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Bakunin und der Staat.

Aus Le Principe de l'Etat, einem undatierten Manuskript von zirka 1871 in »La Société Nouvelle« (Brüssel), November 1896 von mir herausgegeben. M. N.

 

Im Grunde ist Eroberung nicht nur der Ursprung, sondern auch das höchste Ziel aller Staaten, großer oder kleiner, mächtiger oder schwacher, despotischer oder liberaler, monarchischer, aristokratischer, demokratischer und selbst sozialistischer, falls das Ideal der deutschen Sozialisten, ein großer kommunistischer Staat, je verwirklicht wird.

Daß Eroberung der Ausgangspunkt aller alten und modernen Staaten war, kann niemand bezweifeln, da jede Seite der Weltgeschichte es hinreichend beweist. Niemand wird auch bestreiten, daß die jetzigen Großstaaten als mehr oder weniger eingestandenes Ziel die Eroberung haben. Aber die mittleren und vor allem die kleinen Staaten, wird man sagen, denken nur an ihre Verteidigung, und es wäre lächerlich, von ihnen an Eroberung zu denken.

So lächerlich ist es, wie man nur will, aber es ist nichtsdestoweniger ihr Traum, wie es der Traum des kleinsten lächerlichen Besitzers ist, sich zum Schaden seines Nachbarn zu arrondieren; sich zu arrondieren, zu vergrößern, um jeden Preis, und immer zu erobern ist eine unvermeidlich jedem Staat innewohnende Tendenz, welches immer seine Größe, seine Schwäche oder seine Stärke sei, weil es eine Naturnotwendigkeit für ihn ist. Was ist der Staat anderes als die Organisation der Macht; in der Natur jeder Macht aber liegt es, keine höhere und keine gleiche dulden zu können, – da die Macht kein anderes Ziel hat, als die Beherrschung und die Beherrschung nur Wirklichkeit wird, wenn alles sie Hindernde ihr unterworfen ist; keine Macht duldet eine andere, außer wenn sie dazu gezwungen ist, das heißt, wenn sie sich ohnmächtig fühlt, sie zu zerstören oder umzustürzen. Die bloße Tatsache des Vorhandenseins einer gleichen Macht ist eine Verneinung ihres Prinzips und eine beständige Drohung gegen ihre Existenz: denn sie ist eine Offenbarmachung und ein Beweis ihrer Ohnmacht. Folglich ist zwischen allen nebeneinander bestehenden Staaten permanenter Krieg, und ihr Frieden ist nur ein Waffenstillstand.

Es liegt in der Natur des Staates, sich sowohl für sich selbst, als für all seine Untertanen als absolutes Ziel aufzustellen. Seinem Wohlstand, seiner Größe, seiner Macht zu dienen ist die oberste Tugend des Patriotismus. Der Staat erkennt keine andere an, alles, was ihm dient, ist gut, alles seinen Interessen Entgegenstehende wird als verbrecherisch erklärt – so ist die Staatsmoral.

Deshalb war die politische Moral stets der menschlichen Moral nicht nur fremd, sondern absolut entgegengesetzt. Dieser Widerspruch ist eine gezwungene Folge seines Prinzips: der Staat, der nur ein Teil ist, stellt sich auf und zwingt sich auf als das Ganze; er ignoriert das Recht von allem, das, da es nicht der Staat selbst ist, sich außerhalb des Staates befindet, und wenn er dieses Recht ohne eigene Gefahr verletzen kann, so verletzt er es. – Der Staat ist die Negation der Menschheit …

Daß Bakunin aus der in dieser Stelle zusammengefaßten Einsicht in das Wesen des Staates auf die Notwendigkeit der Abschaffung des Staates schloß, ist bekannt. Wie er sich das Zusammenleben lokaler territorialer Einheiten dachte für eine Zeit noch nicht vorhandener wirklicher Anarchie, zeigt sein dem Berner Zentralkomitee der Friedens- und Freiheitsliga, dem er angehörte, im Herbst 1867 vorgelegter Vorschlag, etwas später genauer ausgearbeitet in dem schließlich »Fédéralisme, socialisme et antithéologisme« genannten langen Fragment (Oeuvres, Paris 1895):

… Wir müssen proklamieren:

1. daß es zum Sieg der Freiheit, Gerechtigkeit und des Friedens in den internationalen Beziehungen in Europa, zur Unmöglichmachung des Bürgerkrieges zwischen den verschiedenen Völkern der europäischen Familie nur ein einziges Mittel gibt: die Vereinigten Staaten von Europa zu konstituieren.

2. Daß diese Staaten sich nie mit den Staaten, wie sie jetzt bestehen, bilden können angesichts der monströsen Ungleichheit zwischen der Macht der einzelnen Staaten.

3. Daß das Beispiel des weiland Deutschen Bundes peremtorisch bewies, daß eine Konföderation von Monarchien ein Hohn ist, daß sie ohnmächtig ist, Friede und Freiheit der Bevölkerungen zu garantieren.

4. Daß kein zentralisierter, bürokratischer und dadurch schon militärischer Staat, auch wenn er sich Republik nennt, ernstlich und aufrichtig in eine internationale Konföderation eintreten kann. Durch seine Verfassung, die stets eine offene oder maskierte Negation der Freiheit im Innern sein wird, würde er notwendigerweise eine permanente Kriegserklärung, eine Existenzbedrohung der Nachbarländer sein. Im wesentlichen auf einem Gewaltakt begründet, der Eroberung oder dem, was man im Privatleben Einbruchdiebstahl nennt, – einem von der Kirche irgendwelcher Religion gesegneten, von der Zeit geweihten und dadurch in historisches Recht verwandelten Akt, – und auf dieser göttlichen Weihe triumphierender Gewalttätigkeit wie auf einem ausschließlichen und höchsten Recht begründet, stellt jeder zentralistische Staat sich dadurch schon als absolute Verneinung des Rechts aller andern Staaten auf, die er in den mit ihnen abgeschlossenen Verträgen stets nur aus einem politischen Interesse oder aus Ohnmacht anerkennt.

5. Daß alle Teilnehmer der Liga deshalb suchen müssen, die Länder, denen sie angehören, umzugestalten, um die alte, von oben nach unten, auf Gewalt und dem Autoritätsprinzip begründete Organisation durch eine neue Organisation zu ersetzen, deren einzige Grundlage die Interessen, Bedürfnisse und die natürliche Anziehungskraft der Völker sind, deren Prinzip die freie Föderation der Einzelpersonen in Gemeinden, der Gemeinden in Provinzen, der Provinzen in Nationen, endlich der Nationen in den Vereinigten Staaten zuerst Europas, dann der ganzen Welt ist.

6. Folglich absolutes Aufgeben von allem, was man historisches Recht der Staaten nennt; alle Fragen über natürliche, politische, strategische, kommerzielle Grenzen müssen von jetzt ab als zur Geschichte der Vergangenheit gehörend betrachtet und mit Energie von allen Teilnehmern der Liga zurückgewiesen werden.

7. Anerkennung des absoluten Rechts jeder großen oder kleinen Nation, jedes schwachen oder starken Volks, jeder Provinz und Gemeinde auf volle Autonomie, vorausgesetzt, daß ihre innere Verfassung nicht eine Bedrohung und Gefahr für die Autonomie und Freiheit der Nachbarländer sind.

8. Der Umstand, daß ein Land, selbst durch freiwilligen Hinzutritt, Teil eines Staates ist, legt ihm keineswegs die Verpflichtung auf, dies immer zu bleiben. Die menschliche Gerechtigkeit, die einzige, die für uns Autorität besitzt, kann keine ewige Verpflichtung akzeptieren, und wir werden nie andere Rechte und Pflichten anerkennen, als die auf der Freiheit begründeten. Das Recht des freien Anschlusses und der ebenso freien Trennung (sécession) ist das erste und wichtigste aller politischen Rechte: ohne dasselbe wäre eine Konföderation stets nur eine maskierte Zentralisation.

9. Aus all diesem ergibt sich, daß die Liga offen die Allianz irgendeiner nationalen Fraktion der europäischen Demokratie mit den monarchischen Staaten verwerfen (proscrire) muß, selbst wenn sie die Wiedergewinnung der Unabhängigkeit oder Freiheit eines unterdrückten Landes zum Ziel hätte, da eine solche Allianz, die nur zu Täuschungen führen könnte, zugleich ein Verrat an der Revolution wäre.

10. Dagegen muß die Liga, gerade weil sie die Friedensliga ist und die Ueberzeugung hat, daß der Friede nur durch die intimste und vollständigste Solidarität der Völker in der Gerechtigkeit und der Freiheit gewonnen und auf ihr begründet werden kann, laut ihre Sympathie mit jeder nationalen Insurrektion gegen jede fremde oder innere Unterdrückung proklamieren, vorausgesetzt, daß die Insurrektion im Namen unserer Prinzipien und im politischen und ökonomischen Interesse der Volksmassen stattfindet, nicht aber mit der ehrgeizigen Absicht, einen mächtigen Staat zu gründen.

11. Die Liga wird aufs äußerste alles bekämpfen, was man Ruhm, Größe und Macht der Staaten nennt. All diesen falschen und schädlichen Götzen, denen Millionen von Menschenopfern dargebracht wurden, stellen wir den Ruhm des Menschengeistes gegenüber, der sich in der Wissenschaft offenbart, und den Ruhm allgemeinen Wohlstandes, der auf Arbeit, Gerechtigkeit und Freiheit begründet ist.

12. Die Liga wird die Nationalität als natürliche Tatsache anerkennen, die ein unbestreitbares Recht auf freie Existenz und Entwicklung besitzt, aber nicht als ein Prinzip – denn jedes Prinzip muß den Charakter der Universalität besitzen und die Nationalität ist im Gegensatz dazu nur eine besondere, getrennte Tatsache. Das sogenannte Nationalitätenprinzip, das gegenwärtig von den Regierungen Frankreichs, Rußlands und Preußens und selbst von vielen deutschen, polnischen, italienischen und ungarischen Patrioten aufgestellt wird, ist nur ein von der Reaktion dem Geist der Revolution entgegengestelltes Ablenkungsmittel: eminent aristokratisch im Grunde, so daß es die Dialekte ungebildeter Bevölkerungen verachtet, mitverstandenermaßen die Freiheit der Provinzen und die wirkliche Autonomie der Gemeinden leugnend, und nirgends von den Volksmassen unterstützt, deren wirkliche Interessen es systematisch einem sogenannten öffentlichen Wohl opfert, das stets nur das Wohl der privilegierten Klassen bedeutet, – unter diesen Umständen drückt das Nationalitätenprinzip nur die angeblichen historischen Rechte und den Ehrgeiz der Staaten aus. Das Recht einer Nationalität kann also von der Liga stets nur als natürliche Folge des obersten Prinzips der Freiheit betrachtet werden und hört auf, ein Recht zu sein, sobald es sich gegen die Freiheit oder selbst nur außerhalb der Freiheit stellt.

13. Die Einheit ist das Ziel, dem die Menschheit unwiderstehlich zustrebt. Die Einheit wird aber stets verhängnisvoll, Verstand, Würde und Wohlstand der einzelnen und der Völker zerstörend, sobald sie sich außerhalb der Freiheit bildet, durch Gewalt oder unter der Autorität irgendeiner theologischen, metaphysischen, politischen oder selbst ökonomischen Idee. Der der Einheit außerhalb der Freiheit zustrebende Patriotismus ist ein schlechter Patriotismus, den wirklichen Volksinteressen des Landes, das er emporheben, dem er dienen will, stets verhängnisvoll, schädlicher, oft, ohne es zu wollen, ein Freund der Reaktion – und ein Feind der Revolution, das heißt der Befreiung der Nationen und der Menschen. Die Liga kann nur eine einzige Einheit anerkennen: die sich frei bildende durch die Föderation der autonomen Teile in einem Ganzen, das nicht die Negation der besonderen Rechte und Interessen, nicht die Begräbnisstätte jeder lokalen Prosperität ist, sondern im Gegenteil die Bestätigung und Quelle all dieser Autonomien und dieser lokalen Prosperität. Die Liga wird also jede religiöse, politische, ökonomische und soziale Organisation, die nicht vollständig von dem großen Freiheitsprinzip durchdrungen ist, kräftig angreifen: ohne dieses Freiheitsprinzip gibt es keine Intelligenz, keine Gerechtigkeit, keinen Wohlstand, keine Menschheit … Diese »13 Punkte« Bakunins sind in seinen Schriften vielfach erklärt und fassen alle Möglichkeiten der staatlichen und nationalen Entwicklungen ins Auge. Es ist reizvoll, an ihrer Hand die europäische Geschichte seit 1867 durchzudenken – und da so unendlich viel auf diesem Gebiet versäumt und noch mehr verfehlt angegriffen wurde, so sind diese so wenig befolgten Ideen noch so gut wie neu und verdienen, sehr genau geprüft und endlich wirklicher Tätigkeit zugrunde gelegt zu werden. M. N.


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