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Einige Wochen später kam Troels vom Militär zurück und brachte Anine von Svend einen Gruß, der lautete: Ich warte – einen Gruß, den sich Troels wohl ein Dutzend mal auf dem Heimweg hin und her überlegt hatte, ohne herauszubringen, was darunter zu verstehen sei.
Auf was wartet er denn eigentlich? fragte er das Mädchen.
Ja, das möchte ich auch wissen; kannst du es mir vielleicht sagen? antwortete sie.
Troels wurde unruhig. Ob nicht am Ende hinter der kühlen Außenseite ein heißes Feuer verborgen brannte?
Svends Gruß war übrigens für Anine ebenso rätselhaft wie für den Überbringer. Ich warte. Wohl zehnmal am Tage grübelte sie über diese Worte nach; sie wurden wichtiger und wichtiger; alle Mißstimmung, die sie seit seinem Besuch in der Heimat empfunden hatte, verwandelte sich in Reue und Sehnsucht. Wartete er wohl darauf, daß sie zu ihm kommen solle? Ach, das Ganze war wohl nur so in den Tag hineingesprochen; er kümmerte sich nicht ein bischen um sie. Hätte er sie geliebt, so recht mit einer großen warmen Herzensliebe, so hätte er damals, anstatt zu schwatzen und sich albern zu benehmen, fröhlich und ernst, so recht aus der Fülle seines Herzens heraus mit ihr geredet. Er wußte freilich nichts davon, wie sie sich in den langen, öden Tagen seiner Abwesenheit nach ihm gesehnt hatte, seinen Namen in die Bäume geschnitten oder sein Kopfkissen an ihre Wange gedrückt, wenn sie am Abend in dem Zimmer zur Ruhe ging, wo er sonst zu schlafen pflegte ... Aber sie würde schon darüber hinwegkommen und seinen Namen aus ihren Gedanken auslöschen.
Niels Bendtsen ließ indessen Brandstätte sein und setzte sich mehr und mehr in dem Hause seiner Schwester fest. Er hatte nie daran gedacht, sich an der im Jahre 1792 eingerichteten Feuerversicherung für Landleute, in die man sich freiwillig aufnehmen ließ, zu beteiligen. Aus der Stadt hatte man in der ersten Zeit nach dem Brande den Abgebrannten Nahrungsmittel, Wolle und Flachs zugeschickt und Niels sagen lassen, er könne Holz fahren und auch sonst bei den Bauwerken helfen; da sich aber Niels nicht von der Stelle rührte, hörte man mit der Mildthätigkeit auf und überließ ihn seinem Schicksal.
Else war unglückselig; sie arbeitete Tag und Nacht mit der Energie der Verzweiflung und war manchmal wie verwirrt aus lauter Angst vor der Zukunft. Es gab Zeiten, wo sie kaum das nötige Brot für die große Anzahl Menschen, die jetzt von dem ohnehin nicht sehr ertragsfähigen Hofe zehrten, auftreiben konnte. Dazu kam noch die jetzt beständig herrschende Unordnung im ganzen Hause; ihr Bruder und Marianne schliefen in der Oberstube, wo der Fußboden mit Bettstücken, Möbeln, Wollebündeln, Küchengeräten und alten Holzschuhen bedeckt war; Anine lag in der Zwischenstube, wo ihre und Svends Kleider in großen Bündeln durcheinanderlagen – Dein und Mein wurde in jeder Weise durcheinandergeworfen; Niels lief sogar in Svends neuen Hosen herum und vertrug sie in möglichster Kürze.
So kann es nicht länger fortgehn, Niels, sagte Else eines Tages.
Warum kann es nicht länger so fortgehn, Schwester? Laß uns einmal vernünftig mit einander reden. Du hast einen Sohn, und ich habe eine Tochter – also!
Wir wissen ja gar nicht, ob sie einander wollen.
Da ließ Niels einen Pfiff hören, der gleichsam einen Bogen über sie weg beschrieb. Da ist der Profit auf beiden Seiten! sagte er.
Anine ging in ihren eignen aufgeregten Gedanken hinaus in den Wald und setzte sich auf einen Baumstumpf. – Vater, sagte sie später, wollen wir nicht einmal nach Helsingör fahren und einen Besuch beim Vetter Böttchermeister machen?
Ja, das können wir, Mädchen. Morgen ist ohnedies Jahrmarkt dort.
Am nächsten Morgen fuhren er und Anine zum Hof hinaus mit tausend Grüßen von der Heimat beladen. In einem halbgefüllten Kohlensack hinten im Wagen waren eine geschlachtete Henne, ein Ziegenkäse und ein Paar neue Socken, die Boline alle sauber und ordentlich in Papier und Packleinwand eingewickelt hatte. Da sich das eine Pferd bei dem Brand eine leichte Verletzung am Fuße zugezogen hatte, hinkte es ein wenig, und so kamen sie erst gegen Mittag nach Helsingör.
Der Böttchermeister schlug beide Hände über dem Kopf zusammen und rief: Ach, du meine Güte, hat man je schon so etwas erlebt!
Niels Bendtsen übergab den Sack mit den Worten: Hier bringen wir etwas von Else für Svend und euch alle miteinander, ihr sollt euch darein teilen.
Aber gerechter Himmel! Das ist ja ein Kohlensack!
Der Sack ist ganz gut, sagte Niels beleidigt.
Der Böttcher band ihn auf und zog die Henne heraus. Aha ... Mutter, da giebt es morgen eine feine Hühnersuppe!
Ja, wenn es der Mutter in ihren Speisezettel paßt, sonst nicht, hörst du!
Anine setzte sich gleich ans Fenster und sah unverwandt auf die Straße hinaus. So oft ein roter Rock vorüberkam, fing ihr Herz an heftig zu klopfen.
Wo ist denn Sophie? fragte sie nach einer Weile.
Ja, wo ist denn das Mädel? Sie ist fortgelaufen und treibt sich mit dem leichtsinnigen Soldatenkerl herum. Ich denke, sie werden wohl droben bei ihrem Onkel, dem Gastwirt sein.
Anine stieß mit dem Fuß nach einer Katze, die sich bereit machte, auf ihren Schoß zu springen.
Vater, wo wohnt denn der Gastwirt? fragte sie, als die andern hinausgegangen waren.
Geh du nur voraus, Mädchen, ich komme gleich nach; ich will nur ein wenig auf dem Markt herumgehen. Das Wirtshaus ist gleich dort drüben in der Lundestraße. Es hängt eine rote Flasche über der Thür, du kannst nicht fehlgehn.
Sie ging. In der Schankstube saß ein halbes Dutzend trinkender und schimpfender Bauern, die nach Kuhstall rochen; in einem dreifenstrigen Zimmer nebenan war es ganz voll von Burschen und Mädchen, die sich nach den wohlbekannten Tönen eines Gassenhauers, der auf einer Violine in einem Winkel gespielt wurde, zu zwei und zwei im Kreise drehten.
Anine steckte den Kopf zur Thür hinein und sah sich nach rechts und links um ... nein ... ja ... saß er nicht dort drüben? Ja ja, da drüben in der Ecke saß er und drückte einen Haufen blonder Locken an seine Wange. Rasch zog sie den Kopf zurück und starrte ganz verwirrt vor sich hin. Nein nein, es war nicht möglich! Sie mußte nicht recht gesehen haben. Die Töne der Violine drangen durch das Getümmel auf sie ein, alles verschwamm vor ihren Augen in eine graue, wogende Masse. Ja, er war es. Aber wer war ...? Es war unmöglich, das konnte nicht Sophie sein!
Die Eingangsthür wurde jetzt von einem Haufen Bursche verdunkelt, die sich in den Tanzsaal drängten. Als sie hineingegangen waren, war Anine verschwunden.
... Was ist denn los? hat dich jemand verfolgt? rief die Böttchersfrau, als Anine eilig hereinstürzte.
Nein, aber ... ich habe so schreckliche Kopfschmerzen, ich will lieber mein Tuch nehmen und mich auf den Weg machen, Vater kann ja nachkommen!
Dein Vater – ja ja! Sie nickte. Hast du die zwei andern jungen Leute nicht gesehen!
Ja doch, ich habe sie flüchtig gesehen.
Und ihnen gratuliert? ... Aber Kind, was ist dir denn auf einmal?
Anine preßte die Hände zusammen und zwang sich, ruhig zu sein. Es ist nichts, antwortete sie.
Die Frau Meisterin nahm sie in den Arm. Hat er dich etwa zum Narren gehabt? fragte sie.
Anine schwieg; sie konnte kaum atmen.
Laß den Bengel nur hierher kommen, ich werde ihm ... den Kopf waschen! versicherte sie.
*
Marianne kroch wie eine kranke Henne in der Stube herum und konnte sich von dem unglücklichen Stoß in den Rücken nicht wieder erholen. Ach! wenn wir doch nur wieder ein eignes Heim hätten! seufzte sie wohl zehnmal am Tage.
Ich bleibe jedenfalls nicht hier im Hause, wenn Svend heimkommt, ganz gewiß nicht! erklärte Anine mit Bestimmtheit.
Du solltest dir auch die Sache mit Troels ernsthaft überlegen, riet ihr die Mutter.
Troels, dem sein väterliches Erbe, 1100 blanke Thaler, schon ausbezahlt worden war, und dem obendrein noch ein schönes Stück Geld nach dem Tode seiner Mutter sicher war, hatte bei Marianne ein Wort darüber fallen lassen, daß man für zehn- bis elfhundert Thaler gut ein paar Gebäude aufführen könne, und das Geld ja auch sehr leicht zu haben wäre, wenn Anine ihren Sinn ihm gegenüber ändere.
Und Anine dachte wirklich über die Sache nach. Ihre Stellung war äußerst peinlich: die kranke Mutter verlassen konnte sie nicht, und hier im Hause bei der Tante bleiben – nein, das that sie auch nicht, und wenn sie betteln gehen sollte!
Es flimmerte ihr vor den Augen, so oft Svend und das gelbe Lockenhaar aus dem Tanzsaal vor ihrer Seele auftauchten. Mit einer Art wilder, wollüstiger Sehnsucht nach Rache stellte sie sich vor, was Svend empfinden würde, wenn sie ihm ihre ganze Verachtung zeigen und Troels ihre Hand reichen würde. Ihre Einbildungskraft, die während dieser Zeit Tag und Nacht in Bewegung war, zeigte ihr Svend in den für sie qualvollsten Lagen. – In Gedanken sah sie den Hof da drüben neu aufgebaut, strahlend mit seinen hohen, weißen Schornsteinen. – Es war ein Getreibe auf dem ganzen Anwesen, innen im Hause wie außen auf dem Hofe und in dem Garten, und in der ganzen Gemeinde sprach man von nichts als von der großen Hochzeit, die bei Niels Bendtsen gefeiert werden sollte – – dann ging sie wohl eines Tages zu Svend hinüber und sagte: Nun, du wirst ja jetzt bald Hochzeit haben? Können wir da nicht die beiden Hochzeiten zusammen feiern und oben in unsrer neuen Oberstube tanzen? – – Hier angekommen in ihren Phantasien wurde sie kreideweiß und mußte sich den Angstschweiß von der Stirn trocknen. –
Ach! sie hätte geradezu laut aufschreien können!
Da rollte ein Wagen mit vier städtisch gekleideten Menschen auf den Hof.
Was! Das waren ja Bredals!
Anine beeilte sich, ihr Haar glatt zu streichen und sich ein wenig zu putzen, während Else und Boline wie zwei große Brummtöpfe in der Stube herumfuhren und im Umdrehen ein paar Scheuerlappen und einen Pack Strümpfe zusammenrafften.
Niels Bendtsen aber stand mit der Mütze in der Hand draußen neben dem Wagen und begrüßte die Gäste. Freilich können wir ausspannen! Es ist ja bei meiner Schwester, hörte Anine ihn sagen.
Jeden Sommer machten Bredals einmal einen Ausflug nach Alsingröd, wo der pflanzenkundige Adjunkt dann Wald und Feld durchstreifte, während sich Frau Bredal und ihre Tochter mit Marianne und Anine unterhielten. Oftmals – so auch heute – brachten sie einen jungen Mann mit, einen Neffen des Adjunkten, der auf der hohen Schule in Frederiksborg war. Anine, Fräulein Bredal und der Student sagten du zu einander.
Else quälte der Gedanke, die Gäste könnten ihre armselige Lage entdecken. Wir sind ja nur einfache Bauersleute, entschuldigte sie sich und setzte einen großen silberbeschlagnen Bierkrug auf den Tisch.
Liebste, beste Frau, hier ist noch lange von keiner Not die Rede, rief der Adjunkt freundlich und klopfte ihr auf die Schulter. Wir sind übrigens selbst gar nicht so weit her. Ich bin ein armer Schneidergeselle vom Lande, dem ein reicher Ochsenhändler vorwärts geholfen hat, und diese hier, die wohledle Frau Bredal, ist eine arme Müllerstochter von Stengerup!
Nein nein, der Onkel hat nicht Recht, das fühle ich ganz deutlich! rief der Student.
Der Adjunkt richtete seinen langen, magern Körper stolz in die Höhe und heftete zwei schrecklich große, graue Augen auf seinen Neffen: So habe ich Unrecht? sagte er langsam.
Ja ... ach, ich bitte um Entschuldigung ... Ich meinte in Beziehung auf das, worüber wir im Wagen sprachen. Sein feines, jugendliches Gesicht überzog sich mit einer rosigen Glut. Du siehst ein wenig scheel auf die französische Aufklärungslitteratur. Welch mächtiger Umschwung in den Lebensanschauungen ist nicht mit den Namen Diderots, Beaumarchais, Montesquieus verbunden ...!
Umschwung! rief der Adjunkt und wischte sich den Mund ab, da er eben Bier getrunken hatte. Ja Umschwung zum Unglauben und zur Anbetung der Natur – eine Verrückung aller Anschauungen, auf denen Kirche und Staat vorher geruht hatten!
Aber war eine solche Verrückung nicht notwendig, lieber Onkel? Der berühmte Kant spricht von dieser Aufklärungszeit als von einer Zeit, da die Leute sich mit vollem Recht aus dem unbewußten Zustand, in den sie versunken waren, herausarbeiteten, und Hegel bezeichnet diesen Kampf der französischen Schriftsteller als einen instinktiven Angriff der Vernunft auf den ausgearteten Zustand einer allgemeinen und überall durchgeführten Lüge. Denk doch nur an die schrecklichen Übergriffe der Kirche, an das Rechtswesen, das damals in den Händen von ...
Ach, schweig! Ich will nicht mit dir darüber reden! Du bist zu grün, mein Sohn. Es werden dir schon einmal die Augen aufgehen über den unersetzlichen Schaden, den die Encyklopädisten und alle diese Leute mit ihrer Philosophie und ihren Dichtungen angerichtet haben, ja du wirst schon noch einsehen lernen, daß gerade sie es waren, denen die französische Revolution ihren Ursprung verdankte.
Aber Onkel, glaubst du denn nicht, daß auch die französische Revolution in gewisser Hinsicht notwendig war?
Notwendig?
Ja, notwendig! Bitte, sei nicht böse, Onkel, aber ich glaube, du verstehst die große Idee der französischen Revolution nicht ganz ... Die Verzweiflung des Volks, das allgemeine, brennende Gerechtigkeitsgefühl, der Zorn, der mit der Macht der Naturnotwendigkeit endlich losbrechen mußte ... Der Despotismus war es, der die ganze Umwälzung hervorrief: Despotismus hat von jeher Revolutionen hervorgerufen, sagt Mirabeau ...
Jens Ludwig, unterbrach ihn der Adjunkt, du bist erst neunzehn Jahre alt und hast bis jetzt zu wenig Rechtsgelehrsamkeit studiert und noch zu wenig Lebenserfahrungen gemacht. Warte, mein Sohn, bis dein Haupt mit diesen Fransen hier geschmückt ist! – Er faßte an seine grauen Locken, die weich und voll um sein Haupt lagen. Auch ich habe einst solche politische Kinderkrankheiten wie du gehabt! – Puh! Wir waren eine ganze Revolutionsgesellschaft in Regensen, hielten bei Nacht heimliche Zusammenkünfte, stellten Wächter an die Thüren, besprachen alle revolutionären Gedanken, fluchten auf alles, was man uneingeschränkte Monarchie, Adel und Besitz nannte – uf! uf!
Ja, aber die Zeiten sind eben jetzt ganz anders geworden; die Freiheitsideen, die sich damals hinter verriegelten Thüren verbergen mußten, reißen jetzt die Thüren weitaus und dringen unter das niedere Volk. – Selbst unsre ersten Gelehrten und Volksvertreter wie Örsted ...
Ach, schweig mir davon; ich weiß schon, was man von ihnen erzählt, aber ich will es erst selbst hören, ehe ich es glaube!
Nun, da kann ich dir aber ganz bestimmt mitteilen, daß Exzellenz von Örsted persönlich beim König gewesen und von ihm sehr gnädig aufgenommen worden ist. Ehe ein Jahr vorüber ist, haben wir einen Volksrat in Dänemark.
Lebe wohl, grüßte der Adjunkt, ergriff seine grüne Botanisierkapsel und ging rasch davon.
Anine ging mit Fräulein Bredal im Garten auf und ab und war ganz erhitzt und aufgeregt. Else buk in der Küche Pfannkuchen, und Frau Bredal saß droben in der Oberstube zwischen halbverbrannten Holzkübeln und Bettstücken und tröstete die weinende Marianne.
Nachdem der Student sich im Hofe umgesehen, auch einem neugebornen Kalb im Stall einen Besuch abgestattet hatte und, obwohl tief in seine Gedanken über die Geschichte der Revolution versunken, noch eine lange Rede, die ihm Niels Bendtsen über die Viehzucht hielt, angehört hatte, ging er zu den beiden Mädchen in den Garten.
Wo ist denn eigentlich Svend? Ich habe ihn ja noch gar nicht gesehen?
Er ist ja Soldat in Helsingör! antwortete Emilie schnell.
Ach! Das ist wahr! Und wenn er nun heimkommt – na? fragte er Anine und kniff die Augen zusammen.
Jens Ludwig! sagte Emilie ermahnend.
O, ich bitte um Entschuldigung! Er wurde rot. Ich wüßte nicht, daß dabei etwas ... ah, wie schön diese Lavendelstöcke sind! ... ich mag Lavendel so sehr gern ... findest du den Geruch nicht auch herrlich?
Beide Mädchen brachen in lautes Lachen aus, und dadurch wurde er immer verlegner und errötete noch mehr.
Da, riech einmal! Emilie nahm eine Hand voll Lavendelblüten, hielt sie ihm unter die Nase und lief davon.
Da soll doch gleich ... Er rannte hinter ihr drein, setzte über ein Thymianbeet, über den Graben und hinaus aufs Kleefeld; ihr helles Kleid wogte um die runden Hüften und niedlichen Füße, während ihr munteres Lachen durch die Sommerluft klang.
Der Tag ging zur Rüste.
Drüben, gegen Westen, auf dem Wolfshügel zeichnete sich des Adjunkts Gestalt wie ein langer, schwarzer Pfahl am goldnen Abendhimmel ab. Nichts war dem schweigsamen Mann lieber, als an so einem stillen Abend allein draußen zu sein; er ließ seine Blicke über die Wellenlinien der Hügel gleiten, während seine Gedanken sich in das verborgne Leben versenkten, das in der Natur und unter den Dächern der menschlichen Behausungen arbeitete.
Eine friedliche Abendstimmung breitete sich über das ganze Land; der Gesang der Vögel war verstummt, und Millionen von kleinen Blumenkelchen hatten sich für die Nacht geschlossen; aber hinter diesem Frieden und dieser Stille brach ein andres Leben hervor, wild und schrecklich. Wie viele tausend kleiner Geschöpfe würden nicht in dieser Nacht noch ihr Leben durch blutdürstige Räuber verlieren? Durch Fledermäuse, Eulen, Füchse und den gierigen, unterirdischen Mörder, den Maulwurf? Und was war die Absicht des wunderbaren, stillen Lebens der großen Natur? Was war der Endzweck des Treibens der Säfte in den Pflanzenzellen, des Wachsens, des Verfaulens, dieses ganzen ewigen Kreislaufs ...?
Rätsel, lauter Rätsel!
Die Abendluft wehte einen leichten Kohlenduft zu ihm herüber. Da lag Alsingröd in stillem Frieden mit seiner weißen Kirche, seinen Höfen, Weidenpflanzungen und rauchenden Kohlenmeilern, alles von einem zarten, rotgoldnen Schein vergoldet – ein verlockender Anblick, wie geschaffen für einen Verehrer der Hirtenpoesie.
Hirtenpoesie? Ja wohl! Er nickte und verzog spöttisch die Mundwinkel.
Wieder versank er in seine Gedanken. Was war der Lebenszweck dieser Bauern und Kohlenbrenner? Wozu führte dieses immer hartarbeitende, essende, trinkende, genießende und schlafende Dasein, in dem nicht ein einziger höherer Gedanke auftauchte, dieses inhaltlose, bloß vegetierende Dasein, das mit seinen nebelhaften Vorstellungen von unbeugsamen Schicksalsmächten, die alle Lebensfäden nach den geheimnisvollen Gesetzen der Vorausbestimmung spannten, sich kaum über das der Tiere erhob?
Rätsel, lauter Rätsel!
Und doch wohnte ein guter Kern in diesen Leuten, eine erstaunliche Naturkraft, eine Stärke, die in geläuterter Gestalt zu großem Nutzen der menschlichen Gesellschaft werden konnte.
Ein »Folkeraad« ...? Und wer würde darin sitzen? Viehhändler und Kohlenbrenner? Nun, der Gedanke war am Ende nicht so ganz verrückt. Er wußte aus eigner Erfahrung, wie die Bauernnatur veredelt werden konnte durch Zutrauen und durch den Ernst, den große Aufgaben mit sich bringen.
War Seine Exzellenz wirklich beim König gewesen? – Wie eine Erinnerung aus der Sturm- und Drangperiode seiner Jugend zog all dies an seinem Geiste vorüber; sie erweckte die schlummernden Triebe seiner Seele und gab seinen Gedanken neue Spannkraft.