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Auszüge aus dem französisch geschriebenen Brief Adolf Reichels an C. Gambuzzi (Bern, 6. Juli 1876).
… Bakunin kam hier Mittwoch, den 14. (Juni), abends, nach recht beschwerlicher Reise aus Lugano an. Herr Vogt (sein alter Freund, der Arzt, Professor Adolf Vogt), der ihn erwartet hatte, führte ihn sofort in eine Krankenpension in Mattenhof, außer der Stadt gelegen, nahe bei meiner Wohnung (J. L. Hug – Brauns Krankenpension, Mattenhof, Nr. 317) … (Als Reichel ihn denselben Abend aufsuchte) … ich fand ihn auf, mit den Herren Vogt Vater und Sohn (Dr. Robert Vogt), seinem Reisebegleiter, einem Italiener … (dem anarchistischen Flüchtling Giuseppe Sant'Andrea, Schuhmacher) … und Herrn Hug, dem Anstaltsleiter. Wir begrüßten uns heiter und geräuschvoll, wie immer, das Gespräch ging etwas drunter und drüber, wie stets bei einer ersten Begegnung. Keiner von uns fürchtete noch eine so schnelle und kurze Entwicklung der Krankheit, und es fehlte nicht an Scherzen … Herr Vogt … sagte: »Vor allem, mein Lieber, mußt du dich zu einem etwas geregelteren Leben bequemen«, worauf Bakunin erwiderte: »Ach was! Ich lebte immer ungeregelt – nun, so soll man von mir sagen: unordentlich gelebt, aber ordentlich gestorben!« Ich lud ihn dann zum Tee bei mir ein, was er gern annahm, und wir gingen zu meinem Haus, kaum tausend Schritt weit. Er liebte die Musik sehr und wollte welche hören; es wurde ihm einiges aus einem Trio vorgespielt, er hörte aufmerksam zu trotz der Schmerzen, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließen. Aber schon vor dem dritten Teil sagte er: »Genug! Ich leide zu sehr, ich werde mich niederlegen« – das war sein letzter Besuch bei mir.
[Buchwerbung gelöscht. Re]
Am nächsten Tag, dem 15., fand die Operation statt, das heißt die Untersuchung der Blase durch die Sonde. Er selbst glaubte, er habe den Stein, aber der Arzt erklärte nach dreimaliger Untersuchung, die Krankheit sei die vorerwähnte Nämlich Blasenlähmung usw. – Tatsächlich bestand, wie ich von Professor Vogt hörte, neben diesem sehr peinlichen Blasenleiden eine von Bakunin nicht geahnte und total vernachlässigte Nierenentzündung, und dieser ist Bakunin erlegen. Vogt erkannte gleich die Hoffnungslosigkeit seines Zustandes und sagte dies auch Bakunin auf dessen Wunsch; aber beide hatten offenbar vereinbart, dem armen Reichel nichts davon mitzuteilen, so daß dieser damals, 5 Tage nach Bakunins Tod, noch unter dem Eindruck der ihm und wohl auch seiner Frau gegenüber gebrauchten liebevollen Täuschung stand. M. N. … (An diesem Abend traf Reichel den Kranken ganz zufrieden.) … Als Lektüre hatte er einen Band Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, verlangt. Wir sprachen darüber, und er machte die ganz richtige Bemerkung, daß all unsere Philosophie von einer falschen Grundlage ausgehe, indem sie stets mit dem Menschen als Individuum beginnt, statt als einem zu einer Kollektivität gehörenden Wesen. Daher die meisten Irrtümer der Philosophen, die zu einem Glück in den Wolken gelangen oder zu einem Pessimismus wie Schopenhauer und Hartmann. Es wäre zu lang, das ganze Gespräch anzuführen, aber diesen Abend sprach Bakunin noch mit einer Klarheit und Verve wie in seinen guten Tagen.
Am nächsten Tag, dem 16., fand ich ihn nicht mehr so zufrieden wie tags vorher … (Am 19. war sein Zustand wenig verändert; am 20. wurde ein Krankenwärter für nötig erachtet, wogegen Bakunin, der überhaupt ein schwer zu behandelnder Patient war, sich lange wehrte. Er hatte seine eigenen Theorien über seine Krankheit, die er immer den ärztlichen Vorschriften entgegenstellte, auch gab er nicht immer klare Antworten über seinen Zustand, sprach manchmal ausweichend. Der Anstaltsleiter mußte selbst dazusehen, daß er die Medizin richtig nahm.)
… Mittwoch, den 21., sprachen wir noch ziemlich frei zusammen und erinnerten uns an vieles aus unserem gemeinsamen Leben (1843-47) und über alte Bekannte, und ich sagte: »Es ist doch schade, Bakunin, daß du nie Zeit gefunden hast, deine Memoiren zu schreiben.« – »Für wen hätte ich sie schreiben sollen?« antwortete er, »Es ist nicht der Mühe wert, den Mund aufzumachen. Die Völker aller Länder haben heute den revolutionären Instinkt verloren. Sie sind alle zu sehr mit ihrer Lage zufrieden, und die Furcht, auch das, was sie haben, noch zu verlieren, macht sie harmlos und trag. Nein, wenn ich noch ein bißchen Gesundheit wiederfinde, möchte ich eine Ethik schreiben, auf kollektivistischer Grundlage, ohne philosophische und religiöse Phrasen Mit der an die Schopenhauerlektüre anknüpfenden Bemerkung zusammengehalten, zeigt diese Bemerkung wohl, wie sich im Widerspruch zu dem, das er in Schopenhauer in diesen Tagen vor sich sah, in Bakunins Gedanken die Idee eines ganz anders gearteten Werkes solcher Art ausbildete, leider zu spät..«
Donnerstag, den 22., fand ich ihn auf dem Kanapee, und auf die Frage, wie es ihm gehe, sagte er: »Ich bin dumm«. Ich bemerkte bald eine Art Benommenheit (torpeur), die ich einigen Schlafmitteln zuschrieb, die er in der Nacht genommen hatte. Herr Vogt begann sich etwas beunruhigt zu fühlen, aber man fürchtete noch nicht, daß die Krankheit unbesiegbar sei In einem undatierten (1876), unvollendeten und nicht abgeschickten Brief an Professor Vogt beschrieb Bakunin seine Krankheitserscheinungen und erwähnt da schon die manchmal eintretende, sehr unangenehme schlafsüchtige Benommenheit ( torpeur somnolente)..
… Die Schlafsucht (somnolence) nahm kein Ende, und oft, wenn ich bei ihm war, war er halb im Schlaf (25.) … (Am 24. diktierte er Frau Reichel auf das genaueste einen russischen Brief nach Lugano, seine Rückkehr in vierzehn Tagen in Aussicht stellend. Am 25. oder 26. kam der Krankenwärter [es waren deren zwei, Isenschmied und Liechti]; Bakunin schien nicht gerade zu leiden, wurde aber schwächer. Er trank viel Tee, Wasser mit Wein und sehr kaltes Wasser.)
… Montag, den 26., abends, hatte ich noch ein Gespräch über Musik mit ihm. Er fragte mich, ob Beethoven auch Fugen komponiert hätte, und an was ich dächte, wenn ich solche komponierte. Er folgte meiner Erklärung mit ziemlichem Interesse. Dann sprachen wir über moderne Musik, und er ließ sich über den Komponisten Wagner aus, den er sehr richtig beurteilte, sowohl seinen Charakter als seine Musik betreffend. Dienstag, 27., abends, sprachen wir wieder, und als ich sagte, es sei Zeit für mich, zu gehen, und für ihn, sich niederzulegen, sagte er ohne jede Sentimentalität: »Ja, geh, aber umarme mich, mein lieber, mein guter Freund!« Ich tat dies, ohne zu vermuten, daß er vielleicht von mir bei vollem Bewußtsein Abschied nehmen wollte.
Den nächsten Tag aber, Mittwoch, den 28., sprach ich mit Herrn Vogt, der mir sagte, daß die Krankheit eine schlimme Wendung nehme, und daß er an der Heilung verzweifle … (Am 28. setzten die körperlichen Funktionen plötzlich ganz aus und die Somnolenz – Schlafsucht – nahm zu. Er wollte nichts mehr essen und nahm mit Mühe etwas Bouillon. Er verließ das Bett nicht mehr und schlief immer mehr.) … Als ich ihn bat, etwas Bouillon zu nehmen, sagte er, ohne die Augen aufzumachen: »Ich brauche nichts, ich habe meine Sache gut zu Ende gebracht.«
(Auch von russischem Kascha, einem Brei, auf den er sich zuerst freute, und den ihm Frau Reichel am 29. zubereitete, aß er nur einige Löffel. Es wurde immer schlechter, er war stets mehr oder weniger bewußtlos, erkannte aber alle, sprach zu Frau Reichel Russisch, zu Reichel Deutsch, sagte Du oder Sie, je nach den Personen.)
… Samstag, den 1. Juli, um 9 Uhr früh, sah ich ihn zum letzten Mal. Sein Zustand war wenig verändert. Meine Frau fand ihn um 10 Uhr viel ruhiger und mit besserem Gesichtsausdruck. Um 11 Uhr besuchte ihn Herr Vogt, und 4 Minuten vor 12 Uhr tat er den letzten Atemzug. – Man kann sagen, daß er keinen Todeskampf hatte. Die beiden letzten Tage schlief er am meisten, sehr laut atmend, aber seine Züge zeigten selten einen schmerzlichen Ausdruck. Von Zeit zu Zeit schien er einen Augenblick die Geduld zu verlieren und verzog dann das Gesicht und sagte: »Diavolo!« (Teufel!). Aber im ganzen schien er immer mehr einzuschlafen …
(Reichel, am 7. Juli schreibend, fügt hinzu:) … Er machte mir die ganze Zeit den Eindruck, daß er immer Herr seiner selbst blieb, und ich kann nur sagen: Bakunin ist gestorben, wie er gelebt, als ganzer Mann. Wie er sich sein ganzes Leben hindurch gezeigt hatte, wie er war, ohne Phrasen und Verstellung, so ging er auch weg in voller Kenntnis von sich und seiner Lage. – Im ganzen schien er mir des Lebens müde. Er beurteilte die heutige Welt richtig, und im Gefühl, daß das nötige Material für seine Art der Arbeit fehle, schloß er ohne Bedauern die Augen, vielleicht wollte er sogar sterben, aber es ist ihm nie ein Wort entschlüpft, das darauf hingedeutet hätte Bakunin erlag der Urämie, Blutzersetzung durch Aufhören der Funktionen der Niere, und fand so einen unvermeidlichen, unaufhaltsamen, friedlichen Tod, den sein Wille weder hätte aufhalten noch beschleunigen können. M. N..
Eine Stunde nach dem Tode fand ich ihn gewaschen und bekleidet und war frappiert von der Schönheit seiner Züge, auf welchen grandiose Ruhe lag …