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Aus einem Brief Bakunins an seinen Bruder Paul.

(Paris, 29. März 1845; zuerst veröffentlicht 1925 von A. Korniloff.)

… Du siehst, Paul, mein Glaube und idealer Wagemut haben sich nicht vermindert; ich bin derselbe wie vordem – offener Feind der bestehenden Wirklichkeit, nur mit dem Unterschied, daß ich aufhörte, Theoretiker zu sein, daß ich endlich die Philosophie und Metaphysik in mir besiegt habe und mich ganz, mit ganzer Seele, in die praktische Welt stürzte, die Welt der wirklichen Tat und des wirklichen Lebens. Glaube mir, Freund, das Leben ist sehr schön; jetzt kann ich dies mit vollem Recht sagen, weil ich längst aufgehört habe, es durch die Brille theoretischer Konstruktion zu betrachten und es nur in der Phantasie zu kennen, weil ich seine ganze Bitterkeit tatsächlich erlebt habe, vielen, vielen Kummer hatte und oft in Verzweiflung fiel. Ich liebe, Paul, ich liebe leidenschaftlich; ich weiß nicht, ob ich geliebt werden kann, wie ich es möchte, aber ich verzweifle nicht; – ich weiß wenigstens, daß viel Sympathie für mich vorhanden ist; – ich muß und will die Liebe der von mir geliebten verdienen, indem ich sie fromm (réligeusement), das heißt tätig liebe; – sie ist der schrecklichsten und infamsten Sklaverei unterworfen; – und ich muß sie befreien, ihre Unterdrücker bekämpfend und in ihrem Herzen das Gefühl ihrer eigenen Würde entzündend, – indem ich in ihr Freiheitsliebe und -bedürfnis erwecke, die Instinkte der Empörung und der Unabhängigkeit, – indem ich sie aufrufe zum Gefühl ihrer selbst, ihrer Kraft und ihrer Rechte Der Gegenstand von Bakunins Liebe war eine verheiratete Frau, eine Deutschrussin (Rigaerin), die er zuerst 1842 in Dresden, dann häufiger 1843 in der Schweiz sah, die Frau des italienischen Emigranten F. Pescantini, Johanna. Es gelang Bakunin nicht, Fortschritte zu machen, da diese Frau, die ihm ideal äußerst zugeneigt war, sich immer mehr religiöser Schwärmerei zuneigte und so allen und auch Bakunin verlorenging. Sie hat ihn noch in der sächsischen Festung, 1849/50, als sein Tod bevorzustehen schien, religiös zu trösten versucht, was er liebevoll, aber absolut zurückwies. Sie starb einige Jahre später, seinem Andenken treu..

Lieben, das bedeutet die Freiheit, die vollständige Unabhängigkeit eines andern zu wollen; – die erste Tat wahrer Liebe ist die vollständige Befreiung des geliebten Gegenstandes. – Man kann wahrhaft lieben nur ein ganz freies Wesen, das nicht nur von allen andern, sondern und vor allem von dem liebenden und geliebten unabhängig ist. –

Dies ist mein politisches, soziales und religiöses Glaubensbekenntnis, – dies ist der intime Sinn nicht nur meiner politischen Handlungen und Bestrebungen, sondern auch, soweit es in meinen Kräften steht, meiner besonderen, individuellen Existenz. – Denn die Zeit, als diese beiden Arten Tätigkeit getrennt werden konnten, liegt sehr weit hinter uns – jetzt will der Mensch die Freiheit in jeder Auffassung und Anwendung diese Wortes, oder er will sie gar nicht. – Wenn man bei der Liebe die Abhängigkeit der geliebten Person will, dann liebt man eine Sache und nicht einen Menschen, denn der Mensch unterscheidet sich von der Sache nur durch die Freiheit, und wenn Liebe auch Abhängigkeit in sich schließen würde, wäre sie die gefährlichste und infamste Sache, die es geben könnte, denn dann wäre sie eine nie versiegende Quelle von Sklaverei und Verdummung für die Menschheit –

Alles die Menschen Befreiende, alles durch Selbsteinkehr in ihnen ihr eigenes Lebensprinzip, originale und wirklich unabhängige Tätigkeit Erweckende, alles, was ihnen die Kraft gibt sie selbst zu sein – ist wahr: – alles übrige ist falsch, – freiheitstötend und absurd. – Den Menschen frei machen, das ist die einzige berechtigte und wohltuende Einflußnahme. – Nieder mit allen religiösen und philosophischen Dogmen! – sie sind nichts als Lügen; – die Wahrheit ist keine Theorie, sondern eine Tatsache, das Leben selbst; – sie ist die Gemeinschaft freier und unabhängiger Menschen – die heilige Einheit der Liebe heraussprudelnd aus den geheimnisvollen und unendlichen Tiefen der persönlichen Freiheit A. A. Korniloff, Michael Bakunins Wanderjahre (russisch; Petersburg, 1925), S. 284-285); von den Worten j'aime, Paul …, ab ist dieser Teil des Briefs französisch geschrieben. …


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