich gefüttert, die übrigen mochten sich ihr Futter selbst in den mit Wald bewachsenen herrenlosen Triften suchen. In Scharen trieben sich daher diese Pferde in den Wäldern umher, und sie mußten oft genug mit den Knospen der entlaubten Bäume oder mit verdorrtem Gras, das sie sich aus dem Schnee hervorscharrten, zufrieden sein.

Jens Börgesens Geldkatze wurde mit den Jahren schwerer und schwerer, sonst aber war es mit den Geldverhältnissen in der Gegend sehr schlecht bestellt. Alles, was die Leute verdienten, wurde wieder durch die Gurgel gejagt. Mit Nahrungsmitteln, mit Brennmaterialien, mit Flachs und Wolle, mit allem wurde eifrig gehandelt; die Wohlthätigkeit war groß, aber die Not war noch größer; in allen Ecken wimmelte es von Leuten mit dem Bettelsack auf dem Rücken; darunter sogar alte, verkrümmte, halbblinde Greise von neunzig Jahren. Die Einwohnerzahl nahm von Jahr zu Jahr zu; in jedem zweiten Hof war mindestens ein uneheliches Kind zu finden, und in den Häusern oft zwei und drei. Es war eine ausgemachte Sache, daß es für die Ertragfähigkeit der Gemeinde zu viel hungrige Mägen gebe, aber – der Volksausspruch lautete: jede Frau oder jedes Mädchen bekam die Kinder, die ihr nun einmal bestimmt waren, da konnte nichts dagegen gethan werden. So kaute man eben sein schwarzes Brot, peitschte auf des Königs Pferde ein, stahl dessen Brennholz und ließ die Flasche bei den Meilern lustig im Kreise herumgehen.

Jens Börgesen arbeitete sich schließlich zu Tode, und der Hof ging auf seinen Sohn Borge Jensen über. Dieser lebte eine Reihe von Jahren unverheiratet bei seiner Mutter, schließlich aber blieb er an Else, der Tochter seines Nachbarn hängen, heiratete sie und bekam von ihr einen Sohn, der den Namen Svend Börgesen erhielt.

Börge Jensen war wie sein Vater eine kräftige, leidenschaftliche Natur, aber er verschwendete seines Vaters harte Thaler in nächtlichen Spiel- und Trinkgelagen. Mit Schulden beladen, an Leib und Seele gebrochen, aber mit herrlichen Phantasiebildern von dem himmlischen Jerusalem, wo er zehnmal so viel Geld und Gut als je vorher zu erlangen hoffte, wurde er in verhältnismäßig jungen Jahren zu seinen Vätern versammelt.

Seine Witwe, Else Börges, stand nun allein mit dem kleinen Svend und der alternden Boline. Die Gebäude des Hofes waren zum großen Teil baufällig, und die ganze Wirtschaft war im Rückgang begriffen. Die zwei Frauen hielten zwar treulich zusammen und setzten ihre ganze Kraft ein, aber es wollte nicht vorwärts gehen. Niemals sah man Else müßig gehen; bald saß sie in einem halbdunkeln Verschlag hinter der Küche am Webstuhl, bald war sie mit der Wurfschaufel in der Scheune thätig, oder sie wanderte nach der Ernte mit kurzem Rock, langen dürren Beinen und magerm, langem Halse ährenlesend auf den Feldern herum. Im Frühjahr hantierte sie selbst mit Kalk und Mörtel, flickte und tünchte die schadhaften Stellen auf dem Hofe, während sich der Knecht und der Stalljunge auf den Feldern und die Dienstmagd in der Küche tummeln mußten. Es war ein ruheloser Ausdruck in ihren Augen, gerade als ob diese sich nie und nimmer zu einem sorglosen ruhigen Schlummer schließen dürften. Im Sommer kam sie beinahe nie aus den Kleidern, denn sie fand es nicht der Mühe wert, sich während der paar Stunden, die sie sich Ruhe gönnte, aus- und wieder anzukleiden. Rein und zierlich hielt sie ihr Haus, und alles auf dem Hofe zeugte von ihrem strengen Ordnungssinn; ihre Tenne war so rein wie ein gewaschner Teller, und die Gartenwege waren stets sauber und frisch geebnet.

Es fiel ihr oft schwer, ihren kleinen Knaben in Regen und Schmutz zur Arbeit hinauszuschicken, denn die Zärtlichkeit, die sie von seiner Geburt an für das kleine Wesen gefühlt hatte, kam öfters in Streit mit ihrem Vorsatz, ihn zu einem arbeitsamen, ordentlichen und ehrenhaften Menschen zu erziehen. Aber sie blieb fest; er mußte sich von klein an daran gewöhnen, tüchtig mit zuzugreifen. Und Svend war ein ganzer Kerl; er fürchtete sich nicht vor einem ordentlichen Platzregen, der ihn bis auf die Haut durchnäßte; er ärgerte sich nur, wenn ihm die Mutter zärtlich über das Gesicht strich, ja er kam ganz außer sich, wenn sie ihn einmal vornahm und mit zitterndem Ton ermahnte, ein guter Junge zu werden. Ein guter Junge! – Ein guter Junge! – Ein guter Junge! – O ha! Ja, er konnte die Zunge herausstrecken über diese ewigen Ermahnungen.

Das war damals eine böse Zeit für Dänemark. Die Geldverhältnisse des Landes waren in kläglichem Zustande; der Handel war eingestellt, der Ackerbau und das Handwerk litten unter unerträglichem Druck; eine große Zahl größerer und kleinerer Grundbesitzer mußten ihre Heimat verlassen, weil sie deren Schätze nicht heben konnten; Mißmut und Ratlosigkeit lagen wie finstre Wolken über dem ganzen Volke.

Wie es Else Börges unter diesen Verhältnissen aushielt, das war für alle Leute der Umgegend ein wahres Rätsel; aber sie hielt es aus und fand sogar noch Zeit und Mittel, die Gebäude des Hofes einigermaßen in gutem Stande zu erhalten.

Dicht bei Elses Hof lag ein heruntergekommner Halbhof; hier war Else geboren, hier hielt man nur zwei Wagenpferde, drei bis vier Ackergäule und ein paar Stück mageres Vieh. Auf diesem Hof saß Elses Bruder, Niels Bendtsen, der ihn ungefähr um die Zeit, da Else das Heim verließ, übernommen hatte. Auch hier fehlte es sehr am nötigen Kleingeld, obgleich sich der Herr des Hauses alle erdenkliche Mühe gab, als Holz- und Wilddieb seinen Verhältnissen etwas aufzuhelfen.

Niels Bendtsen war ein untersetzter, baumstarker Mann mit struppigem, schwarzem Haar und einer Masse Narben in seinem lustigen Gesicht, die von Messern und Stöcken herrührten. Ebenso wenig als es der Not der Zeit gelang, einen Druck auf seine unverwüstliche gute Laune auszuüben, ebenso wenig vermochte das Trinken oder die Kälte der Winternacht oder der Knüppel des Forstwächters seiner Roßnatur etwas anzuhaben. Die innern Teile sind aus echtem und gerechtem Eichenholz – ja! ja! pflegte er wohlgefällig zu sagen.

So oft er konnte, entschlüpfte Svend hinüber zum Onkel, denn dort sprach man immer von Flinten und Hirschen und Rehen, und dort blinkten große Jagdmesser in dem geheimnisvollen Halbdunkel der Zwischenstube, einer Art Alkoven neben der Wohnstube. Seiner Base, der dunkeläugigen Anine, schenkte er, wenn ihr Vater zu Hause war, nur wenig Aufmerksamkeit, denn dieser nahm seine ganze Begeisterung gefangen, indem er ihm irgend eine anziehende Arbeit gab, wie z. B. seine Flinte zu putzen oder den Feuerstein zurechtzuklopfen oder dergleichen mehr.

Du wirst einmal ein mächtiger Schütze werden, prophezeite er und brachte das Blut des Knaben in wildes Feuer, indem er ihm Branntwein mit Pulver vermischt zu trinken gab.

Wenn der Onkel nicht da war, mußte sich Svend mit Anine begnügen, die aber auch nach Herzenslust mit ihm herumjagte. Wild und sorglos sprangen sie im Walde umher, warfen einander den Staub von alten Kohlenmeilern ins Gesicht, trieben sich auf der Weide zwischen Kälbern und halbwilden Pferden herum und sangen mit den Vögeln um die Wette. Oft gingen sie auch zärtlich, jedes den Arm um des andern Hals geschlungen, neben einander her und teilten sich in fröhlichem, harmlosem Plaudern alle die wichtigen Gedanken mit, die in solch ein paar jungen Köpfen aufsteigen, aber viel öfter fuhren sie mit dem Holzschuh und der Kehrichtschaufel auf einander los, denn in beider Adern rollte heißes Blut.

An einem Herbsttage – die Kinder waren auf dem Felde und sammelten Ähren für die Schweine – stritten sie sich um einen kleinen runden Stein, »Vättelys« oder »Zauberstein« genannt. Svend, der Stärkere und Ältere, trug den Sieg davon, aber nach beendigtem Kampfe stand er bleich und zitternd da, in der Hand ein Büschel schwarzer Haare, während Anine, die Hand fest an den Hinterkopf gedrückt, schreiend und jammernd nach Hause lief. Einen Augenblick stand Svend wie versteinert, denn die Angst, es sei ein Unglück geschehen, dessen Größe er noch gar nicht überschauen könne, machte ihn verwirrt; als er aber in der Ferne Aninens Mutter auf einen Reisighaufen zueilen und einen Prügel herausreißen sah, stürzte er auf sie zu, streckte ihr den Haarbüschel entgegen und rief:

Nein, nein ... es war meine Schuld!

Da bekamen sie beide ein paar Püffe, und Anine wurde in ein dunkles Loch gestoßen, wo sie auf einem Haufen Torferde ihren bittern Schmerzensthränen freien Lauf ließ, während Svend in stummer Reue außen an der Mauer stand und erst Erleichterung fand, als er mit ein paar reuigen Worten den Zauberstein, in die unglückliche Haarlocke gewickelt, durch ein Loch in der Wand hineingeschoben hatte.

Die Angst, für das ganze Leben verunstaltet zu sein, war es gewesen, die Aninens Jammer veranlaßt hatte; sonst war sie kein Mädchen, das sich um solch eine Lumperei kümmerte. So leichtfüßig und seelenvergnügt sie im Spiel war, so derb und standhaft konnte sie sein, wenn es sich um einen Schlag von Svends Fäusten handelte.

Obgleich die Schulzeit der beiden Kinder oft unterbrochen wurde, konnten sie doch beide ihre Sprüche und Lieder ziemlich gut auswendig, ebenso eilte ihr Gänsekiel flink und lustig über das Papier hin; aber einen richtigen Gedankeninhalt, den bekamen sie in der Schule doch nicht. Dagegen hatte Svends Großmutter, die alte Boline, einen starken, geistigen Einfluß auf sie. Es war der höchste Genuß für die Kinder, wenn sie mit der Ahne, wie beide sie nannten, in der Ecke am Kachelofen saßen, und jene die Wunder der alten Sagen- und Märchenwelt vor ihre Augen zauberte oder ihnen von den Leiden der Bauern in den alten Zeiten erzählte. Die Köpfe zu ihr hingeneigt, meist an einer in glühender Stoppelasche gebratnen Kartoffel kauend, konnten sie stundenlang dasitzen und zuhören, immerfort zuhören. So oft ihnen auch schon jede einzelne der Geschichten erzählt worden war, nie wurden sie müde, sie immer und immer wieder aufs neue zu hören.

Zuweilen stieg ein unklarer Zorn in des Knaben Seele auf, wenn die alte Frau ihm mit lebensfrischen Farben von den Frondiensten, mit denen seine Vorfahren gequält worden waren, erzählte.

Ach! das war schrecklich! Mein eigner Großvater mußte fünf bis sechs Meilen bis zum Frondienst gehen, ja es gab sogar welche, die acht Meilen bis zum Arbeitsplatz zu gehen hatten. In der Erntezeit mußten sie oft drei Monate von Hause fort sein und diese ganze Zeit aus den Feldern und Wiesen übernachten, ohne daß sich ein Mensch darum kümmerte, wie nötig man sie im eignen Heim gehabt hätte.

Und wie sah es damals in den Städten aus? Boline hatte ein Buch, darin stand mit deutlichen Buchstaben gedruckt, daß »die kalte Blöße, der bleiche Hunger, das häusliche Elend, all das, was bitterer ist als der Tod selbst,« sich darin breit mache und Not und Kummer in allen Häusern wohne. –

Im Sommer waren Svend und Anine vom Morgen bis zum Abend bei einander, und eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war, auf eine einzelstehende, alte Rieseneiche zu klettern und hinauszusehen auf den Arresee, dessen blanker Wasserspiegel beim Sonnenuntergang in goldner Pracht erglühte.

Diese herrliche Umgebung mit den waldbedeckten Geländen, den dunkeln Moorgründen und glänzenden Bächen, mit dem erhabnen Ernst des Gribwaldes, den hohen Zinnen des Frederiksborger Schlosses, die sich bläulich schimmernd von den dunkelgrünen Bäumen abhoben, die weiten unbebauten Heiden, die rauchenden Kohlenmeiler am Waldessaum, alles das im Verein mit dem roterglühenden See, dem Knall der Büchsen im Walde und dem Läuten der Kirchenglocken an den Festtagsmorgen machte auf die Kinder einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck und rief starke, unverstandne Gefühle hervor, die sich auf die wunderlichste Weise mit den Märchen und alten Sagen der Ahne verwoben. Als echte Naturkinder, die sich beständig in der freien Natur bewegten, wuchsen sie, sich selbst unbewußt, mit dieser herrlichen Natur zusammen, sangen und schliefen in ihren Armen und tranken aus ihrem unerschöpflichen Urquell.

An den langen Winterabenden, wenn der Lichtspan neben dem Ofen angezündet worden war, und das Wollekarden oder irgend eine andre häusliche Arbeit vorgenommen wurde, konnte die Ahne manchmal beim Erzählen so in Eifer geraten, daß aller Augen unverwandt auf sie gerichtet waren, und aller Hände müßig in den Schoß sanken.

Ja ja, konnte sie sagen, ich selbst weiß zwar nur wenig davon, wo wir Kohlenbrennerleute unsre braune Haut und unsre schwarzen Augen her haben.

Dann folgte mit beredten Worten eine phantasievolle Vermischung von geschichtlichen Thatsachen und alten mündlichen Überlieferungen aus jenen Tagen, wo ganze Scharen von braunem Bauernvolk aus dem Ardennengebirge nach Dänemark gezogen gekommen waren und sich als Kohlenbrenner in Nordseeland niedergelassen hatten.

Es waren recht wilde Bursche darunter, denen das Messer sehr lose im Gürtel saß; auch betrugen sie sich schlecht gegen die Mädchen, fuhr Boline fort, aber das muß man zugeben, Fäuste hatten sie, die konnten etwas zu stande bringen, und lustig waren sie: Tag und Nacht sangen und jubelten sie, daß der Wald davon widerhallte.

Auch in den stillen Nächten, wenn die Bewohner des Hauses um den Kohlenmeiler versammelt waren, mußte die Ahne oft mit ihren Erzählungen die Lebensgeister wach erhalten. Dann erzählte sie wohl auch aus alten Tagen von jener schrecklichen Sandflucht bei Tibirke und Tisvilde; und mit grauenhafter Wahrheit malte sie ihnen aus, wie der Sturm damals den völlig grauen Sand aufgewirbelt und in dicken, erstickenden Wolken über das Land hingetrieben hatte, sodaß das Städtchen Tibirke unter den beständig wachsenden Sandmassen begraben worden war. Sie sprach auch von den großen Anpflanzungen, die dann gegen das Kattegat hin gemacht, und von dem hohen Erinnerungsstein, der im Jahre 1738 auf einem Hügel errichtet worden war zur Erinnerung an die Hemmung der Sandflucht. Mit einer eigentümlich buchstabierenden Aussprache und einem gewissen Selbstgefühl im Ausdruck wiederholte sie die ersten Linien der auf dem Denkmal eingemeißelten Inschrift:

Hier sah es schrecklich aus vor nicht gar langer Zeit,
Der Sturmwind jagt daher, reißt auf die Dünen weit;
Sandberge wachsen schnell, bedecken rings das Land,
Unzählger Menschen Glück begräbt der Dünensand.

Ja, freilich! Solch eine Aussicht, wie dort vom Radberg und dem Hasenhügel, giebt es nicht wieder auf der ganzen Welt; noch einmal in meinem Leben möchte ich von dort aus in das Land hinein- und auf das Meer hinausblicken! sagte die Ahne dann manchmal zum Schluß.

Auch von den Mönchen in Adserbo, von den heilbringenden Quellen und dem Grab der heiligen Helene bei Tisvilde, von den großen Johannisfesten mit Klarinett- und Hornmusik wußte die alte Frau viel zu berichten.

Svend lauschte auf alles mit brennender Begierde und belebte in seiner reichen Phantasie diese Bilder mit den glühendsten Farben; sie erhitzten sein Blut und riefen den heißen Wunsch in ihm hervor, auch einmal die Stätten besuchen zu können, wo sich die wunderbaren Dinge, von denen die Ahne erzählte, zugetragen hatten.

Zweierlei Strömungen trafen zusammen und arbeiteten in dem Herzen des Knaben einander entgegen. Auf der einen Seite übte das Abenteuerliche in den Geschichten und Liedern der Ahne eine so zauberische Macht auf ihn aus, daß er oft des Nachts wachend in seinem Bette lag und sich in die Welt der Hexerei und Zaubersprüche hineindichtete; auf der andern Seite aber lockte und zog es ihn mit unsichtbaren Armen hinüber zum Hofe des Onkels, wo Pulvergeruch und blinkende Jagdmesser seine Lust zu kräftigen Leibesübungen anstachelten. Nur in einem Punkte fanden sich beide Strömungen zusammen: in dem Drang, alle Kräfte in angestrengter Arbeit anzuwenden.

Ein mächtiger Verteidiger war Svend für Hule Jens, einen zwergartigen, schwachsinnigen armen Tropf, der ganz allein, weit draußen auf der Heide, in einer aus Zweigen, Stroh und Rasenstücken zusammengebauten Behausung wohnte. Wenn dieser Höhlenbewohner einmal in den Straßen der Stadt herumstolperte und dabei undeutliche Laute ausstieß, fuhren die Schulbuben schreiend auf ihn los und zerrten ihn an seiner buntfarbigen Jacke. Aber wie ein Donnerwetter kam dann wohl plötzlich Svend mit seinen derben Fäusten dazwischen, trieb die Jungen auseinander und rief:

Seid ihr denn verrückt? Wer wird denn so einem unglücklichen Schwachkopf etwas zu Leide thun? Und weinend sagte dann der Schwachsinnige:

Du bist gut; weißt du, ich bin ein Bruder Jesu. Aus reiner Dankbarkeit schnitt er sogar einmal einen Metallknopf von seiner Jacke ab und flüsterte, indem er ihn Svend mit geheimnisvollen Blicken zusteckte: Silber, Silber von dem Rocke Jesu.

Sehr frühzeitig errang sich der hochaufgewachsene Junge die Erlaubnis, mit Torf und Kohlen allein nach Frederiksborg und später auch nach Kopenhagen zu fahren. Er war sich bewußt, daß er alles sehr gut besorgte, aber hie und da kam er doch einmal in einer gar zu übermütigen Laune nach Hause, und dann wußte seine Mutter ganz genau, daß sie eine Krone weniger bekam, als er wirklich gelöst hatte. Ach Gott, freilich! So war es nun einmal.

Als einmal einige alte Chronikbücher in des Knaben Hände gerieten, wurde er von einer großen Lesewut befallen, aber gleich nachher, während sein Herz noch von dem eben Gelesenen in höchster Spannung schlug, eilte er verstohlen zum Onkel hinüber und erbettelte sich die Erlaubnis, auf die Spatzen schießen zu dürfen.

Mit vierzehn Jahren erhielt er eine eigne Flinte, und nun wurde es ernst mit der Schießerei. Manch unglückliche Ente lief mit gebrochnem Flügel im Moor herum, und manche leichtbeschwingt aufwärts fliegende Waldtaube mußte einen plötzlichen Sturz mit dem Kopfe abwärts auf die Erde machen.

Eines Abends standen Anine und ihr Vater vor der Hausthür und sahen nach dem Walde hin, wo die Schneedecke des Hügels in den Strahlen der untergehenden Sonne in purpurnem Glanz erglühte.

Zum Teufel! Springt dort nicht ein Tier zwischen den Bäumen dicht am Zaun? ... Hallo! Svend! rief er und winkte Svend, der des Wegs daher kam und sich mit einem schwerbeladnen Schubkarren abmühte.

Als Svend herangekommen war, deutete der Onkel nach dem Walde hinaus. – Siehst du dort das kleine Goldkäferchen?

Svends Augen funkelten. Onkel, schnell, gieb mir ein paar Laufkugeln!

Komm gegen elf Uhr herüber, dann sollst du sie haben.

Anine zog die schwarzen, beinahe ganz über der Nase zusammengewachsenen Augenbrauen noch mehr zusammen.

Svend ging nach Hause, kam aber schon lange vor elf Uhr wieder herüber.

Ein stolzer Bursche war er, wie er über den knirschenden Schnee daher stolzierte, die Büchse in der Hand, die rote, gestrickte Mütze tief in dem Nacken, ein schwedisches Ochsenhorn an einem Riemen über der Schulter und ein großes Messer an klirrender Kette am Ledergürtel.

Anine stand vor der Thür und wartete auf ihn.

Ist der Onkel fertig?

Nein, er ist gerade vorhin über einen Schemel gefallen und hat sich am Knie verletzt; er kann weder stehen noch gehen.

Dann geh ich eben allein.

Nein, das thust du nicht, du bleibst zu Hause, hörst du?

Was fällt dir ein? Das wäre ja der reine Unsinn!

Vier dunkle Augen leuchteten einander im Mondschein trotzig entgegen.

Svend, sagte Anine plötzlich weich und bittend, bleib daheim.

Und sie erzählte ihm, wie sie am Sonntag vor Lichtmeß in der Kirche gewesen sei, wie da der Pfarrer seine Hand schwer habe auf die Kanzel fallen lassen und gegen die Holz- und Wilddiebe schrecklich geeifert und gesagt habe, das seien die Sünder der Nacht und des Teufels Gesellen.

Das glaube ich wohl, sagte Svend lachend, dafür wird er ja von den Großen bezahlt ... weg jetzt, und laß mich gehen!

Er ging in die Stube, erhielt seine Kugeln und lud die Flinte. Niels Bendtsen lag auf der Ofenbank, er hatte einen wollnen Rock um das verletzte Knie gewickelt und fluchte vor Zorn über seinen unglücklichen Fall. Er roch nach Branntwein.

Geh du nur allein, Svend, sagte er. Ich bleibe hier und lasse den Fuß ruhen; vielleicht kann ich dann morgen doch hinaus und in aller Frühe die Speckseite zu Bredals hinbringen. – Gieb nur acht, daß das Pulver auf der Pfanne gut trocken ist.

Ich habe es ja eben erst aufgeschüttet.

Aber die Pfanne selbst könnte am Ende feucht sein. Komm hierher und laß mich anfühlen! Gut! Ja, sie wird schon losgehen.

Nun also, dann mache ich, daß ich fortkomme.

Vergiß nicht! Das Messer in den Nacken, dann eins, zwei, drei! Das Lamm über die Schulter! Und dann heimgelaufen, so schnell als möglich!

Anine lief zur Hinterthür hinaus und um die Giebelseite des Hauses herum.

Gieb mir nach, Svend! Bleib da! bat sie atemlos.

Ganz gewiß nicht!

Du mußt, zischte sie zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervor und packte ihn am Ärmel.

Mädchen! Bist du verrückt? Weg mit der Tatze!

Es war bitter kalt; der Hauch fror ihm in der Nase, der Wind drang durch seine dünnen Kleider bis in den Magen, seine Haut krümmte sich förmlich zusammen, diese doch sonst gut abgehärtete Haut, die niemals durch irgend eine Art Unterzeug verwöhnt worden war.

Um so unbemerkt als möglich vorwärts zu kommen, nahm er einen Pfad, der durch die letzten Reste von dem Walde seiner Mutter führte. In einer Niederung von Eichen- und Erlengestrüpp stieß er auf eine große dunkle Masse ... Was war denn das? Ach ja – ein Stück Vieh der Mutter! Mit steif ausgestreckten Beinen, die lange Zunge weit aus dem Maule heraushängend, lag das alte Tier ganz steif gefroren und halb vom Schnee bedeckt unter einer Buche. Na, das hatte er schon öfter gesehen, das war nichts Neues!

Um ein Uhr nachts kam er zurück und brachte einen Rehbock mit nach Hause. Anine, die schon zweimal nach ihm ausgeschaut hatte, stand an der Thür, die vor Kälte zitternden Arme unter der Schürze.

Das werde ich dir nie verzeihen, Svend!

Svend, dem das Blut von dem stolzen Jägergefühl noch erhitzt war, wurde bei dieser Anrede zornig, aber als er einen glänzenden Tropfen über ihre Wange herunterrollen sah, wurde er ganz sanft.

Was ist denn dabei, wenn man so ein Tierchen wegstibitzt?

Er warf den Bock hinter die Thür und deckte ein Bund Stroh darüber.

Was sollen denn wir damit? fragte Anine.

Der Bock gehört euch, der Onkel hat ihn zuerst gesehen. Gute Nacht!

Mit stolzer Haltung schritt er über das weiße Schneefeld nach seiner Behausung hinüber.

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