Tagebücher 1910-1924
Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

1924

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 19. Januar 1924

Überall in Deutschland das gleiche Bild: die Kapitalisten dekretieren unerhörte Arbeitszeitverlängerungen bei gleichzeitiger ungeheuerlicher Beschneidung der Löhne. Das Heer der Erwerbslosen wächst ins Riesenhafte, und wer nicht in Mammutbetrieben zehn, elf, zwölf Stunden arbeiten muß, ist in den kleineren Betrieben zur Kurzarbeit bei völlig unauskömmlicher Entlöhnung verurteilt.

(...)

So liest man von allen Gegenden über Lohn- und Tarifbewegungen, vom Verlassen der Arbeitsstätten nach acht Stunden, von Kämpfen und Demonstrationen, bei denen unausgesetzt Arbeiterblut fließt, während doch in Wahrheit die »Errungenschaften« unseres armen bißchens Revolution längst beim Teufel sind und alle diese Versuche bloß noch Nachzüglergeplänkel charaktervoller Proletarier sind, die noch nicht sehen, bis zu welchem Grade sie schon verraten sind. Natürlich ist die Wut der Arbeiter allgemein, und gegen erfolgreiches Aufbegehren hat man ja den von Ebert verhängten (von seinen drei Parteigenossen unter den Stresemannen mitbeschlossen) Belagerungszustand,Im September 1923 von Reichspräsident Ebert verhängter militärischer Ausnahmezustand zur Eindämmung der revolutionären Krise, die im Oktober u.a. zum Hamburger Aufstand führte und den Charakter einer Militärdiktatur unter General Seeckt annahm. der selbstverständlich nicht früher aufgehoben wird, als nicht die Unternehmerschaft ihre letzten Ziele so weit gefördert hat, daß sie nicht mehr kaputt zu machen sind. Diese Ziele gehen konsequent auf die Privatisierung der Staatsbetriebe hinaus, was mit schöner Offenherzigkeit von Herrn StinnesHugo Stinnes (1870-1924), Industrieller, 1920-24 im Reichstag (Deutsche Volkspartei). Setzte den unter militärischem Druck erzwungenen Sozialabbau in einen wirtschaftlichen Aufschwung um (»Stinnes-Konzern«), der die Inflation und die revolutionären Unruhen in Deutschland beendete. selbst einem französischen Ausfrager entwickelt wurde. Der aufmerksame Leser kann viel aus dem Interview entnehmen. Die Herren wollen nicht nur die Verkehrsmittel in ihren Besitz bringen, sondern, nachdem ihnen die Eskamotierung des Münzmonopols so überraschend gelungen ist, dem Staat auch den eigentlichen Lebensnerv abbinden. Stinnes spricht von der Gründung seiner eigenen – vom Reich unabhängigen! – Bank, der die Steuererhebung zu übertragen wäre. Daß damit auch die Steuerleistungen selbst von den Finanzierern dieser Bank zu bestimmen wären, liegt um so mehr auf der Hand, als ja schon die Rentenbank-InhaberRentenbank: Im Oktober 1923 gegründete Kreditbank zur Sanierung der deutschen Währung. das Recht zuerkannt erhalten haben, das Reichsbudget vor dem Reichstag zu genehmigen, zu verändern oder abzulehnen. Wir haben also in Deutschland, dem Lande, in dem die Hypertrophie des Staatsbegriffs – obwohl hier der Staat jünger ist als fast überall sonst – ungeahnte Dimensionen annehmen konnte, das erste praktische Beispiel der Auflösung des Staats. Marx' Lehre von der Akkumulation des Kapitals bestätigt sich – ich gebe das durchaus zu – in erstaunlicher Weise, wenn auch ganz anders, als Marx gedacht hat (nur Rosa Luxemburg war in ihrem Buch über die Akkumulation des Kapitals, das von den Marxpfaffen als Ketzerei ohnegleichen verschrien wurde, auf der richtigen Fährte). Überhaupt finde ich immer, daß Marx in seinen ökonomischen Lehren außerordentlich hellsichtig war und stets da anfängt, Scharlatan zu sein, wo er die Ökonomie mit einer windigen Philosophie vermengt. Daß der Marxismus, trotz der hohen Qualitäten seines Gründers als Wirtschaftsgelehrter, so verheerende Wirkungen ausgeübt hat, liegt daran, daß man diesem Gelehrten die Weihen eines Religionsstifters gab und ihn mitsamt seiner Ideologie und ihrer grauenhaften Anwendung auf die Politik katechisierte. Ohne Marx' Anmaßung, über seine Erklärungen des Entwicklungsgangs der kapitalistischen Institutionen hinaus das praktische Verhalten des internationalen Proletariats schematisch – und noch dazu im Sinne des übelsten Opportunismus – festlegen zu wollen, wäre den europäischen Arbeitern eine Unsumme von Leid, Enttäuschung und Bruderzwist erspart geblieben. In allem Politischen hat der Bakunismus recht behalten, leider aber nur insofern, als seine Nichtbefolgung und die kirchenfromme Anwendung der marxistischen Prinzipien die Richtigkeit der anarchistischen Theorie klar erweist. Ich zweifle nicht, daß die Auferstehung Bakunins im gesamten Proletariat bevorsteht, wenn auch erst, nachdem der Kapitalismus dank der marxistischen Leitung aller werktätigen Menschen weitere fruchtbare Aufklärungsarbeit über die Wirkungen des marxistischen Opportunismus geleistet haben wird.

(...)

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 24. Januar 1924

Lenin tot! Die Nachricht kommt in so bestimmter Form, als ihre Quelle wird eine offiziöse russische Agentur angegeben, daß wir sie als wahr nehmen müssen. Mir wirbeln die Gedanken und Gefühle, und es wird seine Zeit brauchen, bis das furchtbar erschütternde Ereignis in mir zu ruhiger Einordnung unter die Betrachtungen zum Weltgeschehen wird reifen können. Noch bin ich kaum fähig, den Sinn der Meldung zu fassen, und meine Nerven sind überdies durch den Zwang durcheinandergeraten, den ich mir eben im Kreise der Genossen auflegen mußte, um nicht ihr merkwürdig niveauloses Reagieren auf diese Trauerbotschaft mit einem Ausbruch zu beantworten. Es ist wohl keiner im Hause, der Lenins Wirken seit der äußerlichen Stabilisierung des pseudosowjetischen Regimes in Rußland in Hirn und Herz schärfer kritisierte als ich; aber ich fürchte, daß das Erlöschen dieses Genies von keinem der Genossen hier, die blind verteidigen, was er schuf, was er tat, was er leistete und was er im Stich ließ, so bitter schmerzlich empfunden wird wie von mir. Oh, wie sie alle bereit waren (außer Luttner, der still blieb und wohl in der Seele weinte), gleich Namen zu nennen, die nun dem Werk als Schild dienen werden, wie sie mit der dummen Allerweltsweisheit auffuhren, niemand sei unersetzlich! Napoleon hat's erfahren, als er sich in St. Helena seine Taten überleben sah, wie die Kleinen von den Seinen taten, als wäre sein Wirken nur eine Verirrung gewesen, und ihnen bliebe die Aufgabe, die Achse zu drehen, die sie doch nur verschoben hatten, um nicht anerkennen zu müssen, daß sie Jener in Bewegung gesetzt hatte. Ich verneine viel von dem, was Lenin im einzelnen gelehrt und bewirkt hat, ich habe schmerzlich gelitten, als ich seinen Appell zum Opportunismus – die Kinderkrankheits-Broschüre›Der »linke Radikalismus«, die Kinderkrankheit im Kommunismus‹; wichtigste Programmschrift Lenins zur revolutionären Strategie und Taktik der kommunistischen Parteien, veröffentlicht aus Anlaß der 2. Konferenz der Kommunistischen Internationale 1920. – las, als ich verfolgte, wie er – getreu den darin verkündeten Zynismen – den Wagen der sozialen Revolution bremste, anstelle des Kommunismus den Staatskapitalismus, endlich gar dessen Verquickung mit privater Spekulation, setzte und selbst die Verfolgungen der idealtreuen Revolutionäre billigte, die nicht realpolitisch denken konnten und mochten – ich weiß das alles und noch vieles mehr – und doch ist mein Schmerz unendlich groß, und das Gefühl allein beherrscht mich, daß am 21. Januar – vor drei kurzen Tagen – ein Riß durch den Erdball ging, daß die Weltgeschichte an einem Kreuzweg angelangt ist und daß ein Volk, das als Ganzes von unbeschreiblicher Schicksalsfähigkeit bewegt wird, der menschlichen Kraft verlustig gegangen ist, die seiner Größe durch die schicksalsvollsten Jahre hindurch die repräsentierende Erscheinung war. Dumpf und erbarmungslos steigen Fragen auf: Rußland ohne Lenin, die Arbeiterschaft der Welt ohne Lenin, die Weltrevolution ohne Lenin! Was nun?

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 27. Januar 1924

(...) Das Ereignis Lenin hat bei den Genossen doch inzwischen großenteils stark nachgewirkt. Ein paar Leitartikel in den Zeitungen haben das Gefühl für die Größe der Katastrophe geweckt, und gestern am Beisetzungstage hatte die Mehrzahl die Ausnahmskleidung angelegt, und vormittags marschierten wir geschlossen eine halbe Stunde um den Hof. Oben bei den Schutzhaftgefangenen, die scheinbar erst gestern Kenntnis von Lenins Tod erhalten haben, hörten wir abends eine eindrucksvolle Feier vor sich gehen. Der schöne russische Trauermarsch wurde gesungen, danach die erste Strophe der Internationale und dann erklang das Hoch auf die Weltrevolution. Bei der Einmütigkeit, die nach ein paar kurzen Wochen Haft unter den Leidensgenossen wohl noch besteht, kann man derartige Demonstrationen trotz Verboten und Unterbrechungen machen. Bei uns wäre es Torheit, da nicht bloß Disziplinierungen folgen würden, die man auch mal auf sich nehmen muß, sondern – was zu vermeiden leider unsere erste Aufgabe geworden ist – unerträglicher Zwist im Hause selbst. Nicht einmal für ein Beileidstelegramm an die Berliner russische Botschaft war das Einverständnis aller zu gewinnen, obwohl die Fassung frei ist von jeder politischen Färbung und obwohl auch die Frömmsten, die Holzmacher,Einige Festungshäftlinge hatten ihre Protesthaltung aufgegeben und sich für Holzarbeiten zur Verfügung gestellt. ihre Zustimmung gaben, es im Namen aller abzusenden.

(...)

Die Frage, was die Wirkungen von Lenins definitivem Ausscheiden für Rußland unmittelbar sein werden, beschäftigt hier im Hause die Genossen am meisten. Gewisse kalte Realisten (Kain) meinen, Lenin sei ja schon seit einem Jahr tot gewesen, also werde sich gar nichts ändern. Das ist unendlich töricht.

(...) Das russische Volk, das viel mehr mit dem Instinkt lebt und aus dem Gefühl handelt als irgendein anderes – deshalb handelt es im Affekt stets so richtig –, war bisher durch das Bewußtsein der Existenz Lenins innerlich so stark verbunden und an die revolutionären Methoden des »Leninismus« (in all seinen Variationen und Wandlungen) anhänglich, daß sich keine Opposition dagegen mit Erfolg durchsetzen konnte. Dies, obwohl die linken Sozialrevolutionäre, die Anarchisten, Maximalisten und selbst die in allerletzter Zeit unter Trotzkis persönlicher Führung gegen die Neue Ökonomische Politik aufsässigen Bolschewiken mit ihren Tendenzen dem Empfindungswillen der breiten, revolutionsgewöhnten Massen in ihren Forderungen viel eher entsprechen als die dem deutschen Unteroffiziersgeist entlehnten Methoden, deren Träger Stalin,Stalin gab die flexible weltpolitische Revolutionsstrategie Lenins und Trotzkis auf, orientierte auf den Aufbau des Kommunismus in einem Land, beendete die NÖP und errichtete sein diktatorisches Regime. Bucharin, KamenewLew Kamenew (geb. 1883), führender Bolschewik und Vertrauter Lenins, unterlag im Machtkampf gegen Stalin, 1938 hingerichtet. etc. sind. Lenins Tod fiel in die Tagung der Rätekonferenz, bei der gerade eben Trotzki zu Kreuze kriechen mußte (daher seine von Teutomanen gleich zu Syphilis vergiftete »Krankheit«). Werden nicht jetzt die Ehrgeizigen und Strebsamen aus den Löchern schleichen und ihre Stunde gekommen wähnen? Und wird das Proletariat, die Bauern, die Soldaten und Matrosen, die die Idee der reinen Sowjets noch als Sehnsucht in sich tragen, dabei ruhig zusehn, wenn Geister secundum ordine in Lenins Tartarenstiefeln daherstampfen möchten?

(...) Aber da ich glaube – nein, weiß! –, daß Lenin eben deshalb das Genie Rußlands war, weil sich in ihm das ganz wahre, von Dostojewski ahnend geschaute, wilde, unbändige und im besten Sinne gotterfüllte russische Volk personifizierte, deshalb weiß ich auch, daß die neue Bewegung, die dieses Volksmeer wieder in Sturmflut wird aufpeitschen lassen, Revolution und nicht Restauration sein wird und daß die beiden größten Russen, Bakunin und Lenin, dabei der Welt zeigen werden, daß sie nicht tot sind, sondern ihrem Volk und allen Völkern als Lehrmeister wahren Lebens erst auferstehen werden – und dann lebt Tolstoi!

Niederschönenfeld, Freitag, d. 1. Februar

(...) Wie die Leiter der Komintern im allgemeinen die Talente der deutschen kommunistischen Führerschaft einschätzen, erhellt klar aus einem Artikel, den kürzlich der Gesellsche ›Neue Kurs‹Silvio Gesell (1862-1930), Wirtschaftstheoretiker, Volksbeauftragter für Finanzen in der 1. Räterepublik. Seine »Freigeldtheorie« zur Aufhebung der Zinsknechtschaft galt unter Anarchisten als verlockende Alternative zur marxistischen Lehre. aus der ›Prawda‹ zitierte. Da setzt sich Sinowjew mit der deutschen Bewegung äußerst aggressiv auseinander. Man habe Ende Oktober mit absoluter Sicherheit in Deutschland den Ausbruch der proletarischen Revolution erwartet. Sie sei durch die Unfähigkeit der Parteileitung ausgeblieben, die völlig unrichtige Informationen nach Rußland sandte und der man jetzt »unser Vertrauen in jeder Form entziehen« müsse. Besonders illustrativ wirkt dieser Satz: »Selbständige Köpfe zu verwenden schien unmöglich, da wir ja unsere Parolen und Winke ausgeführt haben wollten; freilich so mechanisch, wie die Repräsentanten der KPD auf jeden unserer Wünsche eingingen, so hatten wir uns die Leitung nicht gedacht.« Dann – hier zitiert der ›N. K.‹ leider selbst nicht wörtlich – führt Sinowjew den Zusammenbruch der OffensivaktionenIm Januar 1924 veröffentlichte die Komintern einen Beschluß ›Lehren der deutschen Ereignisse I923‹, in dem die bisherige KPD-Führung (Brandler und Thalheimer) erneut wegen Passivität und Rechtsopportunismus gerügt wurde. Damit gewann der linke Flügel (Fischer-Maslow-Gruppe) an Einfluß, bis sich Mitte 1925 – wiederum auf Drängen der Komintern – die zunehmend vom Stalinismus beherrschte Thälmann-Richtung durchsetzte. auf falsche Organisation zurück, womit er wohl recht haben wird, und »er meint, daß die Form der Gewerkschaften, die Form der Partei versagt habe, und daß darum die Gebilde als schädlich und hemmend zertrümmert werden müßten. Er wendet sich vom Zentralismus ab und empfiehlt den Föderalismus.« Das hätten die Bolschewisten uns schon vor einigen Jahren empfehlen sollen; dann sähe es in Deutschland wahrscheinlich anders aus. Er ruft den Arbeitern in den Betrieben zu: »Schickt alle von der Arbeiterbewegung lebenden Kreaturen zum Teufel!« – und verurteilt den parlamentarischen Weg »als in tiefe Verödung führend«. – Fehlt also nur noch die Einsicht, daß das ganze Fiasko auf die falsche marxistische Lehre zurückzuführen ist, der man in blindem Gottvertrauen nachstolpert – und diese Einsicht wäre ja nur die Konsequenz zu der Sinowjewschen Kritik und ihren Folgerungen –, und unsereiner könnte hoffen, endlich doch noch die Maximen bei den Kommunisten in Wirksamkeit treten zu sehn, die wir zu empfehlen uns stets vergeblich angestrengt haben. Ich strebe nicht nach Führerruhm. Mir würde es vollständig genügen, unbemerkt von der öffentlichen Linse auf folgerichtiges und überhaupt richtiges Tun hinzudrängen – um so besser, wenn es von den Personen geschieht, die bisher das Falsche taten.

(...)

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 28. Februar 1924

Mindestens vierzehn Tage lang wird wohl das Tagebuch wenig Eintragungen mehr erhalten. Überall in den Zellen und unter den einzelnen Gruppen wird die Zeitung geradezu verschlungen. Ich habe eben anderthalb Stunden lang allein die Anklageschrift und den größten Teil der Hitlerschen großen Einleitungsrede, die vier Stunden gedauert hat, aus den ›MNN‹ vorgelesen.Im sog. Hitlerprozeß wurden die Teilnehmer des Hitlerputsches zum Teil zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Der Amnestierung der Putschisten im Dezember 1924 (Hitler-Amnestie) hatten auch die gefangenen Räterevolutionäre Bayerns ihre Freilassung zu verdanken. Um halb fünf – in zwei Stunden – folgt die Fortsetzung. Zum ersten Mal lernen wir aus der staatsanwaltschaftlichen Anklageschrift den Sachverhalt im Zusammenhang kennen, natürlich so, wie er für Kahr, Lossow und SeisserIm September 1923 übernahm Kahr die Regierungsgewalt in Bayern, brach mit dem Reich und berief General Lossow zum Oberhaupt einer bayerischen Reichswehr. Der »Marsch auf Berlin« war mit der NSDAP gemeinsam geplant worden, wurde aber kurz vor dem Hitlerputsch von Kahr aufgegeben und zum Scheitern gebracht. Rücktritt Kahrs am 18. Februar 1924 am glimpflichsten scheint. Der erste Eindruck ist der, daß die guten Radinazi geradezu unglaubliche Kindsköpfe und Sprüchklopfer sind. Wahrhaftig, unsere mit Dummheiten gewiß reichlich bestückte Räterevolution war gegen die Jämmerlichkeit dieser Bierkellerrevolution eine wohlorganisierte und besonnen durchgeführte Staatsaktion. Doch ist nicht zu leugnen, daß Hitlers Rede recht wirksam ist. Vor allem sie macht den Eindruck großer Ehrlichkeit – nur hat der Mann offenbar eine Meinung von seiner Bedeutung, die weit über seine tatsächlichen Fähigkeiten hinausreicht. Ich habe die Empfindung, daß – und ich weiß gut, wie groß die Verführung dazu ist – die geschulte Beredsamkeit, die natürlich die in Volksversammlungen politisierenden Massen besticht, sein einziges starkes Talent ist und daß er selbst durch die damit erzielten Erfolge verleitet ist, sein geistiges Gesamtniveau unbeschreiblich höher zu sehen, als es ist.

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 10. April 1924

75. Geburtstag meiner Mutter. Vielleicht ist es gut, daß sie meine Leidensjahre nicht mit anzusehen braucht. Es wäre ihr doch wohl schwergefallen, sich in das, was sie verursacht, hineinzudenken. Ganz sicher würde sie gar nicht verstehn, was meinen jüngsten Kummer und Ärger ausmacht. Hans hat sich von meinen dringenden Bitten, nichts mehr für meine Freilassung vor den anderen zu tun, nicht abschrecken lassen und schreibt mir einen neuen, furchtbar peinlichen Brief, aus dem ich bittere Weiterungen befürchte. Man hat ihm alle möglichen Hoffnungen gemacht, wenn ich um Bewährungsfrist eingebe, ja, ich würde meine Kameraden schädigen, wenn ich es unterlasse, da meine Bewährungsfrist die der anderen nach sich ziehen würde etc. Ich kann's mir denken, wie gern man von mir kompromittierende Gesuche in der Hand hätte, mit denen man auftrumpfen könnte: Seht, wie sich der Mann von hohen Beamten und Kapitalisten protegieren läßt, um freizukommen. Die Leute, die Hagemeister sterben ließen, keinen Kranken in ein Sanatorium beurlauben, die harmlosesten Rotgardisten, die oft keine Ahnung haben, wieso ihre Straftat überhaupt als Hochverrat angesehen werden konnte, bis zum letzten Tag schikanieren und ihre Zeit zu Ende sitzen lassen, sollen ausgerechnet mich herauslassen. Ich bin ganz außer mir, daß ich meinen Bruder nicht bewegen kann, seine entsetzlich kompromittierenden Versuche zu unterlassen. Jetzt habe ich Zenzl gebeten, ihn aufzuklären, hoffe aber am meisten vom Ferdl, dem ich aufgetragen habe, Klarheit darüber zu schaffen, daß für mich nur ein energischer Abwehrkampf, der die Nerven schrecklich angreift, gegen derlei Liebenswürdigkeiten in Frage kommt. Wichtig ist mir, daß Aussicht besteht, daß Pestalozza herkommt. Ich schrieb ihm, und Zenzl hat ihn besucht und seine prinzipielle Zusage erhalten. Es bleibt aber noch zweifelhaft, ob man ihn ohne Aufsicht zulassen wird, und davon wird er wohl den Besuch abhängig machen. Herr Hitler wird wohl in Landsberg keine solche Befürchtungen zu haben brauchen, wenn ihn sein Anwalt besuchen will. Die Völkischen sind schon lebhaft in Bewegung, um ihre vier Verurteilten freizudemonstrieren. Sie haben einen sogenannten »Wahlsieg« errungen und über 400000 Stimmen auf ihre Parteilisten vereinigt.Einzug des »Völkischen Blocks« in den bayerischen Landtag am 6. April 1924. Daß ihnen damit, ebenso wie den Kommunisten schon lange, der Giftzahn ausgezogen ist und sie genau wie jede andere Partei nun parlamentarisch versumpfen werden, werden sie wohl erst allmählich einsehen lernen.

(...)

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 11. Mai 1924

Im Bett. Daher so kurz wie möglich nur das persönlich Tatsächliche. Mein Befinden war gestern sehr schlecht. Um die Abendbrotzeit (dreiviertel sechs) steigerte sich die Qual so, daß ich kaum ein paar Löffel Suppe herunterbrachte (obwohl es Metzelsuppe war, in dem ewigen fürchterlichen Einerlei unserer derzeitigen Verköstigung, die saftlos, kraftlos, abwechslungslos nachgerade jeden anekelt, eine kleine Erholung). Ich schlich in meine Zelle, ging zu Bett und wunderte mich, daß ich überhaupt noch lebendig bis dahin gelangt war. Das Gefühl unmittelbar bevorstehender Auflösung war aber so stark gewesen wie noch nie, und ich diktierte deshalb dem Zäuner Sepp einen Schrieb an die Verwaltung, des Inhalts, daß sich mein Zustand derart verschlimmert habe, daß ich die Zuziehung ärztlichen Beistands für unaufschiebbar halte, allerdings nach wie vor Herrn Dr. Steindl ablehnen müsse. Um aber nicht in den Verdacht zu kommen, etwa aus Eigensinn Selbstmord zu begehen, wiederholte ich die Gründe, die mich fürchten ließen, gerade durch die Aufregung, mit der für mich die Bemühung Dr. Steindls verbunden sein müsse, zu sterben. Ich erklärte bündig, daß ich mich einer Untersuchung durch ihn nicht gewachsen fühle, stellte seine negative Diagnose nach der Untersuchung durch Hans fest, in der ich den Vorwurf der Simulation gegen mich und der Vorschubleistung gegen meinen Bruder erblickte, erinnerte an sein Verhalten bei Hagemeisters Krankheit und betonte, daß er Antisemit sei und diese Gesinnung Festungsgefangenen gegenüber zum Ausdruck gebracht habe. Ich aber sei Jude. Endlich erklärte ich, mich jedem von der Verwaltung beigezogenen Arzt zur Untersuchung zur Verfügung zu halten mit der einzigen Ausnahme des Medizinalrats Steindl und ersuchte um Konsultation des Landgerichtsarztes von Neuburg für heute (Sonntag). Ich hatte starke Zweifel, ob man von dem Prinzip abweichen werde, obwohl ich geschrieben hatte: Vor die Alternative gestellt, den Medizinalrat Steindl zu befragen oder dem wahrscheinlichen Tode entgegenzugehen, müßte ich mich für die zweite Eventualität entscheiden. So schrieb ich einen Abschiedsbrief an Zenzl, verstaute ihn da, wo schon meine übrigen Aufzeichnungen für den äußersten Fall liegen – meine Freunde kennen das Buch, in dem sie alles finden –, und wurde dann gegen acht Uhr durch den Eintritt eines mir bis dahin unbekannten Sanitäters mit dem Wachtmeister Krebs überrascht. Der Sanitäter, den ich in meiner Schwerhörigkeit zuerst für einen Arzt gehalten hatte, nahm Temperatur und Puls auf – ich bin übrigens dauernd fieberfrei, und der Puls geht normal, wenn nicht zu langsam –, erklärte, daß er ständig zu meiner Verfügung bleibe und ging, da ich sein Anerbieten, bei mir Wache zu halten, abgelehnt hatte. Als um dreiviertel zehn Uhr Schluß gerufen wurde, kam aber plötzlich weiterer Besuch. Der Regierungsrat Badum erschien mit einem Herrn in den Fünfzigern und stellte ihn mir als Dr. Jarresdorffer aus Rain vor. Nachdem ich mich auf dessen Frage bereit erklärt hatte, mich von ihm untersuchen zu lassen, betrat auch Herr Oberregierungsrat Hoffmann meine Zelle, und nun begann ein Hin und Her von Fragen, die ich natürlich alle vollkommen aufrichtig und ausführlich beantwortete. Die körperliche Untersuchung beschränkte sich auf Pulsfühlen (72), Abklopfen und Rückenmarkprobe durch Knieschlag. Der Arzt kam zu dem merkwürdigen Resultat, daß meine Krankheit die Folge übertriebenen Kaffeegenusses sei, also einfach eine Coffeinvergiftung. Vorerst wurde abgemacht, daß ich von jetzt ab statt drei nur eine Tasse Kaffee täglich trinken und das Rauchen womöglich ganz einstellen soll. Eine lebensbedrohliche Erkrankung bestreitet der Arzt mit aller Entschiedenheit. – Aus der Unterhaltung an meinem Bett ein paar Einzelheiten. Der Arzt begann mit Versuchen, mich zur Inanspruchnahme des Dr. Steindl zu überreden. Der Vorstand berichtete dabei ganz aufgeregt über die Hartnäckigkeit und die Konsequenz, mit der ich auf meiner Weigerung beharre, erzählte dabei einen Vorfall, den mir mein Bruder vor etwa einem halben Jahre aus dem Felde berichtet hatte, wo er einem Leutnant gegenüber in einer ähnlichen Lage gewesen sei wie Dr. Steindl mir gegenüber, und daß der Standpunkt Dr. Steindls von ihm wie jetzt auch von SchollenbruchRudolf Schollenbruch, (1856–1938), Münchner Armenarzt, Volksbeauftragter für Gesundheitswesen (Freispruch vorm Standgericht), Mitglied der KPD. als prinzipiell berechtigt anerkannt werde. Ich erklärte, es müsse doch wohl ein Minimum von Vertrauen des Patienten zum Arzt da sein, was Dr. Jarresdorffer mit den Worten bestätigte: »Das ist allerdings Voraussetzung!« Als er hinzufügte, er selbst lehne es ab, jemanden zu behandeln, der ihm kein Vertrauen entgegenbringe, meinte ich: »Ich begreife Herrn Dr. Steindl nicht, daß er, obwohl er meine Weigerung kennt, darauf besteht, mich zu untersuchen.« Hier unterbrach der Vorstand: »Das führt zu weit!« – Sehr bezeichnend für alle Beteiligten war folgendes Intermezzo. Ich erwiderte dem Arzt bei seinen weitläufigen Belehrungen über mein Verhalten, er möge doch nicht vergessen, daß ich im sechsten Jahr eingesperrt bin und hier nicht ganz so leben kann wie daheim. Der Mann – eine typische Provinzfigur, die sich als Arzt dazu berufen glaubt, auf jeden Patienten erziehlich einzuwirken, stellte sich in Positur und meinte: »Ich will ja hier keine Politik treiben. Aber – jeder ist seines Glückes Schmied.« Ich mußte das Lachen verbeißen, antwortete aber: »Freilich – unter anderem auch die Herren in Landsberg.« Da fuhr der Oberregierungsrat dazwischen, ganz Würde, ganz Vorstand und Autorität: »Herr Mühsam, das kann ich nicht dulden. Das ist ein Mißbrauch der ärztlichen Konsultation.« – Ich entgegnete: »Ich hatte nicht die Absicht, auf das politische Gebiet zu kommen. Ich habe von der Haft gesprochen, um vom Herrn Doktor zu hören, ob er nicht etwa die Überführung in ein Krankenhaus für nötig hält.« – »Ja, ich weiß, darauf gehn Sie aus«, rief Herr Hoffmann, und da ich darin den versteckten Vorwurf, als treibe ich bloß Politik mit meiner Krankheit, heraushörte, nahm ich das Wort auf und sagte: »Darauf gehe ich allerdings aus. Denn ich glaube nicht, daß die Festung der geeignete Ort ist, um eine Krankheit zu heilen.« Ich fügte hinzu, daß meine darauf bezüglichen Anträge alle weiter bestehen bleiben. Wieder wurde Herr Hoffmann spitzig und fand es sonderbar, daß alle meine Wünsche bestehen bleiben sollen, während ich in der Frage des Arztes nicht im geringsten entgegenkäme. Nachdem der Arzt noch meinen Urin auf Eiweiß kontrolliert hatte – natürlich negativ –, ließen die Herren mich um halb elf Uhr allein. Doch hat, wie ich heute erfuhr, der neue Sanitäter die ganze Nacht im Aufseherzimmer unseres Stockwerkes zugebracht. – Die Behandlung der Sache, die, wie ein Brief meiner Schwägerin MinnaMinna Mühsam, Frau von Hans Mühsam, tätig in der jüdischen Sozialfürsorge in Berlin. verrät, auch schon in die Presse gedrungen ist, zeigt mir, daß man einen zweiten Fall Hagemeister tatsächlich nicht will. Und so habe ich Hoffnung, daß, falls die Freiheit für uns alle wirklich immer noch nicht kommen soll, doch wenigstens erreicht wird, daß meiner Überführung in ein Krankenhaus kein Widerstand länger entgegengebracht wird. Ich habe das Gefühl, sehr krank und bestimmt haftunfähig zu sein. Bleibt die Entscheidung darüber in den Händen des Dr. Steindl, so weiß ich gewiß, daß der Jude hierbleiben muß. (...)

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 28. Mai 1924

(...) Wie weit die Amnestiefrage schon gediehen ist, kommt besonders markant dadurch zum Ausdruck, daß plötzlich sogar die bayerischen Sozi unwiderstehliche Gerechtigkeitsbedürfnisse verspüren. Die ›Münchner Post‹ bringt eine ganz objektive und darum um so wirksamere Gegenüberstellung von Urteilen gegen die Räterepublikaner 1919 und die Hitlerianer 1924. Sinn dieser Veröffentlichung kann nur sein, wenn es auch nicht ausgesprochen wird: Schluß mit der Rache für die Räterepublik! Natürlich ist's ekelhaft und bitter genug, plötzlich die Brut, die das ganze Unheil durch ihren infamen Verrat über uns heraufbeschworen hat, uns bedauern zu sehen. Aber der Zweck ist mir klar: Man sieht, daß man in der Regierung und in der Bayerischen Volkspartei tatsächlich die Amnestie will, und jetzt möchte man nicht hintan bleiben mit sozialer Gerechtigkeit. Jetzt wird also – nach über fünf Jahren zum ersten Mal diese Walze aufgezogen, um nachher sagen zu können: Endlich ist es unseren unermüdlichen Anstrengungen gelungen, die Opfer der bayerischen Klassenjustiz aus den Krallen ihrer Schergen zu befreien! – Ja, die ›Münchner Post‹ wird unglaublich tolerant: Sogar ich darf in ihren Spalten bemitleidet werden. Die Liga für Menschenrechte veröffentlicht einen Appell an die bayerische Regierung, in dem diese ersucht wird, für die Behandlung meiner Ohren einen Facharzt zuzulassen. Unterzeichnet ist der Aufruf von einer Reihe allerklingendster Namen, darunter Professor Einstein, v. Aster, Valentin,Vermutlich Rudolf von Valentin (geb. 1885), Professor in Berlin; Bücher zur Zeitgeschichte. Hans Delbrück,Hans Delbrück (1848–1929), prominenter Militärhistoriker und Politiker. Löbe,Paul Löbe (1875–1967), SPD-Politiker, Reichstagspräsident ab 1920. Eduard Bernstein etc. und – peinlicherweise – auch Hermann MüllerHermann Müller (-Franken, 1876–1931), SPD-Politiker, Reichsaußenminister 1919, Reichskanzler 1920, danach Fraktionsvorsitz. 1928–30 erneut Reichskanzler. und Stampfer.Friedrich Stampfer (1874–1957), Publizist; ab 1902 einer der Wortführer des Revisionismus in der Sozialdemokratie. Mir sind solche Aktionen immer etwas beklemmend. Ich mag nicht vor den Kameraden voraus Extrawürste haben – ein ehemaliger Freund von mir, von egoistischem Charakter und erheblichem Fettgehalt, hielt es mir denn auch gestern vor, als ob ich's der Reklame wegen selbst arrangiert hätte. – Außerdem kommt die Geschichte, da sie nur von den Ohren spricht, reichlich nachträglich, und die Regierung hat es sehr leicht, darauf zu antworten. Die gute Wirkung kann trotzdem davon kommen, daß ein Grund mehr da ist, die allgemeine Ausmistung zu beschleunigen.

(...)

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 14. Juni 1924

Eben steige ich aus dem Bad, das ich auf Anordnung des Dr. Aumüller heute zum zweiten Mal erhielt. Ich glaube, es geht mir besser, aber ich traue dem Frieden noch nicht. In der ›Frankfurter Zeitung‹ fand ich eine Notiz ›Die Behandlung des Erich Mühsam‹, die eine von »zuständiger Seite« an die ›München-Augsburger Abendzeitung‹ gegebene Mitteilung über meine Sache wiedergibt. Da wird das Publikum dahin belehrt, daß ich infolge übermäßigen Nikotin- und Coffeingenusses an chronischer Vergiftung leide, organisch, speziell am Herzen, fehle mir nichts. Was das Gehör betrifft, so hätte ich von dem »im Herbst« von der Behörde gemachten Angebot, mir einen Spezialisten kommen zu lassen, keinen Gebrauch gemacht. Die Hörschärfe auf dem rechten Ohr sei »etwas herabgesetzt«, und im übrigen höre ich die üblichen Unterhaltungsfragen sehr gut. Ich habe sofort eine Erklärung an Pestalozza geschickt, richtiggestellt, daß ich von jener Erlaubnis deshalb keinen Gebrauch gemacht habe, weil sie an die Bedingung geknüpft war, ich dürfe nur den von der Verwaltung benannten Arzt zur Ohrenuntersuchung kommen lassen, nicht aber den mir von Schollenbruch empfohlenen, daß die Hörschärfe fast erstorben sei und ich Unterhaltungsfragen zwar gut höre, aber nur, wenn der Frager links von mir steht, und daß die Konstatierung meiner organischen Gesundheit mit den Befunden anderer ärztlicher Untersuchungen kontrastiere. Auch Pestalozza habe ich gebeten, die Strafunterbrechung bzw. die vorläufige Überführung in ein Röntgeninstitut zu beantragen und gegen Fluchtbesorgnisse ehrenwörtliche Verpflichtung, zur Verfügung zu bleiben, anzubieten. Das Gesuch auf bedingte Begnadigung zu erstrecken, habe ich ausdrücklich verboten.

(...)

Die Aussicht auf ein baldiges Ende dieser Pein hier macht allmählich die Genossen sehr nervös. Selbst in unserer kleinen Freundesgruppe mehren sich die lauten und aufgeregten Debatten, und zwar besonders jedesmal dann, wenn die täglichen Berichte der anarchistischen und unabhängigen Blätter über die Verfolgungen der Linksrevolutionäre in Rußland zur Sprache kommen. Was die echten, rechten Parteikommunisten sind, so heißt's einfach: Es ist alles nicht wahr, hinter der Verleumdung stecken kapitalistische Kreise, oder diese Anarchisten etc. sind eben von der Bourgeoisie bestochene Konterrevolutionäre. Ein grundehrlicher Mensch wie der Sandtner Gustl macht derartige Reinwaschungen ja nicht mit, ärgert sich aber furchtbar über die Protestkundgebungen und wirft den Protestlern vor, statt sich um die eigenen politischen Gefangenen zu kümmern, jammern sie nur über das, was tausend Kilometer weg passiert. Auf meinen Einwand, daß die Bemühungen um unsere Befreiung dadurch außerordentlich erschwert werden, daß die angeblichen Kommunisten in Rußland ganz das gleiche tun, was sie der westeuropäischen Reaktion vorwerfen, daß die deutschen Kommunisten dazu schweigen und daß zwischen der Brutalisierung von Revolutionären ein Unterschied ist, wenn die kapitalistische Klasse sie ausübt und wenn sie von den eigenen Klassengenossen getrieben wird, höre ich, daß ich voreingenommen, gehässig und nicht objektiv bin, und gerade vorhin gab es deswegen ein Mordsgeschrei. Aber ehe ich nicht Beweise habe, daß die Vorwürfe gegen die autoritären Moskauer Diktatoren falsch sind, werde ich sicherlich keine Einladung dorthin annehmen, es sei denn, man garantiere mir, daß ich mich persönlich von Maria SpiridonowaMaria Spiridonowa, russische Sozialrevolutionärin. über die tatsächlichen Verhältnisse informieren lassen kann. Leider glaube ich, daß die Behauptungen der Anarchisten stimmen. Man kann nur irgendeine Äußerung Bakunins über Autoritätsregierungen, provisorische Regierungen, Regierungen überhaupt nachlesen, und man wird finden, daß das Treiben der Tscheka gegen linke Revolutionäre einfach die Konsequenz dessen ist, was die Bolschewiki unternahmen, als sie die Revolution in eigene Regie überführten. Sie haben sie getötet und töten infolgedessen auch die, die noch revolutionäre Ziele weiterverfolgen möchten. Die Geschichte wird ihnen kein gutes Zeugnis erteilen, nur Lenin wird vor ihr bestehen – wenigstens der Lenin von 1917.

Niederschönenfeld, Montag, d. 7. Juli 1924

Ich bin sehr nervös. Gehen unsere Hoffnungen wieder zu Bruch, dann fürchte ich, wird es ebenso mit mir selber zu Bruch gehen. Nicht weil meine gute Meinung von der endlich doch triumphierenden Gerechtigkeit im Staat enttäuscht wäre – diese gute Meinung hat niemals bestanden –, sondern weil der Körper schlechterdings nicht mehr mittun will. Ich fühle allmählich einen Kräfteverfall, der mich sehr bedenklich stimmt, und es häufen sich die scheußlichen Alpträume, die mit irgendeinem Angst- und Verzweiflungszustand in Schreien und Luftmangel enden. Solche qualvollen Zustände hatte ich hintereinander in den beiden letzten Nächten. Gestern früh wachte ich, über Treppen gehetzt, durch mein eigenes Schreien – das ich deutlich hören kann – auf, und heute früh hatte ich die sonderbare Einbildung, ich brächte die Blätter eines – wenn ich mich nicht täusche – handschriftlich geschriebenen und mit Zahlenrechnungen gefüllten großen Buches nicht auseinander und geriet dadurch in Wut, Angst, Verzweiflung, bis ich unter den furchtbaren Anstrengungen, die zusammenklebenden Seiten voneinander zu lösen, ins Wimmern, Stöhnen, Keuchen und Schreien kam, das ich stark hörte. Ich erwachte aber durch ein Geräusch draußen auf dem Gang, und dann traten zwei Aufseher bei mir ein, um zu sehen, was mir fehle. Da ich in der letzten Zelle des Ganges wohne, habe ich so laut gebrüllt, daß die Wachthabenden es durch die geschlossene Tür an den zehn Zellen des Ganges vorbei bis zu ihrem Platz zwischen den Gittern hörten. Der Zustand danach ist gar nicht nett. Mindestens eine halbe Stunde noch keuche ich mit fliegender Brust, schwitze am ganzen Leibe und komme mir vor wie eben vor dem Ertrinken aus dem Wasser gezogen. Vielleicht tut das Massieren, das mir seit einer Woche etwa der Gustl jeden Morgen besorgt, meinem Herzen, dem es helfen soll, doch nicht gut. Wir werden es nun wieder lassen. Heute bin ich ganz zerschlagen, da ich nach der Attacke, um halb ein Uhr, absolut nicht wieder einschlafen konnte. Aber, ein Vorteil war auch wieder dabei: In den Stunden des Wachliegens bis zum Hellwerden entstand ein lyrisches Gedicht (›Predigt‹),In: ›Sammlung 1898–1928›so‹, Berlin 1928. dessen Beurteilung vorbehalten bleiben muß, bis ich Distanz dazu habe.

(...)

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 15. Juli 1924

Halb zwei Uhr. Eben – vor 20 Minuten ungefähr – hat Toller dies Haus verlassen. Er ist also 24 Stunden vor Ablauf seiner Festungshaft entlassen worden, wie wir vermuten, unter Geleit von Kriminalern, das er ja, solange er noch Festungsgefangener ist, nicht zurückweisen kann. Bei einer solchen Trennung ist natürlich das Gemüt etwas in Bewegung, und so will ich für den Augenblick nur Tatsachen aufzeichnen. Im Augenblick recken sich die Genossen am Gangfenster noch die Hälse aus, um zu sehn, wann und wie er fortgeht. Ich vermute, daß er gar nicht mehr sichtbar werden wird und daß man ihn im Wagen nach Donauwörth fahren wird, über die Donaubrücke zu unserer Linken, die wir von keinem Fenster aus sehen können. Ein seltsames Vorspiel dieser Entlassung gab es gestern abend, als Ernst Toller, an sein Versprechen erinnert, den Genossen noch einmal aus seinen Werken vorzulesen, auf dem Mittelgang anfing, ›Masse – Mensch‹Expressionistisches Revolutionsdrama, entstanden 1921 in Niederschönenfeld. Ernst Müller-Meiningen, ›Aus Bayerns schwersten Tagen‹ (1923). zu rezitieren. Seit uns der Gemeinschaftsraum gesperrt ist, haben wir ja nur noch die Korridore, um alle beieinander sitzen zu können. Toller las noch keine fünf Minuten, als Herr Oberwachtmeister Rainer erschien und verkündete, es dürfe ohne ausdrückliche Genehmigung des Vorstands kein Vortrag gehalten werden. Es wurde natürlich protestiert und dem Manne bedeutet, es handele sich um keinen Vortrag, sondern um eine Vorlesung, die stets ohne jede Genehmigung habe stattfinden dürfen. Herr Rainer erklärte: Ich verbiete! Toller fuhr indessen einfach mit der Vorlesung fort, da ein derartiges Verbot nur vom Vorstand ausgehen könne, und Millmann, der sich über diesen Eingriff, der uns alle maßlos empörte, so aufregte, daß ihm das Wort »Gemeinheit« herausplatzte, wurde sofort in Einzelhaft abgeführt. Herr Rainer verzog sich dann, und zu unserm Erstaunen konnte Toller nun ohne weitere Störung sein Drama vorlesen (er ist ein glänzender Interpret seiner Stücke, und dieses Stück ist von seinen früheren Arbeiten das weitaus stärkste). Um acht Uhr war er fertig, und gleich darauf erschien zu allgemeiner Überraschung Millmann wieder bei uns oben. Er berichtete: Nachdem er in eine Absonderungszelle gesperrt war, kam Herr Fetsch, der ihm im Auftrag des Vorstands eröffnete, er habe sich zu einer ungebührlichen Äußerung hinreißen lassen, doch solle es für diesmal bei einer Verwarnung sein Bewenden haben, da die Verwaltung wünsche, möglichst »in Harmonie« mit den Festungsgefangenen auszukommen. Zur Sache sei zu sagen, daß eine Abschiedsfeier der Genehmigung durch den Vorstand bedürfe, die sie aber nachträglich erteilt habe. Herr Rainer sei noch nicht lange wieder im Dienst bei uns, (!) und so habe er nicht gewußt, daß sich im gegenseitigen Verhältnis eine Änderung entwickelt habe. – Kurz und gut, eine Schamade, wie sie hier noch nicht erlebt ward. Von den Kommentaren, die sich an diese merkwürdige Episode schlossen, will ich schweigen, will auch heute davon absehen, auf meinen guten Ernst Toller einen Nekrolog zu schreiben. Wir sind als sehr gute intime Freunde geschieden und werden es bleiben. Ich glaube, daß dies Ergebnis wesentlich meinen Tagebüchern zuzuschreiben ist. Eine verärgerte, unfreundliche Bemerkung über Ernst T. ist dem bayerischen Landtag vorgelesen, der bayerischen Presse zur Verwendung übergeben und von Müller-Meiningen in seinem Buch ›Aus Bayerns schwersten Tagen‹Deutschland wurde im Versailler Vertrag (1919) zur Anerkennung der Alleinschuld am Ersten Weltkrieg gezwungen, worauf sich die Reparationsforderungen der Entente gründeten. Die »Kriegsschuldlüge«, ein zentrales Streitthema der Weimarer Politik, wurde einhellig bekämpft, doch neigten die Linken und die Mitte zum Kompromiß, um Deutschlands Isolierung zu verhindern, während die Rechten zum Bruch des Versailler Vertrags aufriefen. gegen uns beide benutzt worden. Diese Möglichkeit hatte ich damals schwerlich voraussehen können, fühlte mich aber schuldig und habe versucht, wiedergutzumachen. So hat uns die ungeheuerlichste Indiskretion von Behörden einander zugeführt und uns, die sie durch Denunziation privater Gelegenheitsempfindungen auseinander- und gegeneinanderbringen wollte, zu Freunden gemacht.

(...)

Niederschönenfeld, Freitag, d. 1. August 1924

Zehn Jahre »große Zeit«! Solange ich noch als eines der letzten Opfer der unmittelbaren Kriegsfolgen im bayerischen Menschenkäfig zubringen muß, ist diese reizende Epoche für mich auch im Persönlichen nicht überstanden. Am 3. August werden die Nie-wieder-Krieger ihre Kriegsverliererfarben Schwarzrotgelb schwingen, man wird die Toten des Krieges bewinseln, die ja das Opfer ihres Lebens nicht umsonst brachten. Ebert der Taktvolle regiert Deutschland, und dies Resultat hat schon 12 Millionen Menschenleben gelohnt. Natürlich wird man auch die »Kriegsschuldlüge« breitwälzen: als ob's viel drauf ankäme! Die Welt außerhalb Deutschlands interessiert sich für das weibische Geplärr der Unterlegenen ja doch nur deshalb, weil es unverkennbar zeigt, wie dies »republikanische« Land sich mit den monarchistischen Regierungshanswursten auch jetzt noch völlig identifiziert. Wie stark das der Fall ist, kommt sogar bei den Vorbereitungen zum fünfjährigen Jubiläum der Weimarer Verfassungssetzung zum Vorschein. Ein katholischer Bischof, der seinen Klerikern aufgegeben hat, den Tag von den Kanzeln herunter zu preisen, wird wie eine Fabelgestalt bestaunt, so »mutig« ist es, sich zur bestehenden Verfassung zu bekennen. In Weimar wird natürlich großes Gedenktheater sein, und nur Bayern tanzt wieder außer der Reihe. Herr Stützel,Ab Mai 1924 Kabinett Held (Bayerische Volkspartei) mit Stützel als Innenminister. Schweyers Nachfolger, hat jede Feier unter freiem Himmel verboten; man halte sich in Bayern an die Reichsverfassung, jedoch freue man sich nicht an ihr. Überhaupt ist Bayern wieder auf dem besten Wege, mit den Unbequemlichkeiten gegenüber der Berliner Regierung ein neues, aber nicht sehr verändertes System zu beobachten. Kürzlich hat der Reichstag zwar abgelehnt, den bayerischen Ausnahmezustand aufzuheben, aber beschlossen, daß die verbotenen Parteien überall wieder zugelassen werden müssen. Stützel erklärt dazu, man freue sich sehr, daß durch die Ablehnung des ersten Antrags ein Konflikt mit dem Reich vermieden sei, denn der zweite Beschluß werde sowieso in Bayern nicht ausgeführt werden, da der Reichstag dabei seine Kompetenzen überschritten habe.

(...)

Die bayerischen Zeitungen berichten über die letzte Sitzung des Verfassungsausschusses im Landtag. Da sei auch die Beschwerde der Festungsgefangenen wegen Korrespondenzbehinderung mit Reichstagsabgeordneten und -präsidium zur Sprache gekommen. Das Justizministerium ließ erklären, daß eine Anordnung nötig geworden sei, derartige Briefe aus Niederschönenfeld über das Justizministerium in München zu leiten, weil Mühsam verschiedentlich und einmal mit Erfolg (›Lenins Tod‹Gedicht ›Lenin‹ in: ›Sammlung 1898–1928‹, Berlin 1928.) versucht habe, aufreizende Gedichte bolschewistischen Inhalts über den Reichstag der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Jedoch sei jetzt trotzdem – also offensichtlich als Wirkung der Eingabe von Sauber und mir – die Anweisung zurückgezogen worden. Dieser Weg ist also wieder frei, und so hat immerhin eine Beschwerde ans Parlament auch einmal einen sichtbaren Erfolg gehabt. Um so besser.

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 11. September 1924

Es herbstelt. Nach zwei schönen Tagen kam vorgestern wieder ein Rückschlag mit Sturm und Regen, und jetzt ist's wieder erbärmlich kalt, und wir müssen die Hoffnung, in diesem Jahr doch noch mal Sonne zu sehen, begraben. Zenzl berichtet von einer fieberhaften Erkältung, die sie ans Bett bindet, und ich bin infolgedessen bedrückt und unruhig. Überdies ist sie meinetwegen andauernd in Sorge, die wohl übertrieben sein mag, im Kern natürlich aber begründet ist. Sie schreibt, sie habe mich so angegriffen aussehend gefunden wie noch nie und sei in ihrer Besorgnis noch einmal zu Dr. Sonnenschein, dem Jesuiten, gegangen, der sich ihrer so freundlich annimmt. Der Herr habe sich erboten, gegen Ende September oder Oktober selber herzufahren, um mit mir zu sprechen. Ich vermute, daß dies außerordentlich überraschende Anerbieten mit dem Interesse des Nuntius Pacelli,Eugenio Pacelli (1876–1958), katholischer Nuntius in München 1917–20 und Berlin 1920–29, später Papst Pius XII. (1939–58). das Zenzl zu erwecken verstanden hat, zusammenhängt. Bevor er Schritte in der Sache unternimmt – es handelt sich um meine Strafunterbrechung zum Zweck einer Röntgenuntersuchung und gründlichen Behandlung, außerdem, wie Zenzl andeutet, um den Versuch, die Wiederherstellung unserer Ehen in München zu veranlassen –, wird der Kardinal jedenfalls von einer persönlichen nicht interessierten, ihm nahestehenden Seite Bericht haben wollen, und so wird wohl das Anerbieten Sonnenscheins auf einen Wunsch Pacellis zurückgehen. Ich habe Zenzl geschrieben, daß ich in meiner Situation gezwungen sei, jede Hilfe, die sich mir bietet, anzunehmen, mache aber die Annahme der Gefälligkeit davon abhängig, daß die interessierten Kleriker genau erfahren, für wen sie sich einsetzen: für den Juden und Revolutionär, den Anarchisten, der sich zu keinerlei Gegenleistung verpflichtet, die im geringsten eine Bindung für zukünftiges Verhalten einschlösse. Ich habe mir den Rücken gedeckt; wenn der Priester um Christi willen die Reise tun will, so soll er mir herzlich willkommen sein. Hoffentlich aber kommt es gar nicht mehr dazu. Daß Hitler am 1. Oktober entlassen wird, steht schon völlig fest, und ich glaube fest, daß die bayerische Regierung diese Gelegenheit zu der Geste benutzen wird, zu der sie sich doch allmählich entschließen muß.

(...)

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 21. Oktober 1924

(...) Der Krieg zwischen Türken und Engländern um das Petroleumgebiet von Mossul scheint losgehen zu wollen. Die Engländer haben von Fliegern erst mal Bomben abwerfen lassen, und die Türkei mobilisiert. Der Völkerbund, der von den Türken angerufen ist, hat nämlich entschieden, daß er sich seine Entscheidung vorbehalte und die Angelegenheit noch prüfe. Inzwischen fangen aber die Parteien das Raufen an. Dafür entrüsten sich aber die Völkerbundleute heftig gegen die Moskauer Regierung, die Georgien drangsaliert. Der Schacher ist dabei derselbe wie überall – es geht auch um Petroleum –, aber man weiß noch nicht, mit welcher Kapitalistenregierung die »Sowjets« – lies die Herren Sinowjew, Bucharin, Stalin, Krassin,Leonid Krassin (1870–1926), sowjetischer Politiker, ab 1920 Volkskommissar für Außenhandel, 1924 Botschafter in Paris. Kamenew –, kurz das Dutzend Revolutionsgewinner, das sich der Welt als Diktatur des Proletariats offeriert, das Ausbeutungsgeschäft der georgischen und transkaukasischen Ölquellen abzuschließen gedenkt. Aber dies alles darf man beileibe nicht sagen, denn wer für eine Räterepublik eintritt, wie sie die nie eingeführte Leninsche Verfassung postuliert, ist in »Sowjetrußland« und bei allen seinen europäischen, speziell deutschen Parteifilialen konterrevolutionär. Schon wird ja unwidersprochen behauptet, man habe in Moskau über die großen Toten der Welt Gericht gehalten und Tolstoi, Kropotkin, Schopenhauer und wer weiß ich noch, als »kleinbürgerliche« Ideologie überführt und wegen Volksverdummung zum Einstampfen verurteilt. Die Makulatur soll zu Nachdrucken der Werke Sinowjews, Bucharins etc. verwendet werden. Lächerlichkeit gilt als todbringend. Dann muß man den marxistischen Hanswursten in Moskau wenigstens das eine lassen: daß sie von Todesfurcht frei sind. Aber das gelingt ihnen mit jedem Tag besser: ihren Stammvater Marx unrettbar zu kompromittieren und die Manen seines Durchschauers Bakunin herrlich zu rechtfertigen.

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 2. Dezember 1924

Dreiviertel sieben. Heute haben wir einen Schrieb losgelassen, der folgendermaßen lautet: »An den Herrn Festungsvorstand. Wir bitten in Erwägung zu ziehen, ob der Besuch unserer Frauen und Kinder an den Besuchstagen in der Feiertagszeit in irgendeiner Form ohne Aufsicht gestattet werden kann: Sauber, Olschewski, Mühsam, Karpf.« Ich war sehr froh, alle Namen unter einem derartigen Papier vereinigt zu sehen. Aber jetzt erklärt mir Eugen Karpf, er werde vielleicht morgen früh den Brief noch einmal aus dem Kasten erbitten, um seinen Namen zu streichen, da er mit Leuten, die ihn als Betrüger und Verräter verdächtigen, nicht gemeinsame Aktionen unternehmen mag. Ich hoffe, ihn umgestimmt zu haben und werde dann morgen Sauber ins Gebet nehmen, um möglichst doch den inneren Frieden zwischen uns paar Leuten herzustellen, gleichviel ob wir nun noch monate- oder gar jahrelang beisammenbleiben müssen oder ob wir in vierzehn Tagen frei sind. Für die letzte Eventualität – das heißt dafür, daß bis Weihnachten oder Neujahr unsere Begnadigung erfolgt, sprechen verschiedene Umstände. Wir liegen jetzt zu fünf Mann auf dem nördlichen Seitengang des ersten Stocks. Das ganze Stockwerk ist infolgedessen brachgelegt, für uns sind mindestens acht Aufseher zu bezahlen, und das Personal selbst hat sich verschiedene Male dahin geäußert, daß auch unter ihnen die Auffassung besteht, daß die Räumung der Anstalt von uns dicht bevorsteht. Gestern war Saubers Frau da. Ihr hat sogar Pestalozza, der stets das Schlimmste geweissagt hat, jetzt Hoffnung gemacht und ihr erzählt, daß unsere Verlegung in eine andere Anstalt schon beschlossen war, was ihm im Justizministerium ausdrücklich bestätigt wurde. Daß man die Absicht offenbar wieder aufgegeben hat, läßt wohl darauf schließen, daß man wirklich Schluß machen will. Geb's Gott!

(...)

Sonnabend, 20. Dez. 24

Vormittag, zehn Uhr dreißig. Frei!


 << zurück weiter >>