Fritz Müller-Partenkirchen
Die Firma
Fritz Müller-Partenkirchen

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27.

Franz Lohmann traf die Ernennung zum Vertrauensmann auf seiner Reise. Er überblickte die Unterschriften und erkannte: Diese Leute hatten die Macht zum Diktat.

222 »Wenn wir Sie auch schützen,« hieß es am Schluß des Briefes, »von Ihrem kaufmännischen Geschick und menschlichen Takt wird es abhängen, wie Sie den Rahmen füllen. Wie die Dinge liegen, ist es nicht leicht. Ihre Berufung ist der Beweis unseres Vertrauens.«

Er schwankte. Er verbrachte einen zerrissenen Abend. Ein arbeitsamer Tag lag hinter ihm. Wieder waren ihm Erfolge zugeflossen. Erfolge für die Firma. Fast aussichtslose Fälle hatten unter seinen Händen das Gesicht verändert. Und das alles, ohne daß er darüber in Schweiß geriet. Es schien fast, als genüge schon sein Dasein, Verwirrungen zu ordnen.

Mit dem Vertrauensauftrag in der Tasche ging sein Blick zurück: Sein Vater Weichensteller, die Mutter Putzfrau. Die Jugend einsam auf dem Hochmoor zwischen zwei Eisenbahnstationen, ein Geleise hin und ein Geleise her, eine Wanduhr in dem einstubigen Wärterhäuschen, rote Tupfen auf dem Zifferblatt und ein Stundenzeiger, der auf die roten Tupfen zukroch. Der Vater, der dann plötzlich aufsprang und hinauslief, ein Rattern in der Ferne, das zu einem Brausen und Donnern wurde – – dröhnend flitzte eine unbekannte Welt vorbei. Danach ein mühevolles Graben in dem Gärtchen hinterm Wärterhaus und am späten Abend eine Mutter, die von einem schweren Putztag 223 heimkam und sich gerade noch die Zeit zu einem guten Wort zum Vater und zum Streicheln eines Kinderscheitels zu nehmen suchte, ehe die Müdigkeit sie ins Bett zwang.

Dann der rasche Tod des Vaters. Und damit die Not. Trübe lag vor ihm die Welt.

Es fand sich ein Verwandter, der die Lehre zahlte. Es war keine leichte Lehre bei der Firma Utz und Lamprecht. Nichts wurde ihm geschenkt. Auch Demütigungen waren einzustecken. Auch Krach gab es. Aber auch Arbeit, die ihn durch alle Teile dieses weitverzweigten Hauses lotste.

Und nun eine neue Sprosse hinauf. War's eine Sprosse des Segens? Oder würde Unheil daraus für ihn entstehen?

Er konnte nicht ins reine kommen. Einen Kanzleibogen nahm er, faltete ihn in der Mitte, überschrieb die linke Hälfte mit »Ja,« und die rechte Hälfte mit »Nein«.

Gewissenhaft darunter setzte er die Gründe, die für eine Antwort mit Ja – und daneben die andern Gründe, die für ein Nein zu sprechen schienen. Es ergab sich für den Rechner und Berechner seiner Seele, daß die eine Hälfte weitaus größer war als die andere. Halt, sagte er sich, du mußt die Gründe abwägen, nicht zählen.

Er wog und wog. Und kam zu einem Teile Ja und zu drei Teilen Nein.

224 Er atmete auf. Nun war es klar, was er zu tun hatte. Bei einem Verhältnis von 1 zu 3 gab's keinen Zweifel mehr. Ruhig ging er auf das Postamt.

Das Ja ging trotzdem fort.

Er beendete seine Geschäftsreise einen Tag früher und suchte, als er zurückkam, den alten Lamprecht auf. Der sah sich die Berufung an, ließ sich von dem Abwägen berichten und sagte: »Glück auf den Weg, Franz. Ich darf Sie doch noch so nennen?«

»Es ist mir eine Ehre, Herr Lamprecht. Aber eines Glückwunsches wegen bin ich nicht gekommen. Ich komme mit einer Bitte: Wie soll ich mich Ihrem Sohne gegenüber verhalten?«

»Meinem Sohn? Ach so, dem Generaldirektor gegenüber. Ich bin ein alter Mann, Franz. Wie könnte ich da raten, der ich selbst Richard gegenüber einen Schiffbruch erlitten habe?« meinte Lamprecht müde.

»Herr Lamprecht, es hat einen größeren gegeben, von dem es hieß: Sich selbst konnte nicht helfen, der anderen half.«

»Der am Kreuz? Ja ja, weiß Gott, ich hänge nachgerade auch daran. Hab ich Ihnen gratuliert? Ich nehme es zurück. Bei einem Abrutsch in die bodenlose Tiefe gibt es nichts zu gratulieren, Franz.«

»Ihn aufzuhalten, bin ich ja berufen. Unsere alte liebe Firma soll wieder –«

225 »Alte Firma? Liebe Firma?« brach es aus dem alten Lamprecht voll Bitterkeit heraus. »Alt hat er mit Schwachsinn übersetzt, der Richard. Die anhängliche Liebe unserer kleinen Stammkundschaft hat er bespöttelt. Nur so um sich geworfen hat er mit der Weltbedeutung. Und jetzt? Jetzt soll der Lehrling die Weltfirma retten.«

Die Greisenhände bedeckten für eine Sekunde die Augen.

»Meinen Sie wirklich, Herr Lamprecht, ich sei noch ein Lehrling?« fragte Franz Lohmann lächelnd.

»Im letzten Sinne bleiben wir es immer. Das ist's ja, was den Richard scheitern ließ. Er wollte niemals Lehrling sein. Er glaubte keine Lehrzeit nötig zu haben, die war für die andern. Er war immer nur der Herr – der Herr mit den weltweiten Zielen, der sich nicht mit Kleinigkeiten aufhalten wollte. Als bestünde nicht das Größte aus Millionen Kleinigkeiten –«

»Wir werden die Kleinigkeiten wieder beachten, Herr Lamprecht, dann wird auch ein neues Wachsen kommen –«

»Der ehemalige Lehrling doziert seinem alten Lehrherrn.«

»Ich wollte nur, Sie wären es geblieben.«

Das entwaffnete die Bitterkeit des Alten. »Wahrhaftig, Franz, Sie sind kein Lehrling mehr. So wenig, wie ich noch der Prinzipal bin. Ich bin 226 altes Eisen, habe ausgedient und hätte nur noch eine Bitte: Einen Tag früher sterben, als die Firma Utz und Lamprecht stirbt –«

Tränen stürzten aus den alten Augen. Franz packte die Hand seines Chefs.

»Utz und Lamprecht sterben nicht, Herr Lamprecht. Wir stehn davor –«

»Wir? Wer ist wir? Ich bin's nicht mehr. Utz? Eine Ewigkeit, daß er 's gewesen. Flamm? Schon im Abbau. Thilde? Auch die beste Frau kann Stürze höchstens in ein Gleiten wandeln. Blieben Sie noch, Franz – –«

»Ich verspreche Ihnen, daß ich meine ganze Kraft einsetzen werde –«

»Nicht die ganze, Franz. Sahen Sie schon einmal einem Bauern bei der Arbeit zu? Ich tat's oft. Auf der Bauernschaft ruht ja der eine Firmenpfeiler. Der Bauer gibt sich niemals ganz aus. Er hört auf, bevor seine Kraft restlos verbraucht ist. Das ist gut so. Ohne diese Regel trüge die Erde schon längst keinen Bauern mehr, und ohne Bauern keine Städter. Machen Sie es auch so: Einen Saldovortrag müssen Sie behalten – Sie werden ihn noch brauchen.«

»Und Sie selbst, Herr Lamprecht?«

»Ich? Ich versäumte meinen Saldovortrag. Mein Konto ist verebnet. Kümmern Sie sich nicht mehr drum. Und – und hüten Sie sich vor dem gleichen Schicksal.«

227 Beschwerter, als er kam, ging Franz Lohmann wieder und suchte Thilde Flamm in ihrer Wohnung auf. Er traf sie frohgemut bei ihren Kindern: »Die haben eine Vorrangshypothek, Herr Lohmann, auf meinen Halbtag – die andere Hälfte ist noch immer Utz und Lamprecht verschrieben.«

Sie hörte aufmerksam seinen Bericht an.

»Sie werden natürlich annehmen,« schloß er, »daß ich vorher mit Ihrem Gatten –«

»Da irren Sie,« lächelte Thilde Flamm. »Ich bin 's gewohnt, daß man bei konkreten Dingen durch die Frau des Erfinders zwei Fliegen auf einmal zu fangen hofft.«

»Mit einer wäre ich zufrieden, liebe Frau Flamm.«

»Das heißt, Sie wollen meinen Rat? Und ich – ich nahm mir heute morgen vor, um Ihren Rat zu bitten.«

»In welcher Sache?«

»Was hat der Erbauer eines Schiffes zu tun, das so übel betreut wurde, daß es demnächst auseinanderzufallen droht? Darf er es verlassen auf dem Rettungsboot, dem einzigen Teil, an dem er nicht mitarbeitete?«

Franz Lohmann sah sie an.

»Sie meinen also einen finanziellen Ausweg für den, der nie etwas mit Geldern zu schaffen hatte?« fragte er. »Wurde das Utzsche und Flammsche 228 Vermögen, der Erlös aus dem Verkauf der Aktien seinerzeit nicht sicher angelegt?«

»Seinerzeit gewiß. Aber als die Firma zu kämpfen hatte, wurde er auf Bitten des Generaldirektors –«

»Um Gottes willen, doch nicht wieder ins Geschäft gesteckt?«

»Was blieb uns weiter übrig?«

»Fest hätten Sie bleiben müssen,« ereiferte sich Franz. »Nicht nachgeben hätten Sie dürfen. Sich selber treu bleiben hätten Sie sollen –«

»Das eben meinten wir zu tun, als wir der Firma halfen,« sagte Thilde einfach. »Die Firma und wir –«

»– war einmal dasselbe.«

»Und wird es vielleicht wieder, wenn Sie nun das Steuer in die Hand nehmen, Herr Lohmann.«

»Der Steuermann ist noch nicht das Schiff, liebe Frau Flamm – und noch weiß ich nicht, ob der abtretende Steuermann sich steuern lassen wird.«

»Ihre Vollmacht –«

»Sie meinen, daß ich ihn vom Steuerrad abdrängen könnte?«

»Wenn es sein muß.«

»Deshalb kam ich ja zu Ihnen. Zwei Steuerleute, die sich auf der Kommandobrücke raufen angesichts der Zuschauer – wieviel Fetzen Würde und Kredit werden da wohl von der Firma übrigbleiben?«

229 »Daran dachte ich nicht. Aber ich sehe ein, daß das vermieden werden muß. Warten Sie – ich hab 's – kommen Sie.«

Sie führte ihn durch einen engen Gang, wie ihn die Bürgerhäuser aus den alten Zeiten übernommen haben.

»Hier wohnt mein Vater,« flüsterte sie, auf das Ende des Ganges deutend.

»Aber wenn wir stören?«

»Er wird nie gestört. Er sieht uns nicht. Er lebt in einer andren Welt. Nur um eins bitte ich Sie: Sprechen Sie ihn nicht an, das würde ihn aus seiner Versunkenheit wecken.«

»Und wenn er mich anredet?«

»Dann geben Sie ihm ruhig Antwort. Nehmen Sie ihn für voll. Das ist das ganze Geheimnis, um Kinder und Irregewordene in unsere Ebene zu heben.«

Sie hatte angeklopft. Sie traten ein. Der alte Utz saß halb auf der Ecke eines Tisches. Ein Bein wippte leicht. Er blickte versunken durch das Fenster in den Garten hinaus. Langsam ging sein Kopf herum. Über seine Züge flog ein dünnes Erkennen.

»Du hast mich lange nicht mehr geküßt, Thilde – was willst du von mir?«

Sie streichelte sanft seine Hand, die auf dem wippenden Bein lag.

230 »An den Franz wirst du dich doch noch erinnern, Vater?«

Die Frage traf ihn nicht mehr. Sein verworrenes Sinnen streifte wieder durch Gefilde, die ihm langvertraut sein mochten.

»Vater ist gegangen,« sagte Thilde. »Nun will ich Ihnen zeigen, was uns damals half, als er irre wurde. Half in unserm grenzenlosen Jammer, der ihn und uns zu fassen drohte. Das schlimmste war damals, daß der Irrsinn nur erst Teile seines Verstandes erfaßt hatte. Andere Teile waren klar und scharf geblieben, eine Weile noch. Dazu gehörte, daß er in der Firma noch seine alten Befehle austeilen wollte. Befehle aber, in die schon streifenweise, wie in grüne Felder weiße Hagelstriche, der Irrsinn ragte. Die, denen er befahl, konnten sich eines Lächelns nicht enthalten und gehorchten gar nicht oder nur halb –«

»Ich weiß es. Dann wurde er zornig –« nickte Franz.

»Ja, es gab schreckliche Auftritte, bis – bis zu dem Tage, da wir dieses Bild entdeckten.«

Sie wies auf ein Bild an der Wand.

»Der Lotse« hieß es. Ein großes Schiff im gewaltigen Meeressturm. Windstärke 11. Auf der Kommandobrücke stand am Steuerrad ein Lotse. Es war prachtvoll, wie er das Rad in den Fäusten hielt. Wundervoll, wie er das Schiff durch den brüllenden Orkan lenkte.

231 Halt – und da? War die senkrechte Steuerstange nicht ein Stockwerk tiefer durchgeschnitten? War da nicht ein zweites Steuerrad auf die Schnittstelle aufgesetzt? Und an diesem zweiten Steuerrad stand ein anderer Mann. Besorgt und tief bekümmert, wie ein Staatsmann aussehen mag, der die Pflicht hat, das Staatsschiff durch ein haarscharfes Lavieren noch in allerletzter Sekunde aus der mörderischen Brandung herauszureißen.

»Ich danke Ihnen,« sagte Franz Lohmann schlicht und einfach und drückte Thilde Flamm die schmale, feste Hand.

 


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