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Um sieben Uhr – ich war gerade dabei, einen neuen Ukas des Vorstands zu verlesen – wurde ich zum »Oberwerkführer«, Herrn Schneider, zitiert. Von dem erhielt ich einen Zettel folgenden Inhalts: »An den F. G. Herrn Mühsam. Sie haben den Befehlen auf Ablegung der Sowjetzeichen zunächst nicht Folge geleistet, vielmehr durch Anlegung von Hakenkreuzen und Anempfehlung der Anlegung von solchen Zeichen unter den anderen F. G. aufreizend zum Zwecke der Nichtbefolgung der Anordnung gewirkt. Zugleich haben Sie durch Ihr bezeichnetes Verhalten die Anordnung im Kreise der F.G. verhöhnt. – Wegen dieses die Sicherheit und Ordnung schwer gefährdenden Verhaltens werden Sie bis auf weiteres abgesondert unter gleichzeitigem Rauch-, Besuch- und Schreibverbot. – Zugleich wird Ihnen bis auf weiteres das Lesen von Zeitungen und die Benützung der Kantine verboten.
Festungshaftanstalt, Schröder, Oberregierungsrat.« So leben wir. Ich hocke nun also im Erdgeschoß in einer kahlen Gefängniszelle und darf für einige Wochen über die Schönheit der Welt nachdenken, ohne zu erfahren, was draußen vorgeht, ohne mir die Zeit durch Rauchen zu vertreiben (zu welchem Verzicht ich noch nicht recht fest entschlossen bin) und ohne an Zenzl oder sonstwen Briefe schreiben zu können. Vielleicht hat auch das sein Gutes. Mein Roman ›Ein Mann des Volkes‹Satirischer Roman (unvollendet) über einen Karriere-Sozialisten, entstanden zwischen 1921 und 1923, abgedruckt in: ›Streitschriften/Literarischer Nachlaß‹, Berlin 1984. ist nachgerade so lange im Gehirn gewälzt und erwogen worden, daß es mir nicht drauf ankommt, bald ans Werk zu gehen. Ferner spare ich viel Geld an Briefporto, und endlich kann ich mich doch mal konzentrieren, wozu mir der lärmende Geselligkeitsbetrieb der letzten Zeit wenig Ruhe gab. Aber die Sache selbst gibt sehr zu denken. Der militärische ÜberfallWegen verbotswidrigen Tragens eines Sowjetsterns wurden Mühsam und andere Häftlinge unter Waffengewalt in Einzelhaft abgeführt. gestern kam aus heiler Haut. Fühlt sich die Reaktion so sicher im Sattel, daß sie sich traut, jetzt unter blanker Verspottung ihrer eigenen Gesetze alles gegen uns wagen zu dürfen? Die Maßnahme gegen mich ist eine unglaubliche Sache. Es ist mir gar nicht eingefallen, irgendwen »aufreizend zum Zweck der Nichtbefolgung der Anordnung« ermutigt zu haben. Ich habe mir – und das war eine Privatangelegenheit – das Sowjetzeichen über ein papierenes Hakenkreuz gesteckt, womit die staatsgefährdende Wirkung des Sterns ja wohl kompensiert war.
(...)
Kurz vor neun Uhr abends. Will sehen, wie weit ich komme. – Auf dem Hof schmiß mir heut mittag GruberMichael Gruber (geb. 1895), zu drei Jahren und sechs Monaten Festungshaft verurteilt. einen Wisch aus dem Fenster zu: »Es ist mir mitgeteilt worden, daß Sie mir 50 M. überweisen wollen. Es ist mir unerklärlich, wie Sie wagen können, mir Geld anzubieten, von dem ich nicht erfahre woher es kommt. Die Revolution für die ich gekämpft habe, kennt keine philantropischen Allüren und keine Wohltätigkeitsgesten (sic!), sondern die Revolution kämpft um die Solidaritätsprinzipien der kommunistischen Gesellschaft. Behalten Sie Ihren Schmutz oder wählen Sie ein anderes Opfer zur Korruption, mir genügen meine Erfahrungen, um mit offenem Wisier gegen Sie zu kämpfen. Michael Gruber.« Ich habe dem Mann nie was zuleid getan und sehe, daß die Westriche und Genossen meine Absonderung benutzen, um harmlose Esel wie diesen Gruber gegen mich scharf zu machen. WiedenmannSigmund Wiedenmann (geb. 1885), zu zwei Jahren und sechs Monaten Festungshaft verurteilt. hat es mit seinem Schrieb glücklich erreicht, daß auch die Auszahlung an die Kantine verweigert wird, so daß also ganz ungewiß geworden ist, was aus dem Geld werden soll, und Vollmanns Verleumdung, ich wolle mir Anhänger kaufen, wird von charaktervollen »Genossen« fröhlich aufgegriffen. Es ist mir schlechterdings rätselhaft, weshalb ich mir diesen abgründigen Haß zugezogen habe.
(...) Mir graut bei dem Gedanken, daß gute Menschen wieder werden helfen wollen und mir dabei ihr Vertrauen schenken könnten.
(...)
Das neue Dilemma ist schon da. Ein Genosse Gottschalk aus Brooklyn, der meinen Brief an Genossen Steiner in New York gelesen hat, schreibt mir einen prächtigen Brief. Er hat gesammelt und schickt jetzt über 2000 Mark an mich.Es handelte sich um eine der Spenden anarchistischer Gruppen, die Mühsam auf Anweisung der Verwaltung an alle Häftlinge verteilen mußte, auch an solche, die ihn als Anarchisten bekämpften. Da er ausdrücklich Verteilung unter die Genossen in Niederschönenfeld bedingt, obwohl er mich »ausdrücklich mit der Vollmacht betraut, darüber zu verfügen und festzustellen, wo es am meisten nottut«, und obwohl er es für »gleichgesinnte Genossen« bestimmt, wird mir nichts anderes übrig bleiben, als die Verräter Westrich etc. und die Spitzel wie GötzKarl Götz (geb. 1893), in der 2. Räterepublik Mitglied einer Geheimkommission zur Bekämpfung der Konterrevolution, verurteilt zu einem Jahr und drei Monaten Festungshaft. zu gleichen Teilen partizipieren zu lassen.
(...) – Mein Seppl,Joseph Wittmann (1899–1927), zu zwei Jahren und sechs Monaten Festungshaft verurteilt; zeitweilig einziger Vertrauter Mühsams in Niederschönenfeld. der arme Kerl, hat den 16. Januar, den Tag seiner ihm vom Gericht bewilligten Entlassung, nicht nur weiterhin auf Festung, sondern sogar in Einzelhaft zubringen müssen. In der Nacht zu dem Tage, auf den er sich so lange gefreut hatte, erlitt er einen schweren Anfall, einer dieser sonderbaren hysterisch-epileptischen Zufälle, wie sie erst seit dem Kriege, dem »Stahlbad des Volkes«, in die Pathologie eingegangen sind: mit tobsuchtartigen Erscheinungen bei völliger Bewußtlosigkeit. Dosch litt daran, Markus Reichert, Vogel hier und auch unser Wittmann-Seppl, alles Leute, die verschüttet waren. Sie haben nach dem Erwachen keine Ahnung, was los war, und Seppl erzählte mir, er habe bloß dumm geträumt, und nachher, als er aufwachte, hätten plötzlich die Aufseher um ihn herum gestanden. Er will's nicht zugeben, daß ihn die Verlängerung der Strafe aufregt, aber ich buche diesen Anfall, der natürlich furchtbar Kraft verzehrt, den Herren Schröder,Friedrich Schröder, Vorstand der Festungshaftanstalt Niederschönenfeld. MenzelMenzel, Oberstaatsanwalt in Augsburg. und KühleweinKühlewein, bayerischer Justizminister. aufs Schuldkonto.
(...) – Im Reichstag hat man über den andauernd verschärften, mit der Reichsverfassung unvereinbaren Ausnahmezustand in Baiern diskutiert. Die Reichsregierung ist natürlich zu feige, sich mit KahrGustav Ritter von Kahr (1862–1934), rechter bayerischer Ministerpräsident 1920/21; setzte unter Berufung auf bayerische Reservatrechte eine reaktionäre Landespolitik gegen die Reichsregierung durch. einzulassen. Der demokratische Innenminister KochErich Koch(-Weser, 1875-1944), Politiker, 1919 Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei, Reichsinnenminister 1919-21. hat unter vielen Verbeugungen nach München hin einiges nicht unbedenklich gefunden und in Aussicht gestellt, nichts dagegen zu tun. Otto Runge aber, Liebknechts Mörder, hat ein umfassendes Geständnis seiner scheußlichen Tat veröffentlicht, das die Offiziere des Edenhotels, die Herren Pabst, Vogel und Konsorten und zugleich den Kriegsgerichtsrat, der die Verhandlung gegen ihn geleitet hat, schwer belastet und als Anstifter und Begünstiger des Mordes bloßstellte. Es wird ihnen nichts geschehen,Die Mörder Karl Liebknechts wurden vom Gericht gedeckt und gingen straffrei aus. aber sie werden versuchen, Runge um die Ecke bringen zu lassen, was ja auch keine strafbare Handlung im Urteil der gegenwärtigen deutschen Justiz wäre. Auch die Flensburger MörderErmordung eines kommunist. Untersuchungsgefangenen im Dezember 1920; die Mörder wurden strafversetzt. befinden sich bereits außer Verfolgung. Dagegen hat die »sozialistische« Regierung in Sachsen die Amnestierung von HoelzMax Hoelz (1889-1933), Führer einer proletarischen Kampfgruppe; spektakuläre militärische Aktionen während der nachrevolutionären Unruhen. 1920 aus der KPD ausgeschlossen, 1921 als Anführer des Mitteldeutschen Aufstands zum Tode verurteilt. 1928 amnestiert, kam in der Sowjetunion ums Leben. Mühsam verehrte Hoelz als beispielhaften Revolutionär (›Max-Hoelz-Lied‹) und veröffentlichte 1926 die Verteidigungsschrift ›Gerechtigkeit für Max Hoelz!‹. abgelehnt. Gott sei Dank haben sie ihn nicht. Und die Leute bilden sich ein, diesen stinkenden Saustall als dauerndes Heim deutschen Rechts und deutscher Sitte konservieren zu können. Im eigenen Dreck werden sie eines Tages ersticken. Mag dieser Tag nicht fern sein! Wer noch Mensch ist in Deutschland, lechzt nach ihm.
Der dritte Sonntag in diesem Käfig.
(...) Die Revolutionsbewegung in Deutschland sieht trübe aus. Die VKPVereinigte Kommunistische Partei. Bezeichnung für die KPD nach der Vereinigung mit dem linken Flügel der USPD im Dezember 1921. Die Vereinigung bestärkte den Kurs auf die politische Konsolidierung und die Abkehr von revolutionären Aktionen. beweist ihre Existenzberechtigung durch bloße Schaumschlägerei. Da die Russen nur sie – und allenfalls die zu Kreuze kriechende KAPKommunistische Arbeiterpartei Deutschlands, linke Abspaltung der KPD, die anfänglich den Beitritt zur Komintern erwog, ab 1921 als sektiererisch verurteilt wurde. Nach 1922 bedeutungslos. anerkennt, das heißt unterstützt, ist der Kampf allen nicht opportunistischen, entschiedenen Revolutionären ungeheuer erschwert. Lenin übersieht die Dinge nicht richtig. Kennte er den deutschen Volkscharakter, wüßte er, wie autoritätsgläubig der Deutsche ist – er nützte die Autorität, die zur Zeit gerade er genießt, besser aus. Ich sehe es hier im Hause wieder: Da die 3. Internationale die KAP als sympathisierende Partei zugelassen hat, verkehrt man mit deren Mitgliedern. Sie kleben ja wenigstens überhaupt Wapperln. Mich hingegen verachtet man aus dem Grunde, und das Lustige ist, daß die ach so rebellischen KAP-Leute – Gruber ist von ihnen angeworben – mit den echt Gestempelten völlig im Takt marschieren. Der große Bann in Ansbach gegen mich hatte denselben Grund wie hier die große Hetze. Gott sei Dank ist die Revolution nicht von den »Revolutionären« abhängig, die sie für ihr Monopol halten. Aber die Widerstände gegen jede revolutionäre Elementarität verstärken diese legitimen Erben der alten Sozialdemokratie ungemein. Bei aller ehrfürchtigen Liebe zu den Bolschewiki wegen ihrer eigenen Revolution – ihre Politik zur Ausbreitung der Revolution ins Weltmaß ist abscheulich dumm, da sie von dem Wahn befangen ist, die Masse müsse sich zu Programmen bekennen, und deshalb der Masse mit opportunistischen Konzessionen entgegenkommt und – genau wie die früheren marxistischen Päpste – alles ausschließt, was von links her dagegen opponiert. – Gottlob macht die Unionisten-BewegungDie anarchosyndikalistische Gewerkschaft FAUD, die 1921 nach der Spaltung der mit der KAPD verbundenen AAU großen Zulauf hatte, bald aber in rivalisierende Fraktionen zerfiel und bedeutungslos wurde. bei uns trotz alledem gute Fortschritte, und was mich vor allem freut und beruhigt, ist, daß die revolutionären Arbeiter auch die AAU gespalten haben, da sie Konzessionen an die Moskauer Internationale beschloß. Die Gründung der Sozialistischen Industrie-Arbeiter-Union war die gegebene Antwort auf die Beschlüsse der Leipziger AAU-Reichskonferenz. Die vorübergehende Schwächung der B. O.-BewegungBetriebsorganisationen: kommunistische Betriebszellen seit 1919, die die Arbeiterschaft dem Einfluß der (sozialdemokratischen) Gewerkschaften entziehen sollten. 1920 Massenabwanderung der B. O.-Mitglieder in die unionistischen und syndikalistischen Gewerkschaften. Ab 1924 etwa setzte sich die Leninsche Politik der »Eroberung der reformistischen Gewerkschaften« durch. macht nichts. Abspaltungen nach links beweisen immer, daß der gute revolutionäre Geist lebendig ist, und alle Erfahrung beweist, daß aktiv gewordene Revolutionen nur die links stehenden Sammelbecken füllen – und die bewährtesten und besten unserer Kämpfer, die Genossen von Braunschweig, Ostsachsen, Düsseldorf und wichtige Ruhrbezirke haben sich schon auf diesem äußersten Flügel zusammengefunden. Ich wünschte, die Syndikalisten fänden bei Wahrung ihrer Eigenheit nahen Anschluß bei diesem Vortrupp. Sie wären geeignet, endlich mal der Marxomanie im deutschen Proletariat entgegenzuwirken, ihm den wissenschaftlichen Spleen zu nehmen und ihm den Glauben an Willen und Tat beizubringen. Nachher wird die »Taktik« schon von selber kommen. Wie wunderbar groß wären Lenin und seine Freunde, wenn sie keine Schulmeister sein wollten!
(...) Seit ich von der Einzelhaft wieder oben bin, ist es unter uns fünf so fad geworden, daß ich mich oft zu Paul Förster hinüberdrücke. Mein ganzer Trost ist der Seppl. Ich habe den Jungen so lieb wie einen Bruder oder Sohn. Die Stunden nach Gitterschluß am Abend, wo ich jeden Abend noch mit ihm bis Mitternacht auf dem Gang spazieren laufe, erhellen mir das Leben, das ich dem guten, reinen, jungen Menschen zum zweiten Mal scheine danken zu sollen. Vor zwei Jahren befreite er mein körperliches aus den Fängen der Dürr,Oskar Dürr (1877-1959), von November 1918 bis 13. April 1919 sozialdemokratischer Stadtkommandant von München. SeyffertitzAlfred Seyffertitz, Führer der Republikanischen Schutztruppe; verhaftete Mühsam und andere Führer der Rätebewegung im Auftrag Eisners am 10. Januar 1919, um Proteste gegen die anberaumte Landtagswahl zu unterbinden. und Gelichter. Jetzt gibt er dem Herzen Sonne und Freude. Gebe Gott, daß ich es ihm einmal vergelten kann!
(...) Inzwischen spukt mir ein Gedanke im Kopf herum, mit dem ich glaube, den Stein der Weisen gefunden zu haben, der wieder mal identisch ist mit dem Ei des Kolumbus. Nämlich: Alle Internationalen haben sich bisher ihre Aufgaben falsch gestellt. Die politischen Zusammenschlüsse der proletarischen Revolutionsorganisationen sind nur nebenbei wichtig. Worauf es ankommt, ist mit einer wirtschaftlichen internationalen Verbindung dem Problem des Kommunismus direkt auf den Leib zu rücken. Es wäre notwendig, eine Internationale von Betriebsorganisationen zu gründen, die sofort im größten Maßstab den wirtschaftlichen Mobilisationsplan für alle Länder zu entwerfen hätte, nämlich bis ins Einzelste hinein die Feststellung, wo Rohstoffe lagern, wo sie überflüssig sind, wo benötigt werden, welche Arbeitskräfte zur Verfügung stehen durch Nicht- oder Falschbeschäftigung, wie der Austausch zwischen revolutionären Ländern zu regeln ist, wie die Produktion dem Bedarf angepaßt werden kann, was und wie sofort zu sozialisieren ist. Jeder Betrieb hätte Listen aufzustellen über Materiallieferungen und Absatz, der gesamte Verkehr wäre auf eine praktische Umstellung hin zu untersuchen, kurzum, der Aufbau müßte bis in die Dörfer hinein in allen Ländern vorbereitet werden, damit im Augenblick der politischen Revolution die konstruktive Arbeit sofort planmäßig von den Betriebs- und Bauernräten aus aufgenommen werden kann. Daran sind alle diese großen sozialen Bewegungen gescheitert, daß man das Wichtigste der augenblicklichen Eingebung überließ, während die Bourgeoisie beispielsweise den Krieg bis in die kleinsten Details vorbereitet hatte, so daß jeder Soldat am ersten Mobilisationstage wußte, wohin er sich zu begeben habe, jeder Kaufmann wußte, was er in der ersten Stunden und an wen liefern mußte, jeder seine Aufgabe bis ins Gleichgültigste hinein vorgezeichnet fand. Stützt sich meine kommunistische Tat-Internationale, die eine Räte-Internationale sein muß, ganz auf die schaffenden Kräfte selbst, so leistet sie die denkbar beste revolutionäre Erziehungsarbeit und verhindert von selbst die Etablierung einer Partei- oder Personen-Oligarchie. Es ist ja dumm und mir selbst kaum verständlich, daß ich erst jetzt auf die Idee verfalle, und es ist sehr möglich, daß die Revolution alle Vorbereitungsarbeiten überholt und uns wieder vor die Notwendigkeit stellt, Stegreifarbeit zu machen; aber ich finde, deswegen muß man doch versuchen, die statistischen und registratorischen Vorarbeiten zu machen, und so praktisch Revolution zu treiben, auch ehe die Revolution da ist. – Wie immer, wenn ich eine Idee versuchen will, trug ich auch diese zuerst meinem Seppl vor, der ernst zuhörte. Dann sagte er nach seiner Gewohnheit einfach: »Stimmt« – und da war ich zufrieden und sprach mit dem Benz (Wolf) darüber, der, als er die Sache verstanden hatte, die Größe der Idee sofort begriff, aber sehr viele Schwierigkeiten voraussah, an denen ein solcher Plan scheitern könnte. Ich sagte ihm, daß ich das wisse, daß Millionen Detailbedenken erwogen und Millionen Differenzen in Einzelfragen entstehen werden, aber ich setzte alledem mein eigenes Wort entgegen: Die Gegenwart hat an die Zukunft keine Fragen zu stellen, sondern Forderungen. – Sollte mein Gefühl sich bewähren und die Freiheit ist eines Tages da, dann fange ich, solange nicht unmittelbarer Revolutionsdienst zu leisten ist, mit der Propaganda dieser Idee an, zu der ich Syndikalisten und linke, parteifeindliche Unionisten zu gewinnen hoffe. Zu neuen Ufern –
Der Erfolg in MannheimUraufführung ›Judas‹. war nach den brieflichen Berichten, die ich bis jetzt habe, tatsächlich sehr stark. Die Mitwirkenden und das Arbeiterpublikum waren so bei der Sache, daß die armen Teufel, die die Soldaten spielten, wirklich verhauen wurden. Die Begeisterung soll mächtig gewesen sein. Ich warte aber noch die Presse ab, ehe ich mich irgendwelchen Siegergefühlen hingebe. Es wäre schön, wenn sich Zenzls Meinung erfüllen würde, daß das Stück über viele Bühnen gehen müsse. Sie könnte eine kleine Kassenauffüllung gut brauchen. – Wie die Entwaffnungsdebatte im ReichstagDie Regierung Kahr widersetzte sich im Frühjahr 1921 der Forderung der Reichsregierung, die bewaffneten Einwohnerwehren in Bayern aufzulösen. Der Konflikt führte zum Rücktritt Kahrs. ausgegangen ist, wissen wir noch nicht. Höchst albern ist jedenfalls in der Behandlung der Londoner Forderungen und SanktionenAuf der Londoner Konferenz der Siegermächte im März 1921 lehnte Deutschland die geforderten Reparationszahlungen von 226 Mrd. Goldmark ab. Die Entente antwortete mit der Besetzung von Teilen des Ruhrgebiets. die Haltung der Kommunisten. Die Deutschnationalen treiben die gleiche Illusionspolitik wie während des ganzen Krieges, lassen sich von Phrasen und Studentenkundgebungen benebeln, machen aber mit ihrer halsstarrigen Vabanquepolitik immer noch eine weit bessere Figur als etwa die Sozialdemokraten. Die Unabhängigen machen reine pazifistische Politik, immerhin ein Standpunkt, wenn auch nicht meiner. Die Kommunisten dagegen proponieren den Bourgeois im Reichstag in Anträgen ein Schutz- und Trutzbündnis mit Sowjetrußland, weil sie anscheinend sonst überhaupt nichts wissen, stimmen aber im übrigen mit der USP, also für die Innehaltung der Verträge von Versailles und die Forderungen von Paris. Alles Drumrum ist leeres Gerede. Statt jetzt, auf die Gefahr hin, mit den Nationalisten in einen Topf geworfen zu werden – das fürchten sie wie die Pest – klare Katastrophenpolitik zu treiben, alles zu unterzeichnen, was die Konflikte zwischen den Kapitalisten der verschiedenen Länder fördern muß! Bedenkt man, wie sie seinerzeit die USP beschimpft haben, weil sie für den Versailler Vertrag eintrat, und sieht, wie sie jetzt genau dasselbe machen, dann kann einem angst und bange werden. Aber die Beteiligung am Parlamentarismus mußte ja zur Aufgabe jeder prinzipiellen Revolutionspolitik führen. Bayern bleibt – Gott sei Dank – »fest«: offene Fronde gegen die Reichsparolen. Unsere Knebler sind unsere Befreier. Sie werden notwendig die schwersten Repressalien der Entente heraufbeschwören, das Elend wird dadurch grenzenlos werden, und die Revolution wird mächtig gefördert werden. – Im Hause wenig Neues. Ibel wurde, weil er Vollmann bei der Unterredung jedenfalls gründlich die Wahrheit sagte, gleich unten behalten, hat außerdem acht Tage Hofentzug. – Einem Gerücht zufolge soll gegen uns Radikale ein neuer großer Schlag geplant sein. Man will von Attentatsabsichten gegen die Anstalt wissen und will angeblich mit dem Sprengstoffgesetz gegen uns ausrücken. Es ist den Leuten kein Geschwätz zu blödsinnig. Wahrscheinlich soll wieder wie im letzten Jahr »Material« geliefert werden für die Notwendigkeit der Sipo und Einwohnerwehr. An der ganzen Geschichte ist nicht das geringste dran, aber ekelhaft ist, daß offenbar im Hause selbst derartige Albernheiten im Umlauf sind und das Ganze auf Denunziationen von »Genossen« zurückgeht (falls überhaupt was dran ist). Diese Leute sind durch Entgegenkommen jetzt so weit gebracht, daß sie uns andere glatt ans Messer liefern würden. Zu Ostern dürfen sie ihre Frauen ohne Aufsicht in den unbewohnten Zellen des ersten Stockwerks empfangen, während wir ihnen nicht mal schreiben dürfen. Aber man lernt seine Leute kennen, das ist auch was wert, wenn auch nicht viel.
(...) Übrigens schreibt mir Zenzl, daß die Sowjetregierung durch einen Dresdner Verlag meinen ›Kain‹ – das ganze Werk – angefordert hat. Man scheint sich also doch noch für mich zu interessieren in Moskau, und vielleicht wird es wirklich einmal Tatsache, daß ich mit Zenzl im plombierten Waggon aus Deutschland nach dem Osten davonrolle.Anspielung auf Lenins Durchreise durch Deutschland im plombierten Waggon aus dem Schweizer Exil nach Rußland 1917. Die deutschen Militärbehörden hatten die Durchfahrt genehmigt, um Rußlands Destabilisierung zu befördern. Es folgte die Oktoberrevolution. Mir sollte es recht sein, und die Revolution hätte gewiß keinen Schaden davon.
Die Revolution wächst, allen beschönigenden Meldungen des W. T.Wolffs Telegraphen-Büro, deutsche Nachrichtenagentur. zum Hohn. Zwar sind wichtige Positionen gefallen, aber täglich entstehen neue Herde, und der Streik greift um sich, der zum mindesten den wirtschaftlichen Zusammenbruch beschleunigen muß. Die Führung scheint von der KAP übernommen zu sein, die wirksame Apostrophen ins Proletariat schickt, während die VKP mit marxistischen Phrasen, Deutungen, Erklärungen, Erläuterungen arbeitet und wieder mal nicht begreift, daß es hier nicht um historisch-philosophische Deduktionen geht, sondern um Aufruhr, der zündende Parolen braucht. Die Reaktion arbeitet wieder mit dem bewährten Mittel des systematischen Meuchelmords in der gesetzlichen Bemäntelung des Fluchtversuchs. So wurden drei Arbeiter, die die Gefangenen im Leunawerk zu befreien suchten, »auf der Flucht« erschossen, und nun ist ein weiteres Opfer nach dieser Methode gefallen, das aber wahrscheinlich das Eingreifen des Berliner Proletariats zur Folge haben wird.
(...) Die Weltrevolution ist mitten im Werden, und in Deutschland erleben wir zur Zeit den entscheidenden Moment, sie akut zu machen.Der Mitteldeutsche Aufstand im März 1921 unter Führung von Max Hoelz schürte neue Hoffnungen auf eine proletarische Revolution. Bevor er auf andere Teile Deutschlands übergreifen konnte, wurde er mit großem militärischen Aufgebot niedergeschlagen. So erfüllt das Geschehen draußen mein Herz mit stärksten Hoffnungen. Die damit verbundenen Befürchtungen betreffen nicht den Ausgang, nur die schrecklichen Episoden, bei denen viel kostbares Proletarierblut fließen wird.
Leider geben die Ereignisse draußen weiterhin wenig Anlaß, unmittelbare Folgen von ihnen zu erwarten. Der Generalstreik wird, wo er überhaupt ausgebrochen war, von VKP und KAP wieder abgebremst. Doch gehen die Bandenkämpfe weiter. Auf Hoelz' Kopf sind jetzt 100000 Mark ausgesetzt. Man behauptet, er habe das SiegessäulenattentatVergleiche Eintragung vom 22. Juni 1921. und alle übrigen Dynamitaktionen arrangiert und die gesamte mitteldeutsche Bewegung organisiert. Was für ein herrlicher Kerl! Der erste und einzige, der bisher die Notwendigkeiten einer deutschen Revolution voll begriffen hat. Mit Einschüchterung und Terror arbeitet die Bourgeoisie, mit Einschüchterung und Terror muß gegen sie gearbeitet werden. Individualakte und Bandenkrieg, verbunden mit wirtschaftlichen Kämpfen – das sind die für Deutschland jetzt einzig möglichen und notwendigen revolutionären Mittel. Kein Bürger darf seines Lebens und seines Eigentums sicher sein, so kann allein die moralische Widerstandskraft der Kapitalisten gebrochen werden. Hoelz hat das verstanden und hat sich als der Mann erwiesen, der seine Einsicht in praktische Tat umzusetzen weiß. Großartig ist seine Ubiquität: Immer im rechten Augenblick spurlos verschwinden, immer im rechten Augenblick am rechten Ort wieder auftauchen; großartig seine umsichtige Entschlossenheit in der Durchführung seiner Pläne, großartig seine Dreistigkeit – so hat er ganz kalt Zeitungsreporter zu einer Aktion eingeladen, die er zusehen ließ, wie er als Befehlshaber und Eroberer arbeitet, um sie dann wieder wegzuschicken, wenn er nicht mehr wünscht, daß man seinen Aufenthalt kennt. Vollständig richtig beurteilt er die Psyche des Proletariats – er soll selbst Tagelöhner gewesen sein –, wenn er allen seinen Handlungen den romantischen Nimbus wahrt, der nun einmal dazugehört. Ich habe gestern ein Hoelz-Lied›Max-Hoelz-Marsch‹ in: ›Revolution. Kampf-, Marsch- und Spottlieder‹, Berlin 1925. auf die Melodie ›Es blasen die Trompeten‹ geschrieben; ich wollte, er kriegte es noch selbst in die Hand, und seine eigene Garde sänge es bei ihren Zügen. Ich bin glücklich, daß so ein Mensch, eine proletarische Napoleonnatur, aus der deutschen Revolution erstehen konnte. Das gibt Hoffnung für das Volk und seine Sache.
(...)
Zwei Jahre in Gefangenschaft. Seit vollen zwei Jahren kein weiches Bett mehr unter dem Buckel und keine der Bequemlichkeiten, die ich liebe. Seit zwei Jahren die Ehe zerrissen, das Leben versaut. Kein Schritt ohne Aufpasser, kein Brief, der nicht von Unberufenen, von Feinden gelesen wird. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, und wenn's nach dem Willen der Bürger geht, sollen ihnen noch dreizehn weitere solcher Freudenjahre folgen. Sie täuschen sich aber. Das dritte Jahr wird nicht mehr rund werden. Die Kahr-Regierung wird fortmüssen, ehe sie alle Schurkereien vollendet hat, die sie noch beabsichtigt. In München wird verhaftet, daß alles aufhört. Die Polizei (Pöhner)Ernst Pöhner (1870–1925), Polizeipräsident in München. veröffentlicht Schreckensberichte über Dynamitpläne, denen die Spitzelarbeit an der Stirn abzulesen ist. Ich kann mir nicht denken, daß die Kommunisten wirklich große Mengen Pikrin gehabt haben sollten zu dem Zweck, die bairischen Truppentransporte nach Mitteldeutschland durch Sprengung von Eisenbahnbrücken zu verhindern, und dann nachträglich mit all den Plänen reinzufallen, nachdem sie die Zeit, sie auszuführen, verschlafen hatten. Oder ist's doch so? Die VKP hat in der ganzen Sache eine recht peinliche Rolle gespielt, die des Provokateurs, der um alles in der Welt keine Wirkung seiner Provokationen erleben will.
(...)
Meine drei Freunde (Seppl, AdolfAdolf Schmidt (geb. 1886), drei Jahre Festungshaft. und ClemensClemens Schreiber (geb. 1884), Korbmacher.) befinden sich bei einer Sitzung der VKP-Mitglieder und werden wohl das Gelüst der Schwab, Sauber, Wiedenmann etc., hier eine Parteidiktatur über alle Genossen zu verkörpern, kaputtmachen. WaltersFritz Walter (geb. 1899), drei Jahre Festungshaft. Solidaritätsbruch und die Verhängung des Boykotts gegen ihn durch die Kommission, die wir nicht anerkannt haben, hat Konflikte lebendig gemacht, die endlich zum Ausbruch gebracht oder beigelegt werden müssen. Sie nennen es ja »Diktatur des Proletariats«, wenn sich ein Klüngel zusammensetzt und Dekrete erläßt. Außer dem Seppl wüßte ich im ganzen Haus keinen, der meine Auffassung von proletarischer Diktatur, der Diktatur der Klasse über die andere, sie jetzt ausübende, begreift. Darüber hinaus gibt es nur noch die Diktatur der Revolution selbst, nämlich den Terror der Aktiven über die Passiven als Mittel gegen die Sabotage proletarischer Saboteure, aber keine Zentralgewalt. Daß man gar hier unter uns Gefangenen eine Despotie einiger lächerlicher Oligarchen einführen will, zeigt die ganze Absurdität jeglicher Parteipolitik.
(...) Eben war Karpf bei mir und erzählte einiges von der Parteiversammlung. Es handelt sich eigentlich um eine Offensive gegen mich. Man möchte mich gern isolieren, da ich mich dem Klüngelzwang nicht füge. Aber das wird nicht gelingen. Außer meinen drei Nächsten steht darin auch Karpf zu mir, und auch Hagemeister wird schwerlich zu einer gegen mich gerichteten Attacke zu haben sein, obwohl gerade er mit Wiedenmann Vertrauensmann der VKP ist. Gespannt bin ich, wie Kain sich verhält. Er ist ein kluger, durchtriebener Redner, der gewiß die Parteiinteressen übertrieben hoch stellt, aber alle Chancen abzuwägen weiß und zu mir persönlich in guter Beziehung wird bleiben wollen. – Amüsant wird es werden, wenn eines Tages die Sowjetregierung mich anfordert. Dann werden die Splitterrichter hier Augen machen. Ich selbst bin nach den scheußlichen letzten Wochen in Ansbach recht gleichgiltig geworden. Ich tue, was mir im Interesse der großen revolutionären Sache recht scheint und überlasse das Urteil über mein Verhalten dem Verlauf der Dinge.
, Dienstag, d. 17. Mai 1921
Krach. Die »Einheitsfront« im zweiten Stock ist durchbrochen. Schon gestern beim großen Aufwaschen unter den Parteikretins muß es anmutig hergegangen sein. Tatsächlich hat die Bande all den alten Dreck, der von Westrich und dem Ansbacher Geschmeiß herrührt, wieder hergebracht und mir Unterschlagung, Diebstahl und Gott weiß was vorgeschmissen – natürlich in meiner Abwesenheit. Sauber soll das Maul am weitesten aufgerissen haben. Dieser Hampelmann von Schneppenhorst und Dürr hat's notwendig.
(...) Man vertritt hier ja das reizvolle Prinzip, gegen »politische Gegner« ist jedes Mittel recht. Komisch ist nur, daß bei diesen Leuten immer nur der Revolutionär als politischer Gegner betrachtet wird, der ihnen Mangel an revolutionärer Tatkraft vorwirft. »Klassenkämpfer!«
(...) Augenblicklich ist Fortsetzung der Parteiwäsche. Meine drei Freunde haben unter Protest die Sitzung verlassen, so weiß ich schon, was vorging. Wiedenmann hat erklärt, in seinen Augen sei ich ein Dieb, was ihn bis jetzt nicht gehindert hat, unermeßlich freundlich mit mir zu reden. Dann hat Kain dem Seppl vorgeworfen, er habe gestern mit Walter geredet. Er mache also den Spitzel für Walter, und demnach sei zu erwarten, er werde ihn auch beim Staatsanwalt machen. Ich hörte den guten Jungen rufen: »Leckts mich allesamt am Arsch da herinnen!« Dann ging er hinaus, gefolgt von Adolf Schmidt und Schreiber. Als »Herr Wittmann« wurde er betitelt – und nun werden wir also wohl den Boykott gegen die »Mühsam-Gruppe« haben. Gespannt bin ich, wie Ringelmann und WeigandJosef Weigand (geb. 1900), drei Jahre Festungshaft. und auch wie Karpf sich verhalten werden. Bei Olschewski ist wohl kein Zweifel mehr; der springt jetzt auf jede Parole: Parteipostenpolitik wie bei den meisten. Sie glauben, von Partei wegen terrorisieren zu dürfen, wie sie mögen. Da sie an mich mit ihrer »Parteidisziplin« nicht herankommen, machen sie mich persönlich zum Lumpen. – Meine Vergangenheit schützt mich also vor nichts, und der Gedanke, daß ich um des Kommunismus und der Revolution willen schon verfolgt wurde, als sie das Wort noch nicht einmal lallen konnten, stört sie nicht. Seppl aber belangen sie (weil er mein Freund ist) wegen Boykottbruchs, obwohl ausdrücklich auf Boykott verzichtet wurde. Unangenehm wird es ihnen sein, daß Schmidt bei uns ist, ihr Landtagsabgeordneter, ein »Funktionär« ihrer eigenen Partei: Jetzt bin ich auf die Intrigen gespannt, die sie gegen uns aussinnen werden. Sie haben mit alledem nur gewartet, bis Vollmann fort sei. Jetzt trauen sie sich mit dem ganzen Schmutz vor: Solidarität halten sie für überflüssig geworden. Sie werden sich vielleicht täuschen. Der neue Mann macht nicht den Eindruck, er werde uns entgegenkommen. Wir hatten vereinbart, daß von uns aus nichts geschehen soll, um mit der neuen Verwaltung in Verbindung zu treten oder Änderungen herbeizuführen. Wie das von den ganz Konsequenten durchgeführt wird, zeigte sich heute. GüntherErnst Günther (geb. 1893), KPD-Funktionär, 21 Monate Niederschönenfeld. erhielt ein Paket. Er verlangte, bevor er es annahm, die Anfrage, ob die Durchsuchung und Rückbehaltung der Verpackung immer noch nach alter Methode vor sich zu gehen habe und wie der neue Vorstand darüber bestimmt habe. Natürlich kam die Antwort, es gehe vorerst alles weiter wie bisher. Als ob nicht durch solche Provokationen erst der Anreiz geschaffen würde, nichts zu ändern! Jetzt werden wir vier, allenfalls – wenn Karpf, Gnad, Ringelmann und Weigand zu uns stehen – höchstens acht, unsere Entscheidungen allein treffen. Und etwas mehr Charakter als die Diktatur-Westriche werden wir wohl aufbringen.
Unsere Isolierung ist so ziemlich durchgeführt. Schon seit gestern mittag sind wir aus dem Speisesaal ausgezogen und essen jetzt in meiner Bude zu viert.
(...) Wiedenmann erklärte, ich sei ein Dieb, Egensperger,Ludwig Egensperger (geb. 1886), zu sieben Jahren Festungshaft verurteilt. der mich bis in die letzten Tage dauernd angeschnorrt hat, der von mir und durch mich alles mögliche erhalten hat, der mich bei jeder Gelegenheit seiner Freundschaft versicherte, schrie: Wer mit Mühsam spricht, ist kein Kommunist, Kain, der jeden Abend mit mir den Gang auf und nieder patrouillierte, verlangte, ich müsse nicht bloß bei den Kommunisten, sondern auch bei den Anarchisten und zwar international vernichtet werden, Schwab zog, als er die Konjunktur wieder für günstig hielt, mit Ansbacher Schweinereien daher (Meine Briefe, die ich dort vorgelesen hätte, hätten immer mit »wir« angefangen; darum eben habe ich sie ja vorgelesen!), und Sauber behauptete, er besitze überführende Beweise für meine Unehrlichkeit. Ich erklärte den beiden Abgesandten zunächst, daß eine Verteidigung für mich nicht in Frage käme, in die Lage eines Angeklagten ließe ich mich nicht bringen. Die ganze Sache habe politische Motive, weil ich nicht nach der Parteiflöte tanze, und sollte etwas gegen mich unternommen werden, so würde ich mich mit allen Mitteln meiner Haut und meiner Ehre zu wehren wissen. Dann gab ich über die einzelnen Fälle kurz sachlichen Aufschluß mit dem Ergebnis, daß beide sich Punkt für Punkt für befriedigt erklärten.
(...) Es kamen aber noch andere Beschuldigungen. Ich erhielte auffallend viele Pakete, und es bestehe der Verdacht, daß ich unter Inanspruchnahme persönlicher Beziehungen für die Gefangenen überhaupt persönliche Vorteile erziele. Hagemeister war selbst verlegen, als er das vorbrachte, und man ging, als ich einfach lachte, schnell darüber hinweg. Am Ende kam dann der eigentliche Punkt, der einzige, bei dem die Leute selbst glauben, was sie behaupten: Ich beeinflusse mit meinen politischen Ansichten kommunistische Genossen, vor allem Wittmann, aber auch Schmidt und Schreiber, auch bei Ringelmann und Weigand sei schon mein disziplinstörender Einfluß bemerkbar. Ich antwortete, daß ich selbstredend meine Meinung vertrete wie sie ist, ohne hingegen – im Gegensatz zu anderen – je Versuche gemacht zu haben, jemand von seiner Organisation abspenstig zu machen.
Ich muß wieder einmal vor der Zeit ein neues Heft anfangen, und diesmal, da ich Zenzl nicht verständigen konnte, für eins zu sorgen, eines, das nicht zu den anderen paßt, obwohl es mich 15 Mark gekostet hat. Ob und wann ich oder ein späterer Leser den Inhalt dieses Buches mit den früheren Aufzeichnungen zusammenflicken kann, läßt sich kaum entscheiden. Nachdem ich gestern wegen meiner Sorge um Walter und um Zeit zu erhalten, »Erwägungen anzustellen«, in Einzelhaft gekommen bin, wurde mir heute nachmittag »auf Anordnung der Verwaltung« alles Papierne herausgeholt, darunter das gerade im Gebrauch befindliche (aber fast volle) Tagebuch und das gesamte Kladdemanuskript meines Romans, an dem ich gerade anfangen wollte, weiterzuarbeiten. Also eine Wiederholung des ganzen Vorgangs vom 19. April 1920. Nur jetzt insofern schlimmer, als kein Grund da ist oder auch nur vorgetäuscht wird, irgendeine Untersuchung in einem Strafverfahren dadurch zu fördern. Außerdem kann ich mich an niemanden hilfesuchend wenden und stehe einfach dem von keiner Rechtsformalität mehr zurückgehaltenen Ausbruch eines wahrscheinlich von Antisemitismus bedienten brutalen politischen Hasses gegenüber, der mich zum Opfer will. Ich rechne damit, daß der Inhalt der Tagebücher von KrausHermann Kraus, Staatsanwalt, Festungsvorstand in Niederschönenfeld. zum Vorwand gemacht werden wird, neue Arten seiner fühlbaren Belehrungen zu entwickeln.
(...) Die Hausordnung aber, auf deren § 22 sich Kraus extra beruft, kennt als Disziplinarstrafe nur Hofentzug, den der neue Herr gerade nicht anzuwenden scheint. – Was der Haussuchung – (wie mir von oben heruntergeschrien wurde, hat man auch oben meine Zelle ausgesucht) – für weitere Schritte folgen werden, ist nicht zu erraten. Gutes erwarte ich mir um so weniger, als die fanatische Wut, mit der Kraus ohne jeden stichhaltigen Grund und obwohl ich jeder Provokation sorgfältig ausgewichen bin, über mich hergefallen ist, doch offenbar nur den Zweck hatte, Vorwände zu schaffen, um mich mit ausgesuchten Martern zu verfolgen. Aber ich bin gefaßt. Mehr als umbringen können mich auch diese Leute nicht.
(...) Nun werden wieder neugierige Reaktionäre in meinen Tagebüchern nach Verschwörungsspuren suchen und so wenig Glück damit haben wie mit den alten. So ehrlich ich meine Tagebuchaufzeichnungen mache – schließlich kann mich ja niemand verpflichten, in Selbstgesprächen in meiner Kritik sonderlich zurückhaltend zu sein –, so würde ich doch, selbst wenn auch etwas zu sagen wäre, was besser diskret bleibt, niemals der historischen Pedanterie wegen andere Leute Gefahren aussetzen. Politische Münze werden sie also wohl aus ihrem Fund nicht schlagen können. Von meiner ursprünglichen Absicht, mich ans Justizministerium zu wenden, sehe ich vorläufig ab. Daß mir von da Hilfe käme, ist nach allen Erfahrungen nicht anzunehmen, und da Kraus mich ohnehin außerhalb aller Gesetze behandelt, würde das vielleicht erst recht zu neuen Brutalitäten führen. Vorläufig sehe ich allem mehr interessiert als geängstigt zu und erkenne immer deutlicher, daß wir ungeheure Esel waren, als wir keinem unserer politischen Feinde ein Haar krümmten, als wir dazu unumstritten die Macht hatten. Jetzt zeigen sie selbst uns, was Klassendiktatur bedeutet. Trotzdem: schämen kann ich mich nicht, kein Kraus, sondern ein Esel zu sein.
Ich wurde zu Schneider zitiert und zwar zu dieser »Eröffnung«: Der Festungsgefangene Mühsam erhält zu seiner Absonderung als Verschärfung eine Woche Hofentzug und die gleiche Dauer hartes Lager. Grund: Ich habe seinerzeit dem F. G. Wittmann eine Abschrift meines Max-Hoelz-Liedes gegeben. Darin werden die Taten Hoelz' verherrlicht, die Arbeiter zum Verlassen der Fabriken, zum Aufstand und zu Gewalttaten aufgereizt usw., was sich mit dem Strafzweck durchaus nicht vertrage. Aus Gründen der Sicherheit werde ich also gemäß § 22 der Hausordnung mit Hof- und Bettentzug bestraft. Sollte diese Maßregel nicht den beabsichtigten Zweck erreichen, so werden mir weiterhin die allerschärfsten Disziplinierungen in Aussicht gestellt. Man hat mir sofort das Bett mitsamt Kissen, Decken und Matratzen herausgeholt und einen Holzkasten in die Bude gestellt, auf dessen Latten ich frieren, und wenn ich's fertig bringe, auch schlafen darf – und das eine ganze Woche hindurch. Ich erwarte nun auch noch Kostentzug – ein Grund wird sich schon noch in meinen alten Sünden finden.
(...) Ich denke an Benachrichtigung des Rainer Gefangenenbeirats, glaube aber kaum, daß der sich um einen berüchtigten Kommunisten sehr annehmen würde. Ich werd's also vorläufig mal in Geduld auf mich nehmen. Man muß schließlich alles selbst durchgemacht haben, um mitreden zu dürfen. Und die acht Tage werden ja auch einmal herumgehen.
Das ganze Stockwerk ist in größter Erregung. Morgen soll ein Hungerstreik inszeniert werden – mit welchen Zielen, ist mir noch nicht ganz klar. Ich werde mich nicht daran beteiligen, auf die Gefahr hin, als Verräter und Streikbrecher angesehen zu werden. Als ich unter fadenscheinigen Gründen festgesetzt wurde, rührte sich kein Mensch deswegen. Der Boykott blieb in Kraft, und die schamlosen Verleumdungen sind – trotz der Überzeugung Hagemeisters und Günthers von ihrer Grundlosigkeit – nicht zurückgenommen worden. Die Aktion, die zur gegenwärtigen Situation geführt hat, ist ohne unsere Verständigung und gegen den früheren Beschluß inszeniert, also mag sie auch ohne uns fortgesetzt werden.
(...) Im übrigen ist Hungerstreik in diesem Augenblick ungefähr das Dümmste, was überhaupt gemacht werden kann. Einen größeren Gefallen kann man ja den Herren Roth, Menzel und Kraus gar nicht erweisen. Die Leute, die ihn durchführen wollen – es sind meiner Rechnung nach sechzehn oder siebzehn –, haben in der Mehrzahl noch keinen mitgemacht. Da sie zumeist Lebensmittel in ihren Schränken haben, haben sie keinerlei Kontrolle, ob sich nicht mancher das »Durchhalten« sehr erleichtern wird. Von den übrigen wird einer nach dem anderen in drei, vier, fünf Tagen abfallen, und die paar Konsequenten werden vielleicht kaputtgehen, wonach kein Hahn krähen wird, oder aber, was viel wahrscheinlicher ist, den Hungerstreik ergebnislos abbrechen, was die Position der Verwaltung nur festigen würde. Bei der gegenwärtigen politischen Lage ist mit einer Änderung des Systems ohnehin in allernächster Zeit zu rechnen. Man braucht also gegen Kraus noch keine Mittel anzuwenden, die die eigene Gesundheit untergraben müssen. Natürlich wird unsere Stellung zwischen den übrigen jetzt noch viel ekelhafter werden, als sie schon vorher war. Aber weder das noch die Erwägung, daß möglicherweise die Regierung in den allernächsten Tagen schon stürzt und sich die Hungerer die dadurch automatisch eintretenden Besserungen hier innen auf ihr Verdienstkonto schreiben werden, kann mich veranlassen, etwas mitzumachen, was ich für verkehrt halte und denen – ohne die Zusammenhänge zu kennen – Solidarität zu erweisen, die mich geächtet haben.
(...)
Heute vor zwei Jahren um diese Zeit genau (drei Uhr) wurde Eugen Leviné auf dem Bluthof in Stadelheim erschossen. Es wäre würdig gewesen, den Tag hier in irgendeiner ernsten Form gemeinsam zu begehen. Das soll nicht sein. Unter all dem Geschrei von Zelle zu Zelle habe ich heute noch kein Ruf vernommen, der dem toten Genossen galt. Statt dessen wüstes Schimpfen auf uns, die wir den Hungerstreik ignorieren. Wir sind größere Lumpen als die unten – natürlich!
(...) Wie liegt denn der Fall? Ich halte es für nötig, ihn zu fixieren, um später jeder Fälschung entgegentreten zu können. Es bestand der strikte Beschluß, mit der Verwaltung über die Aufhebung der Zwangsmaßregeln in keiner Form zu verhandeln, in völliger Passivität den Moment abzuwarten, wo sie entweder von selbst aufgehoben würden oder die politische Lage eine Änderung herbeiführe. Ausdrücklich wurde bei Vollmanns Abgang betont, daß eine Änderung unseres Verhaltens deswegen nicht in Frage komme.
(...) Ganz abgesehen davon, daß der Hungerstreik jetzt geradezu unsinnig ist, ist es eine unglaubliche Zumutung, von denen, über deren Köpfe weg man den Beschlußbruch begangen hat, zu verlangen, die Folgen dieser Solidaritätsverletzung mit auf sich zu nehmen. So hörte ich vorhin Kain die Parole ausgeben: Jetzt zeigt es sich, wie recht wir hatten, sie zu boykottieren! Demagogen – und damit soll das Volk zur Revolution geführt werden!
(...) Trotz alledem ist mir gar nicht wohl in meiner Haut. Rings um mich Menschen, Genossen, die die Nahrung verweigern, die größtenteils doch in völlig ehrlicher Überzeugung, damit einen revolutionären Kampf auszukämpfen, schwerste Schädigung ihrer Gesundheit, sogar Gefährdung ihres Lebens auf sich nehmen, und ich sitze dazwischen und beteilige mich nicht an der Aktion und werde deswegen von diesen ehrlichen Genossen für einen Lumpen und Verräter gehalten. Aber ich kann nicht etwas tun, was gegen meine Überzeugung geht, vor allem kann ich meine nächsten Kameraden, die die meiner Ansicht nach richtige Haltung einnehmen, nicht um der solidarischen Geste willen desavouieren. Ihnen bin ich vor allem Solidarität schuldig. Aber mein Essen will mir gar nicht schmecken.
(...)
Mir ist todelend zumute. Der Kaffee wäre die nötige Medizin. Ohne jeden Anlaß, ohne jede Begründung ist es verboten, daß ich ihn kriege. Heute mittag, als ich vom Hof heraufkam, standen die Freunde am Herd. Der Kaffee war fertig. Die Aufseher verhinderten, daß ich ihn mitnahm. Mich verläßt die Empfindung nicht, daß Kraus es mit allen Mitteln darauf absieht, mich leiden zu lassen. Das Telegramm an Pfemfert, dessen ganzer Inhalt war: »Mit Honorar einverstanden«,Honorar für »Einigungsbroschüre«. als die rein geschäftliche Antwort auf einen Brief, der mir durch die Zensur zuging, scheint er nicht passieren lassen zu wollen. Wenigstens erhielt ich heute ohne ein Wort der Aufklärung das Geld zurück, das ich für das Telegramm mitgegeben hatte. Ich habe Adolf gebeten, einen Eilbrief an Pestalozza für mich zu schreiben, der, soviel ich weiß, auch von den anderen erwartet wird. Es sind ja geradezu tolle Zustände. Das Hungern der sechzehn Genossen scheint gar keinen Eindruck zu machen. Einige haben überdies – außer Einsperrung und Hofentzug – auch noch hartes Lager. Und ich bin mit meinen Nerven ziemlich am Ende. Schließlich ist's keine Kleinigkeit, was ich ausstehe. Seit sieben Monaten habe ich Zenzl nicht gesehen, seit dreieinhalb kann ich ihr nicht schreiben. Das Briefverbot fügt mir schweren wirtschaftlichen Schaden zu: Ich kann mich nicht um meine Arbeiten kümmern, muß Zenzl in allem ohne Rat lassen, bekomme natürlich auch keine Pakete mehr von vielen, die auf Antwort warten. – So schreibt mir Genösse Steiner aus Amerika einen geradezu entrüsteten Brief, daß ich ihm seine verschiedenen Sendungen nicht quittiert habe usf. Meine Tagebuchaufzeichnungen sind beschlagnahmt, mein Gesamtvermögen gepfändet, darunter der eventuelle Ersatz für die Plünderung vom Jahre 1919. Dazu die qualvollen Maßregelungen. Die sechs Tage Bettentzug haben mir furchtbar zugesetzt. Mit 43 Jahren, nach über zwei Jahren Einsperrung ist das für einen, der kein Soldat war, keine Kleinigkeit. Über die bei der Durchsuchung konfiszierten Sachen habe ich noch keinen Bescheid, und so hängt – womöglich wegen meiner Tagebuchaufzeichnungen – das Damoklesschwert unbekannter neuer Peinigungen ständig über mir.
(...) Was am meisten an den Nerven zehrt, ist der Konflikt mit den Genossen. Ich denke selbst stark an Hungerstreik, möchte ihn aber nicht von heute auf morgen beginnen, sondern ultimativ eine Frist stellen, bis zu der ich mit den nächsten Kameraden gleichgestellt sein will, um dann erst mit der Aktion, die – das erkenne ich klar – bei meiner geschwächten Gesundheit Selbstmord sein kann, zu beginnen. Solange ich noch irgend andere Möglichkeiten sehe, will ich denn auch warten. Zenzl rät mir im letzten Brief zu Fatalismus. Gewiß: Mich hat noch immer der Gedanke getröstet, daß kein Zustand Dauer hat. Aber der Körper läßt nach, das ist das Verfluchte. Hat die Entwaffnung die Folgen, die ich annehme, dann ist ja zu erwarten, daß auch unter den Genossen selbst wieder Kameradschaft und Versöhnlichkeit einkehrt. Die Parteibesessenheit derer, die mal Funktionäre werden wollen, wird wohl in verträglichere Bahnen geleitet werden können, wenn hier durch Wiederherstellung gesetzlicher Zustände die Atmosphäre behoben ist, die sich in hysterischer gegenseitiger Beargwöhnung und fanatischer Gehässigkeit gegeneinander entlädt. – Über die Lage in der Politik weiß ich noch nichts, da ich die neuen Zeitungen heute noch nicht bekommen habe.
(...) Was in Rußland vorgeht, ist gar nicht zu erkennen. Radek soll in der Wiener ›Roten Fahne‹ eine vernichtende Bilanz der bolschewistischen Politik gezogen haben – von welcher Seite her er sie angreift, ist nach den Notizen der bürgerlichen Presse unklar. Andere Nachrichten sagen, die Sowjet-Republik gehe offensiv gegen Rumänien vor und fordere die ukrainischen Aufständischen auf, proletarische Solidarität zu üben. Nach den Erfahrungen, die MachnoNestor Machno (1889–1934), ukrainischer anarchistischer Bauernführer; kämpfte gegen die weißen Garden, unterwarf sich aber nicht der Kommunistischen Partei; Emigration 1921. mit Moskau gemacht hat – erst half er den Sieg gegen Wrangel erkämpfen, entschied ihn sogar, dann verurteilte man ihn zum Tode, weil er sich der Parteidespotie nicht unterwarf, und brachte Tausende seiner Anhänger um –, wird man für einen rumänischen Feldzug,Moldawien und Bessarabien, seit Jahrhunderten zwischen Rumänien, der Türkei und Rußland umstritten, wurden im Zuge der Interventionskriege von Sowjetrußland (teilweise) zurückerobert und der Ukraine angeschlossen. der doch ein Angriffskrieg zu sein scheint, kaum mehr Begeisterung bei diesen Opfern des eigenen Machtwahns wecken. Ich habe das Gefühl, als ob die Trotzki-Bucharin-BewegungLew Trotzki (geb. 1879) und Nikolai Bucharin (geb. 1888), der politische Organisator der Roten Armee und der führende Theoretiker der Bolschewiki, werden hier des militärischen Expansionismus bezichtigt, weil sie für die Machtstellung der Kommunistischen Partei (u. a. gegen die Anarchisten) und nicht für die Weltrevolution (im Verbund mit den Anarchisten) tätig seien. Tatsächlich trat Trotzki für die (auch militärische) Ausweitung der russischen Revolution zur Weltrevolution und für die rücksichtslose Bekämpfung der Parteigegner ein, geriet damit aber in Widerspruch zur Parteiführung und verlor nach Stalins Machtantritt seine Ämter. Ermordet 1940 vom sowjetischen Geheimdienst in Mexiko. Bucharin wurde 1938 hingerichtet. das Symptom der völligen Zersetzung der bolschewistischen Parteidiktatur überhaupt ist. Parallel damit läuft der Zerfall der kommunistischen Partei in Deutschland, die – wenn ich von hier aus noch halbwegs urteilen kann – nur noch die Bedeutung eines gleichgültigen politischen Vereins hat. Daß sich in diesem Augenblick hier im Hause die Herren Kain-Sauber-Schwab-Wiedenmann sozusagen als omnipotente »Zentrale« zu etablieren suchen, zeigt die grenzenlose politische Naivität dieser großen Politiker. Sie merken nicht, daß das Rohrgeflecht ihres Stuhls schon völlig zerfressen ist und daß sie gewissermaßen mit dem blanken Hintern in der Luft hängen. Wir aber, die das Gefühl dafür haben, sind halt »Verräter«. Es ist schlimm, daß Lenins Fiasko, das seinen Grund eben darin hat, daß er aus der Sowjetrepublik wieder einen Obrigkeitsstaat gemacht hat, dessen Hauptkampf gegen revolutionäre Proletarier, die nichts von Bonzenherrschaft wissen wollen, gerichtet ist – daß diese Enttäuschung weithin das Vertrauen zur Räterepublik überhaupt erschüttern muß. Nur wenn die neue Revolution, die allem nach kurz bevorsteht, eine konsequent rätekommunistische ist, kann die Resignation des westeuropäischen Proletariats verhindert werden. In Deutschland gibt es für den Revolutionär nur eine Forderung: Zertrümmerung der Parteien und Gewerkschaften, Aufbau der Betriebsorganisationen! Wenn mein Buch – dem, wie mir Pfemfert schreibt, Rühle und er Vorreden beigegeben haben – bald herauskommt, kann es auch jetzt noch zur Klärung manches beitragen.
(...)
(...) Seit langem stellen mich gewisse Leute, allen voran der widerliche Demagoge Pierre Ramus in Wien und ein Neffe Landauers in Heidelberg, Walter Landauer, wie einen Lügner hin, weil ich den toten Freund gegen die verruchten Versuche in Schutz nahm, ihn zu einem Schwarmchristen zu machen, dessen revolutionäre Gesinnung vor allen revolutionären Taten haltmache. Trotz Landauers Unterschrift unter den Proklamationen der Räterepublik, worin die Bewaffnung des Proletariats als erste Forderung aufgestellt war, behaupten diese Gesellen dreist, er sei strikter Gegner jeder Waffengewalt gewesen. Um Beweise fürs Gegenteil wäre mir nicht bange, wenn man mich nicht als völlig unglaubwürdig und tendenziös voreingenommen verschriee – und ich bin ja durch die Zensur verhindert, mich zu wehren und den Toten zu schützen. Jetzt aber erfuhr ich gestern etwas, was mir völlig neu war und ungeheuer charakteristisch für Landauers wahres Wesen ist. Ertl,Wilhelm Ertl (geb. 1877), zu drei Jahren Festungshaft verurteilt. ein durchaus zuverlässiger Genosse,Dies Urteil mußte revidiert werden. Doch bleibt gerade die Angabe über Landauer glaubhaft. (Durchsicht im Mai 22) E. M. erzählte mir ganz zufällig von dem Sturm auf den Bahnhof in München am 13. April 1919 nach meiner und meiner Kameraden Festsetzung beim Palmsonntagsputsch. Damals hat Landauer persönlich an dem Versuch, uns zu befreien – wir waren ja aber schon verschleppt – teilgenommen, und zwar mit dem Gewehr in der Hand, und hat kräftig daraus geschossen. Ich bat Ertl, sich ganz genau zu besinnen, ob kein Irrtum möglich sei, was er als vollständig ausgeschlossen bezeichnete. Landauer habe in der Bayerstraße im Eingang zum Café Glaßner gestanden. Er sei in der Lage, mindestens zwanzig Augenzeugen dafür zu benennen. – Ich glaub's unbesehen. Landauer hat immer betont, daß man wohl wünschen darf, die Revolution möge möglichst unblutig verlaufen; ich habe ihn aber auch einmal geradezu zornig gesehen, als er gegen die Phrase »Kein Blutvergießen!« loszog. Er sagte damals wörtlich – ich erinnere mich sehr deutlich –, »Kein Blutvergießen ist Unsinn! Wer Revolution will, muß sie ganz wollen und in Kauf nehmen, was sie mit sich bringt. Bis jetzt hat es noch nie eine unblutige Revolution gegeben, wir müssen sehen, möglichst wenig Menschenleben zu opfern.« 1909 in Zürich in der Versammlung in der »Eintracht« gab Gustav Landauer das Signal zum gewaltsamen Hinausschmeißen der Sozialdemokraten, bei der ersten Sitzung des Münchner Arbeiterrats, als wir die Gewerkschaftsbonzen aus dem Deutschen Theater rausfeuerten, hat Landauer fest mit den Fäusten zugegriffen.Als es am 7. April hieß, Studenten wollten das Wittelsbacher Palais stürmen, nahm L. eine Handgranate zur Abwehr in die Hand (Zeugen Toller, Niekisch etc.). E. M.
Sein angeblicher Kampf gegen die Bewaffnung der Arbeiterschaft beschränkte sich auf die Warnung, man möge um Gottes Willen nicht die Maschinengewehre unter die Verfügung der Gewerkschaftsfunktionäre stellen. Ich könnte eine ganze Serie von Äußerungen Landauers zur Gewaltfrage feststellen, lege mir aber mit Rücksicht auf die latente Drohung, daß dieses Heft den Weg seiner Vorgänger gehen könnte, Zurückhaltung auf. Daß ich jetzt weiß, Landauer hat seinerzeit, um mich und die übrigen aus den Fäusten der Aschenbrenner-Sippe zu befreien, selbst am Straßenkampf teilgenommen, verschönt mir sein Bild unbeschreiblich. Ich werde dafür sorgen, daß der Vorgang durch Augenzeugen in genügender Zahl, allen Fälschungen dieses großen Revolutionscharakters zum Trotz, bleibend für die Geschichte festgelegt wird. Das bin ich meinem Lehrer, Freund und Kampfgenossen schuldig.
(...) Von einem Brief von Fritz WeigelFritz Weigel (geb. 1890), Mitglied der KPD-Stadtvertretung in München; lebte im Haushalt Zenzl Mühsams. erhielt ich bloß eine Hälfte, die andere wurde »wegen agitatorischen Inhalts« zum Akt genommen. Doch geht aus dem mir ausgehändigten Teil hervor, daß Hoelz im Besitz meines Liedes ist und sich sehr darüber gefreut hat. Das tröstet mich völlig über die sechs »harten« Nächte hinweg, die ich dieses Liedes wegen aushalten mußte. Der Hoelz-Prozeß geht immer noch weiter und ist eines der wichtigsten Ereignisse dieser Zeit. Hoelz steht wundervoll tapfer vor seinen Richtern: ganz als Ankläger, als Entlarver, als Kämpfer. Sein Leben ist aller Erwartung nach verloren, und er selbst nennt das Verfahren eine Affenkomödie. Vor ihm stand Ferry (Häring) vor dem Sondergericht wegen des Anschlags auf die Siegessäule, dieses ekelhaften Symbols militaristischen Größenwahns. Auch er stark, schön, mutig – und natürlich bis zuletzt von den Patentkommunisten als Spitzel und Provokateur verdächtigt: Acht Jahre Zuchthaus hat man ihm auf geknallt.
(...)
(...) Die Interpellation im bayerischen Landtag über den Mord an GareisKarl Gareis (geb. 1889), Vorsitzender der USPD-Fraktion im bayerischen Landtag, wurde am 10. Juni 1921 von Angehörigen der bayerischen Einwohnerwehr ermordet. Die Täter wurden nicht ermittelt. hat natürlich zu einer völligen Niederlage der Linken und zu einem verstärkten Vertrauen zu Kahr-Roth-Pöhner geführt. Das Maß von Heuchelei, das in der gemeinsamen Erklärung der Koalitionsparteien, in den Reden der Herren Kahr, Roth und SchweyerFranz Xaver Schweyer (1868–1935), Innenminister der Regierung Lerchenfeld ab September 1921. und ganz besonders in den Ausschleimungen der Presse, deren abgründige Verworfenheit nie so schamlos zur Schau gestellt wurde wie jetzt in Mordbayern, ist widerlich. Ein politisch besonders verhaßter Mann, auf den die Brachialteutonen wochenlang mit der Pistole gezeigt haben, wird in einer politisch ungeheuer unruhigen Zeit auf dem Rückweg von einer von ihm selbst als Referenten veranstalteten öffentlichen politischen Versammlung ermordet, nachdem ungezählte Morde seiner Richtung nahestehender Politiker in Deutschland seit zwei Jahren an der Tagesordnung stehen, die fast ausnahmslos ungesühnt geblieben sind (nach einer Gumbelschen StatistikEmil Gumbel (1891–1966), Statistiker und Publizist, dokumentierte die politische Rechtsbeugung in der Weimarer Republik (Klassenjustiz) und legte die Organisationsstrukturen der faschistischen Geheimbünde offen. ›Vier Jahre politischer Mord‹ (1922). sind bis März 1921 314 Morde von rechts in Deutschland verübt worden, wovon sechs zur Aburteilung gelangt sind (einmal lebenslängliche Festung – Arco – und 31 Jahre drei Monate Einsperrung), denen fünfzehn Morde von links gegenüberstehen, von denen vierzehn abgeurteilt sind mit acht vollzogenen Todesurteilen – sämtlich in Bayern, unsere sogenannten »Geiselmörder« – und 176 Jahren zehn Monaten Zuchthaus und Gefängnis) – ein ganz vorn sichtbarer Politiker also wird unter solchen Umständen ermordet –, da wagt es die Regierung, das Parlament und die Journaille, zu behaupten, daß für die Annahme, es handle sich um einen politischen Mord, nicht der Schatten eines Beweises vorliege. Herr Dr.Roth aber hat noch besonders unter dem Applaus des Hauses, dem auch die »Demokraten« beistimmten, versichert, daß die Handhabung des Rechts in Bayern so rechtschaffen betrieben würde wie nirgends in der Welt. Klassenjustiz? – Gibt's ja gar nicht. Wir in Niederschönenfeld sind nun völlig beruhigt, da es der Justizminister ja selbst gesagt hat. – Eine Zeitungsnachricht aber ist heute ein Quell großer Freude für mich. Man hat es nicht gewagt, Hoelz zum Tode zu verurteilen.
(...)
Zenzl war hier – zwei ganze Stunden! Unter Aufsicht des Herrn Gehauf, der mit am Tisch saß. Über Politik oder Vorgänge in der Anstalt zu reden, war uns verboten – letzteres ist sehr verständlich. Sie sah etwas angestrengt, aber sonst gesund aus. Diese Konstatierung war die ganze Freude, die mir von dem Besuch blieb. Auch sie war tapfer und weinte nicht. Nach sieben Monaten zwei Stunden unter solchen Beschränkungen! Herrn Kraus hat sie gar nicht zu sehen bekommen; das wenigstens ist ihr erspart geblieben. – Ich war zuerst sehr deprimiert, bin aber schon etwas ruhiger. Eine einzige Pflicht erwächst uns allen, die wir das jetzt ausstehen: Nie – nie – nie vergessen! Vom Feinde lernen und ohne große Worte, aber mit heißem Gefühl der Stunde harren, wo das Gelernte verwertet werden kann!
(...) Bei Zenzls Besuch erfuhr ich nebenbei durch den Überwachenden, daß mein Romanmanuskript, nachdem es schon freigegeben war, einer nochmaligen Prüfung unterliegt, weil ich in meinen Tagebüchern so tolle Dinge stehen habe (auch eine Begründung!). Ich erwarte demnächst Dr. LöwenfeldPhilipp Löwenfeld, Rechtsanwalt. hier und will womöglich einen Vertreter des Schutzverbandes kommen lassen, da es augenscheinlich beabsichtigt ist, mir die letzten Möglichkeiten beruflicher Betätigung abzuschneiden. Ob diese Herren allerdings vorgelassen werden? Graf Pestalozza war hier und mußte wieder umkehren. Damit ist also zum Prinzip gemacht, daß wir außerhalb alles Rechts stehen – Beschwerden sind ja ohnehin schon verboten. Sie gelangen nur bis zum Zensor, also bis zu der Instanz, gegen die die Beschwerden gerichtet sind und werden mit Disziplinierungen beantwortet. – Zu erwähnen ist noch, daß seit einiger Zeit verboten ist, abends eigenes Licht zu brennen. Mir wurde schon während der Einzelhaft unten meine Petroleumlampe konfisziert, und die von der Frauenhilfe gesandten Kerzen wurden beschlagnahmt. Gründe? Gehen uns ja nichts an. Was in Bayern im Laufe von zwei Jahren aus der »Ehrenhaft« gemacht ist, ist schon grotesk. Aber ich glaube, daß die hinlänglich gespannte Seite kurz vor dem Reißen ist.
(...)
(...) Heute habe ich den Herrn Staatsanwalt Kraus in Person kennengelernt. Er ließ mich am Vormittag hinunterrufen und empfing mich im Rapportzimmer in Gegenwart des Regierungsrats Schmauser. Vor ihm lagen Corpora delicti, die bei der Durchsuchung am 26. Mai konfisziert waren. Zuerst das Tagebuch. Beim Blättern darin wurden dicke rote Striche unter ganzen Zeilen sichtbar. Meine Erwartung, es werde nun gleich ein heiliges Donnerwetter niedergehen, erfüllte sich jedoch nicht, wie denn der Ton im allgemeinen zwar scharf und entschieden akzentuiert, aber ziemlich beherrscht blieb. Ich hatte mir schon vor Eintritt vorgenommen, möglichst wenig zu sprechen, um nicht für nichts und wieder nichts in Einzelhaft zu müssen, und verlor auch keinen Augenblick die Ruhe und die Überlegung, daß vor mir ein Mann sitzt, der über große physische Machtmittel verfügt und oft gezeigt hat, daß er sie recht unbedenklich anzuwenden weiß. Ferner wollte ich mehr beobachten als mich der Beobachtung aussetzen. Also das Tagebuch wurde zuerst vorgenommen, wobei mir die bemerkenswerte Frage vorgelegt wurde, ob ich im Kopf hätte, was alles drinstehe. Auf meinen Einwand, daß derartige Aufzeichnungen völlig private Selbstgespräche seien und daß niemand je einen Einblick darein erhalte, ging man nicht ein. Es seien schwere Beleidigungen gegen Dr. Vollmann darin, und das Heft gehe daher zum Akt (meines Wissens müssen es aber zwei Hefte sein). Dazu eine Predigt: Es sei gegen das Führen von Tagebüchern gar nichts einzuwenden. Aber es gebe genügend Stoff dazu und ich habe mir stets bewußt zu halten, daß ich Festungsgefangener sei, andernfalls –-. Dann kam das Hoelz-Lied noch einmal dran. Derartige Gedichte zu machen, sei mir hier durchaus verwehrt, ich hätte mich in meinen Gedichten jeder politischen Hetzerei zu enthalten etc. Eine Abschrift der Rätemarseillaise, die dutzendemal gedruckt ist und in ganz Deutschland gesungen wird, wurde gleichfalls beschlagnahmt, ebenso mein Aufruf vom vorigen Jahr über die Gründung einer Festungsproduktivgenossenschaft, den Herr Kraus ironisierte. Obwohl ich versicherte, dieses Manifest habe der Hauszensur, dem Oberstaatsanwalt und dem Ministerium bereits vorgelegen, erhielt ich ihn doch nicht wieder. Endlich kam das Heft dran, in dem Adolf Schmidts und mein »Krippenspiel«, ›Die Mörderzentrale‹Nicht erhalten. steht, das wir zum letzten Weihnachten verfaßt hatten und das dann wegen der peinlichen Geschichten im oberen Stock unaufgeführt blieb. Dieser harmlose Ulk erregte den starken Unwillen des Vorstands, weil darin die heilige Familie in ganz unzulässiger und geschmackloser Weise persifliert werde. Bei alledem immer wieder dringliche Verwarnungen, keine Gedichte zu machen und nichts zu schreiben, was der Verwaltung nicht gefällt. Ich beabsichtige, meine Tagebücher wie bisher zu schreiben, objektiv und wahr, und wenn der Geist über mich kommt (was leider selten genug noch der Fall ist) und gibt mir Verse ein, dann sei's drum: muß ich deswegen »büßen« – ich kann's nicht ändern. – Spazierhof!
(...) Bei Adolf und Clemens ist durchsucht worden, und ich habe unter Umständen »eine sehr peinliche und fühlbare Belehrung« zu gewärtigen, die mir Herr Kraus am Schluß der Eröffnung in Aussicht stellt, die mir vorhin vorgelesen wurde. Sie bezieht sich auf das, was mir schon mündlich mitgeteilt worden ist, und entwickelt noch einmal einzeln meine Verfehlungen, wie sie die Durchsuchung vom 26. Mai zutage gefördert hat. Tagebuch, Rätemarseillaise, Aufruf zur Festungsproduktivgenossenschaft, Krippenspiel. Dies alles wird zum Akt genommen, und »bis zum Ablauf meiner Strafzeit, nicht etwa bis zu einer möglichen früheren Entlassung« verwahrt. Der Staatsanwalt ist also der Meinung, daß seine und der Seinen Allmacht auch 1934 noch in Geltung stehen wird. Ich bin anderer Auffassung. – Jetzt frage ich mich aber, ob man bei den Durchsuchungen heute nicht wieder Ulkverse von mir gefunden haben wird aus der Zeit, als die Versfüße noch nicht nach der Marschmusik eines Staatsanwalts Stechschritt zu machen hatten, und ob die Verfügung »über den Festungsgefangenen Mühsam« also nun mit rückwirkender Kraft in Erscheinung treten wird. Die Belehrung, mag sie noch so peinlich und fühlbar ausfallen, wird mir auch nichts anderes mehr beibringen können, als was ich schon weiß: daß das differenzierteste Hirn von einem Klosettdeckel blöd geschlagen werden kann und daß es schwer ist, gegen eine Fuhre Jauche anzustinken.
Zenzls Geburtstag – der vierte, den ich mit der Staatsfaust im Genick verleben muß. 1918 in Traunstein, Zwangsaufenthalt bei dreistündlicher Meldung im Lager, also sozusagen Festungshaft in wesentlich erleichterter Gestalt. 1919 Ebrach, Festungshaft in gesetzlicher Form nach der Verordnung von 1893. 1920 Ansbach, verschärfte Festungshaft mit Müller-Meiningenschen Raffinements und Entwürdigungen; immerhin noch unter Wahrung gewisser Rechte als Ausübung des Berufs ohne wesentliche Behinderung, Besuche ohne Aufsicht, Fortbestand der Ehe. 1921: Niederschönenfeld, »Festungshaft« à la Roth-Kraus bei absoluter Vernichtung jeder Eigenbetätigung, Auflösung der Familie, ständiger Bedrohung. Eine anmutige Entwicklung. Nun bin ich gespannt, wie sich der Tag 1922 anlassen wird. Geht's im bisherigen Stil weiter, dann brauche ich mir wohl keine Gedanken mehr darüber zu machen, dann hat Herr XylanderOskar Ritter von Xylander (geb. 1856), bayerischer Generalmajor. wohl schon dafür gesorgt, daß ich den Platz zwischen den Mauern mit kurzem Aufenthalt an der Mauer mit einem Dauerplätzchen hinter der Mauer vertauscht haben werde. Oder aber Niederschönenfeld ist überhaupt schon eine Erinnerung, und ich erwache am Morgen von Zenzls Geburtstag fröhlich in ihrem Bett.
(...)
Ob die entsetzliche Hungerkatastrophe jetzt nicht doch die Katastrophe der bürokratischen »Scheinsowjet-Republik«Ironische Erwiderung auf die Bezeichnung »Schein-Räterepublik« für die erste Phase der Münchner Räterepublik von Seiten der KPD. Mühsam stellt fest, daß nicht die Sowjets (dt.: Räte), sondern die Parteibürokraten die Macht in Sowjetrußland ausüben. herbeiführen wird? TschitscherinsGeorgij Tschitscherin (1872-1936), Volkskommissar des Äußeren 1918-29. offiziöse Dementis über Unruhen und Kämpfe werden kaum noch irgendwo geglaubt. Die Hilfsaktionen – alle – sind lächerlich. Sollen wirklich in Europa 50 Millionen Arbeiter auf den Tagesverdienst einmal im Monat verzichten – ein Gedanke, der phantastisch ist –, so wäre 50 Millionen hungernden russischen Arbeitern und Bauern für einen Tag im Monat geholfen. Geldspenden sind Unsinn bei dem Ausmaß der Not. Harden macht den besseren Vorschlag, Maschinen und Waren im größten Stil und in internationaler Zusammenarbeit nach Rußland zu schaffen und Ingenieure, Ärzte, Medikamente hinzuschicken. Aber das von kapitalistischen Organisationen zu verlangen, ist ebenso phantastisch wie die Idee, das internationale Proletariat könne durch Sammlungen die Rettung der russischen Hunger- und Seuchenopfer bewirken. Nur der Zwang des Proletariats, die von ihm geschaffenen Werte nach seinem Willen zu gebrauchen, könnte Hardens Idee fruchtbar machen: das heißt, die Revolution – und die scheint von der »Kommunistischen Internationale« selbst preisgegeben. – Die predigt den Wahnsinn der Massenparteien, mit denen einmal die Macht erobert werden soll. Ich denke da ein wenig blanquistisch. Gestern habe ich ZäunerJosef Zäuner (geb. 1890), zu drei Jahren und sechs Monaten Festungshaft verurteilt. und SandtnerAugust Sandtner (1893-1944), zu drei Jahren und sechs Monaten Festungshaft verurteilt; KPD-Politiker. eine kleine Rechnung aufgemacht. In München waren – von beiläufig 400000 erwachsenen Proletariern, Männer und Frauen – allerhöchstens 20000 während der Zeit des Umsturzes revolutionär aktiv, also fünf Prozent der »Masse«. Von diesen 20000 waren mindestens 17000 erst durch die akut gewordene Bewegung selbst in Bewegung gesetzt worden. Es waren also – höchstens! und das ist meiner Beobachtung nach noch viel zu hoch gegriffen – 3000 Personen, die vor Ausbruch der Revolution wirklich revolutionären Willen gehabt haben: noch nicht ein Prozent der »Masse«. Die Masse selbst aber besteht aus Spießern, auch die proletarische, die antibourgeois nur in dem Sinne sind, daß sie die Bourgeois beneiden und selbst gern Bourgeois sein möchten. Das Wesen des Spießers äußert sich im wesentlichsten in Erfolgsanbetung. Das Gros sympathisiert mit absolut allem, was Erfolg hat. Landauer hat den ausgezeichneten Satz gesprochen: Wir brauchen keine Revolutionäre; wir brauchen Revolution! Ist die Zeit reif zur Revolution, so muß das erste Prozent sie veranstalten: Fünf Prozent werden sogleich geweckt werden und die Tatsache der Revolution befestigen. Sie genügen gegenüber der stagnierenden passiven Masse vollauf zum Erfolg, und haben wir den, so haben wir außer dem einen Prozent, der auf der andern Partei den Willen zur Tat hat, und den vier Prozent, die sich denen beim Akutwerden der Tat zugesellen würden, die neunzig Prozent, die sich »auf den Boden der Tatsachen stellen«. Als ob wir's im August '14, im November '18 und im April '19 nicht handgreiflich vor uns gesehen hätten. Die Kommunisten aber predigen jetzt wie ehedem die Sozialdemokraten: Zählt Stimmen, und wenn wir die »Mehrheit« haben, ist die Zeit reif zur Revolution. So buhlt man denn um die Banausen, die Philister, die Passiven und Indifferenten und – sehr natürlich – man macht Konzessionen an ihre Banalität, Philistrosität, Passivität und ihren Indifferentismus. Elan und Temperament, Entschlossenheit und revolutionäre Kraft – alles ist hin. Vom revolutionären Ziel, vom Kommunismus, von der Räterepublik – was ist übrig? Schlagworte, Versammlungsklischees. Die »Kommunisten« haben den Kommunismus preisgegeben. Man erlöse ihn aus der Partei und wir werden wieder Kommunisten haben.
(...) August Sandtner erzählt, aus Rußland zurückgekehrte Genossen berichteten, daß am Kreml die Bilder der gefallenen und gefangenen bekannten Revolutionäre aus aller Welt außen an einer Mauer verewigt seien, und unter den Deutschen sei da auch neben den Bildern Liebknechts, Luxemburgs, Landauers etc. das meinige angebracht, da kein Unterschied der Richtung hervortrete. Wie unangenehm für unsere Patentkommunisten hier, wenn sie es erfahren. Sie werden sich gewiß beeilen, an Lenin zu berichten, daß ich inzwischen für konterrevolutionäres Verhalten boykottiert werden mußte. Wenn diese guten Leute nur einmal begreifen wollten, wie albern sie das macht, was sie für ihren Charakter halten!
Drei neue Zeitungsverbote seit gestern für mich allein: Reitzes ›Seefackel‹, der holländische ›Jonge Communist‹ und der Wiener ›Rote Soldat‹. Die speziellen Exemplare wegen agitatorischen Inhalts zu den Akten genommen, die Blätter allgemein von jetzt ab für die Festungsgefangenen überhaupt gesperrt, »weil ihr Inhalt einem geordneten Strafvollzug Nachteile bereitet«. Unsere vollständige Nichtinformation über alles, was unsere eigenen Angelegenheiten betrifft, wird nun wohl so ziemlich garantiert sein. Dafür wird aber der ›Miesbacher Anzeiger‹ keineswegs als Hetzblatt betrachtet – hetzt er doch nur zum Mord gegen alles, was uns nahesteht, und hetzt er doch nur zum Hochverrat von der andern Seite, von der Seite, deren Verfassungsbrüchen die Herren Kahr, Pöhner, Roth, Kraus e tutti quanti ihre von keinerlei Rücksicht auf Gesetze beeinträchtigtes Walten sowieso zu danken haben. Ich hatte und habe besorgte Stunden durch die Miesbacher Dreckschleuder. Man begnügt sich nicht mehr mit Verleumdungen, Beschimpfungen, Beschmutzungen der Personen selbst, die man die teutsche Kraft seit dem Moment, wo sie sich nicht mehr wehren können, gewaltig spüren läßt – man darf auch ihre Frauen und Kinder nicht in Ruhe lassen, will man vor den Teutonen und Bajuwaren wahrhaft heldenhaft bestehen. Ein kraftbaierisches Schwein hat jetzt seine schmierigen Borsten für ein entsprechendes Zeilenhonorar an meiner lieben, armen Zenzl gerieben. Zum ersten Mal seit fünf Jahren ist sie zu ihrer Erholung aufs Land gegangen – nach Gotzing bei Thalham, einem Örtchen im Wirkungsbezirk des Miesbacher gesetzlich geschützten und behördlich geförderten Totschlagsblatts. In Zenzls Begleitung ist mein treuer Fritz Weigel und Zenzls Schwester Resl. Der Aufenthalt dieser gefährlichen Gesellschaft ist von den Heim-Thoma-Eckschen TreibjägernDr. Georg Heim (1865-1938), rechtsradikaler bayerischer Bauernbundführer. Mit Ludwig Thoma hatte Mühsam vor dem Ersten Weltkrieg eine Boheme-Freundschaft verbunden. (für entsprechendes Zeilengeld) aufgespürt worden, und unter dem Titel ›Ein Idyll am Taubenberg‹ wird in der antisemitischen Kloake gegen die drei Menschen neubayerischer Gestank aufgerührt. Es wird von einem Beobachter erzählt, daß sie im Gotzinger Hof zu essen pflegen, daß es Dampfnudel gegeben habe, welche Bemerkung Zenzl im echten Dialekt München-Ost (sie ist aber aus der Holledau und angeblich doch »landfremdes Element«) dazu gemacht hat, daß die Schlemmerei 36 Mark gekostet hat (zu dritt! Ich möchte wissen, ob der Miesbacher Mordhetzer weniger für seine Mahlzeiten ausgibt als zehn Mark in diesen Zeiten). Dann wird verraten, um wen es sich handelt, und natürlich eine schmutzige Anspielung auf Weigels Trösteramt bei Zenzl hingezotet. Ich habe, da ich fürchte, Zenzl könnte das Ganze als eine belanglose Gesinnungsäußerung dessen ansehen, was heute im »Freistaat« Bayern allein als Gesinnung respektiert wird, ohne die Gefahr zu sehen, sofort einen Eilbrief an sie geschrieben mit der Bitte, die Gegend schleunigst zu verlassen. Zum wenigsten beweist mir der Artikel, daß die Spitzel dieser gewissenlosen Mordbuben ihr und Fritz unausgesetzt auf den Fersen sind und ihre kleinsten Bewegungen beaufsichtigen. Vorläufig versucht man, die Bauernlümmel der Gegend gegen den Kommunisten und das Revolutionärs-Mensch aufzuputschen. Gelingt das nicht, so ist vielleicht dieser oder jener Held selbst bereit, ihnen den »Gareis« zu machen: daß den Betreffenden nichts passiert, ist ja im vorhinein garantiert. – Mit diesen Halunken verbündet, ihr getreuer Schildhalter und Förderer ist Ludwig Thoma! Er ist bereit, jeden Mord gutzuheißen, der an einem Menschen (oder dessen Angehörigen) verübt wird, der zur Obrigkeit, zu Pfaffen und Offizieren, zur Reaktion und Gesinnungsunterdrückung heute noch so steht, wie Thoma 25 Jahre lang dazu gestanden hat. Ein solches Maß von Verlumpung ist doch wohl ungewöhnlich. Wedekind hat den Mann, auf dessen Redlichkeit ich geschworen hätte, richtig beurteilt. – Eben kommen Zeitungen, die ich erst lesen will, ehe ich zu ihrem wahren und erlogenen Inhalt übergehe.
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Der Hausarzt ist seit vorgestern in Urlaub. Ich erfuhr es, da ich mich gerade an diesem Tag wegen meines Ohrenleidens meldete und von ihm an den Vertreter gewiesen wurde. Der hat also gestern sein Amt angetreten. Zufällig wurden gestern früh Brote ausgegeben, die zum großen Teil Schimmel angesetzt hatten. Viele gaben ihr Brot zurück, und Schreiber meldete sich zum Arzt, um ihm die verdorbene Eßware vorzulegen. Er erhielt die Antwort: Schimmliges Brot sei nicht gesundheitsschädlich, das solle man nur ruhig essen! Für bayerische Festungsgefangene ist es also gut genug. Legt's zum übrigen; aber fein führt sich der neue Mann der Wissenschaft gleich wieder ein! – Mein Ohr hat er angesehen. Meine Forderung, Gelegenheit zu spezialärztlicher Behandlung zu erhalten, lehnte er glatt ab, versicherte mir aber, daß ich damit rechnen müsse, das Ohrensausen nie loszuwerden und das Gehör des rechten Ohrs in absehbarer Zeit völlig zu verlieren. Morgen soll ich wiederkommen. Ich werde mein Verlangen nachdrücklich wiederholen. Kann ich schon nicht die Behandlung haben, die ich brauche, dann will ich wenigstens die Verantwortung rechtzeitig den Ärzten zuschieben, denen ein »geordneter Strafvollzug« im Sinne Kahr-Roths wichtiger ist als eine geordnete Therapeutik für den Patienten. Es ist Zeit zum Mittagessen.
(...) Übrigens – der Arzt. Ich bin jetzt bei ihm in Behandlung wegen meines Ohrenleidens, habe aber natürlich nicht das Vertrauen, daß seine Bauerndoktorei imstande ist, auch nur die richtige Diagnose bei einer so komplizierten Sache zu finden. Deshalb verlangte ich spezialärztliche Behandlung. Der Mann war augenblicklich beleidigt, wenn er es auch bestritt. Er machte auf die Kosten einer Konsultation aufmerksam, wenn der Spezialist extra herkäme, und erklärte mir auf die Frage, ob er die Spezialuntersuchung befürworten werde: Er könne nicht einsehen, wieso die von mir befürchtete Taubheit mir als Schriftsteller in meiner Berufstätigkeit Abbruch tun könne. Darauf meldete ich mich zum Rapport zum Vorstand, der heute stattfand. Herr HoffmannHeinz Hoffmann, Oberregierungsrat, Vorsteher der Festungshaftanstalt Niederschönenfeld 1921 bis 1924. schien in der Sache weit entgegenkommender zu denken. Er forderte mich auf, nach Verständigung mit meiner Frau über die Person des Arztes, die Art der Konsultation (Ich verlangte Transport zum Spezialisten, sei es nach Augsburg, Ingolstadt oder München) und die Kostendeckung in einer schriftlichen Eingabe an ihn, meine Wünsche und Anträge zu fixieren; er werde tun, was ihm möglich sei. Ich träume also schon davon, daß ich womöglich nach München fahren werde und da am Ende sogar erlaubt kriege, meine Wohnung zu besuchen und mit Zenzl ein paar Stunden allein zu sein. Das beste hoffen! – Ich benutzte die Gelegenheit, um gleich wieder auf meine Weinflasche zu sprechen zu kommen, und es gelang mir, das treffliche Getränk ausgehändigt zu erhalten: »versuchsweise«. Der Standpunkt sei der: Man müsse verhindern, daß Gelage veranstaltet werden. Wenn das auch bei einer einzelnen Flasche nicht zu befürchten sei, so könne es doch vorkommen, daß mal alle F. G. über eine Flasche Wein verfügen, und dann sei eben das Übel da. Ich muß nun die leere Flasche abliefern, damit festgestellt wird, daß sich kein Vorrat geistiger Getränke ansammelt, der zu Mißbrauch führen kann. Bis die Flasche nicht zurückgegeben ist, darf mir auch kein Schnaps mehr ausgeschenkt werden. Ich verkniff es mir, in ein Kindergelall auszubrechen, wie es diese Bevormundung gerechtfertigt hätte.
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(...) Eine ganz haarsträubende Begründung des Verbots, Gäste zu bewirten, wird jetzt bekannt. Hoffmann hat die Erlaubnis, Besuchern Tee, Kaffee oder dergleichen vorzusetzen (Sogar SchlaffersJosef Schlaffer (geb. 1891), 1921 zu drei Jahren Festungshaft verurteilt. kleines Kind, das seit fünf Uhr morgens unterwegs und sehr ausgelaugt war, durfte nicht mit etwas Warmem erfrischt werden), mit dem Hinweis darauf verweigert, daß keine Frühstücksstunde zulässig sei, denn sonst bekäme die Anwesenheit der Angehörigen ja den Charakter eines Besuchs. Besuche gäbe es in der Festung grundsätzlich überhaupt nicht, es gäbe nur »Sprechgelegenheit«. Dieses Prinzip hebt nun auch formell unser Anrecht auf die uns selbst in der ungesetzlichen Müllerschen Hausordnung zugebilligten Besuche auf. Die gänzliche Umwandlung unserer Festungshaft in Militärgefängnis ist damit besiegelt.
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(...) Radbruchs Berufung zum Reichsjustizminister macht natürlich im Hause einen Mordseindruck. Viele schon ermüdete Hoffnungen sind wieder lebendig – und momentan bin ich es, der den zügellosen Illusionen die Bremse einhängt. So geht es doch nicht, daß der zweifellos vorhandene gute Wille des Mannes ganz einfach aus dem Handgelenk die Reaktion aus der deutschen Justiz ausmistet. Die Widerstände sind so groß, daß ich starke Zweifel habe, ob Radbruch die Brutalität des Willens aufbringt, um sie zu brechen. Schließlich kann er ja gar nicht tun, was wir in revolutionärem Zugreifen tun könnten: die unbequemen Leute einfach beim Kragen nehmen und rausschmeißen. Er muß den Apparat übernehmen mit allem Gerumpel von ehedem, wie es seine Vorgänger LandsbergOtto Landsberg (1869-1957), sozialdemokratischer Politiker, 1919 Reichsjustizminister. und SchifferEugen Schiffer (1860-1954), Politiker, 1919/20 und 1921 demokratischer Reichsjustizminister. unangetastet gelassen haben.
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(...) Radbruch soll also im Reichstag sehr kräftige Töne gegen Bayern gefunden haben. Er habe verlangt, daß sich die bayerische Justizpflege den Reichsgesetzen anpasse und besonders den Niederschönenfelder Strafvollzug als reichsrechtswidrig angegriffen. Der Reichstag hat darauf – das geht auch aus den Blättern hervor – einen Untersuchungsausschuß beauftragt, die Anstalt hier zu besichtigen. In Bayern soll nun alles aus dem Häuschen sein, wobei originellerweise Mehrheitler und Gewerkschaftler am meisten für uns lärmen. Jedenfalls handelt es sich darum, daß man in Bayern den gesamten reaktionären Apparat, zu dem auch die Regierung selbst gehört, aufgeboten hat, um mit einem Generalangriff gegen Radbruch den Sturz des Kabinetts WirthsJoseph Wirth (1879-1956), linker Zentrumspolitiker, 1921 und 1922 Reichskanzler und Außenminister; begann gegen den heftigen Widerstand der Rechtsparteien mit den Reparationszahlungen (»Erfüllungspolitik«). – und also die Durchkreuzung der Reichs-Erfüllungspolitik zu bewirken. Wir sind wie bei allem nur Mittel zum Zweck und ganz zufällig die Exponenten des gegenwärtigen Konflikts, wodurch sich die plötzliche Sympathie der Bande, die uns selbst in diese Lage gebracht hat und nichts mehr fürchtet, als uns wieder bei sich zu sehen, zwanglos erklärt. In der Politik können die gewaschenen Intriganten so und anders. (Wenn meine Denkschrift,›Das Standrecht in Bayern‹, Berlin 1923. Eine Klageschrift an den Reichsjustizminister und den Reichspräsidenten, betreffend den Verrat bayerischer Politiker (u. a. Müller-Meiningen, Auer und Schneppenhorst) an der Novemberrevolution und der Weimarer Verfassung. Mühsam hoffte mit seiner Denkschrift Prozesse gegen die Beschuldigten auszulösen. die jetzt in der ersten Niederschrift fertig ist, bekannt werden sollte, werden die bayerischen Sozialdemokraten und noch manche anderen Leute ungemütliche Stunden haben.) Wir wissen also heute kaum mehr als vorher. Zenzl telegraphiert mir, daß sie heute früh nach Berlin fahre. Sie soll dort morgen zur Konferenz für die Russenhilfe als Delegierte erscheinen.Zenzl Mühsam betrieb in München eine Nähstube zur Unterstützung der Betroffenen der russischen Hungerkatastrophe von 1921/22. Aber der Hauptgrund ihrer Reise ist sicherlich ein anderer; auch meine geschäftlichen Angelegenheiten, die sie dort erledigen wird, reichen nicht aus, um einen solchen Entschluß zu erklären. Ich vermute bestimmt, daß sie mit Radbruch sprechen und auf ihn einzuwirken suchen wird.
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Ich bin krank: Schwindelanfälle, Brustbeschwerden und noch allerlei, was ich auf meine Herzerweiterung zurückführe. Solange es irgend geht, werde ich dem Körper nicht nachgeben und alle Energie aufwenden, durch möglichstes Ignorieren der Störung, die mir sehr widerwärtig ist, Herr zu werden. Ich habe mich zum Arzt gemeldet – wenn ich auch zu dessen gutem Willen, Festungsgefangenen zu helfen, nicht viel Zutrauen habe. Jedenfalls hört dieser gute Wille da auf, wo die Mittel zur Hilfe von der Strafvollstreckungsbehörde lästig empfunden werden könnten.
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Den armen Radbruch beneide ich nicht um sein Amt. Nachdem er im Reichstag aufgetrumpft hat, er werde Bayern zur Innehaltung der Reichsgesetze zu zwingen wissen, huft er jetzt vor PreyerVermutlich: Schweyer. wieder einmal meilenweit zurück. Der beruft sich – statt auf die Reichsverfassung – jetzt auf Vereinbarungen vom Jahre 1897, wonach Bayern seinen Strafvollzug nach Belieben handhaben könne und »Mängelrügen« vom Reich nicht entgegenzunehmen brauche. Und Radbruch erklärt schon ganz bescheiden, daß ihm Rügen fernliegen und daß er nur um Informationen gebeten habe. Ein interessanter Aufsatz wird aber in der ›Frankfurter Zeitung‹ aus einer Berliner Zeitung der Deutschen Volkspartei zitiert, worin der bayerischen Regierung besorglich geraten wird, nun, wo sie doch nicht mehr sagen könne, der Reichstag vergewaltige Bayern, den Reichstagsausschuß selbst zur Besichtigung von Niederschönenfeld einzuladen. Die hartnäckige Weigerung, unparteiischen Stellen den Einblick zu gestatten, könne sonst leicht ins Gegenteil der in München beabsichtigten Wirkung umschlagen. – Man wird sich hüten. So weit, wie man die Lügenpolitik gegen uns und die Rechtsbeugungen jetzt schon getrieben hat, wäre das Bekanntwerden der Wahrheit die Katastrophe für die bayerischen Justizbehörden. Und das ist das Gute für uns. Der Pessimismus, der sich schon wieder überall im Hause eingenistet hat, findet bei mir keinen Boden. Niederschönenfeld ist heute ein Parolewort für reaktionäre Brutalität in der ganzen zivilisierten Welt. Die Vertuschungen der Regierungen können nur noch auf Details wirksam sein. Daß vertuscht wird, ist nicht mehr zu vertuschen und wird als ungeheurer Skandal empfunden. Es heißt, Niekisch habe eine Broschüre über Niederschönenfeld erscheinen lassen, die großen Absatz finde.Mit Beiträgen von Ernst Nickisch erschien 1920: ›Unserm Kurt Eisner zu Ehren und Gedächtnis‹, zus. gest. v. Wendelin Thomas unter Mithilfe der bayerischen Festungsgefangenen. Mag sich das Gas nur weiterhin im Kessel sammeln. Je länger es dauert, bis die Explosion da ist, um so kräftiger wird sie ausfallen.
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Grauenhafte Weihnachtstage verlebe ich. Das Ärgste, was mir überhaupt widerfahren kann, ist geschehen. Die ›Münchner Post‹ hat einen Artikel gebracht: ›Der Kommunismus der Kommunisten oder Erich Mühsam als praktischer Kommunist‹, in dem Schwabs erster AnschlagDie Kampagne gegen Mühsam begann bereits in Ansbach und ging von der bayerischen KPD aus, die Mühsam und andere Anarchisten des politischen Dilettantismus und des Verrats an der Arbeiterklasse bezichtigte (z. B. Paul Werner, ›Die Bayrische Räte-Republik. Tatsachen und Kritik‹, Leipzig 1920). Die kommunistischen Mithäftlinge mußten sich (oft gegen ihre Überzeugung) von Mühsam distanzieren. Einige von ihnen verbreiteten gezielte Diffamierungen in der Presse (Mühsam habe Spenden unterschlagen und Anhänger gekauft), während Mühsam von den bayerischen Justizbehörden daran gehindert wurde, öffentlich Stellung zu nehmen. abgedruckt wird und mir, Zenzl und Weigel nun ganz unverblümt der tollste Eigennutz auf Kosten der übrigen Gefangenen vorgeworfen wird.
(...) Entsetzlich ist mir das Hineinziehen Zenzls in diesen maßlosen Schmutz. Jetzt bleibt nichts mehr übrig, als öffentlich mit allen Mitteln die Wahrheit zu sagen und auch vor Prozessen nicht zurückzuschrecken. Dazu habe ich mein ganzes Leben für die revolutionäre Sache geopfert, alles preisgegeben, was mir an bequemer Lebensführung geboten war, dafür von allen die an Zeit härteste Strafe auf mich genommen, um nun als Lump und selbstsüchtiger Gauner öffentlich durch den Dreck gezerrt zu werden: Und meine arme, gute Frau mit ihrem ergreifenden Idealismus steht da wie eine Diebin am Gut der Armen. Ich bin sehr, sehr unglücklich und habe nur den Trost, daß meine Freunde hier drinnen entschlossen zu mir stehen und selbst auch noch draußen meine Ehrenrettung energisch betreiben. – Aber es gibt sonderbare Zusammentreffen. Eben beginnt die Presse mit der Veröffentlichung der Auszüge aus der Regierungsdenkschrift gegen uns, die das gleiche Konglomerat von Verleumdungen und Fälschungen zu sein scheint, wie es von dieser Seite zu erwarten war.
(...) In dieser Denkschrift also figuriere auch ich mit einer ganzen Anzahl von Zitaten, die meine revolutionäre Fürchterlichkeit beweisen sollen. Ich kann ja nicht nachprüfen, ob ich all das wirklich geschrieben habe – es scheint aus den mir weggenommenen Tagebüchern zu stammen –, jedenfalls ist nichts darin, was ich als Revolutionär nicht verantworten dürfte. Daß »Rache kalt genossen« werden muß, lernen wir ja täglich hier drinnen von der andern Seite. – Ich wundere mich nur, daß ich für diesen ganz richtigen Gedanken keinen originelleren Ausdruck gefunden haben sollte. Aber man kann Rache ja auch heiß genießen, wie es die Weißgardisten in den Maitagen in München gemacht haben. Wenn ich geschrieben habe, ich will kein Führer, sondern ein Aufwiegler sein, die Führer müßten von ihren Böcken herunter, das Volk gehöre auf den Kutschersitz etc. – so sage ich noch heute bravo! dazu – und wenn ich ferner prophezeie, die nächste Revolution werde furchtbare Formen haben, so zeigt schon das Wort furchtbar, daß mich das nicht im mindesten freut. Aber was die Reaktion heute sät, kann ja nur schauderhaft aufgehen. Dies alles – und auch das Hoelz-Lied – kann und will ich vertreten und kompromittiert mich nicht. Aber im gleichen Augenblick, wo man mich dem erschrockenen Bürger in dieser blutigen Maske zeigt (denn daß die Tagebücher noch allerlei anderes enthalten, woraus man entnehmen könnte, daß ich am Ende kein schlechteres Herz im Leibe habe als andere Leute, verschweigt man natürlich), zerrt man mich von der anderen Seite als Schwindler vor die Öffentlichkeit, und was da von den Kommunisten ausgegangen und von den Sozialdemokraten ans Licht gestellt ist, wird sich die Bürgerpresse natürlich nicht entgehen lassen – und der Revolutionär Mühsam wird als Gauner um jeden Kredit gebracht und sein Radikalismus in dieser Beleuchtung natürlich wenig schön aussehen. So weit ist es jetzt also wirklich mit mir gekommen – weil ich bemüht war, für Rechtsschutz für alle politischen Gefangenen Garantien zu schaffen! – Dabei keine Möglichkeit, die Dinge mit Zenzl ungestört zu besprechen – der Polizeiwachtmeister säße ja zwischen uns und fände jeden dritten Satz beanstandbar –, und so muß es denn wohl getragen werden, und alle meine Hoffnung muß ich auf die Hilfe setzen, die mir von anderen wird, und auf das Vertrauen in meine Ehrlichkeit, das die, die mich wirklich kennen, doch wohl haben. Aber daß die Grauligmacherei der Staatsdenkschrift und die Dreckigmacherei der Kommunisten gegen mich in ihrer Gleichzeitigkeit zufällig seien, das macht mir kein Mensch weis.
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Gestern kam endlich Nachricht von Zenzl, aber erst, nachdem die Zensur nachhaltig und unter Vorlegung von Telegrammen dazu bewogen war, endlich meine Post extra herauszusuchen. Als ich die Briefe hatte – drei auf einmal –, knickte ich erst richtig zusammen und hatte lange zu tun, um die Kraft zum Lesen wiederzugewinnen. Gottlob ist Zenzl stark und tapfer wie immer und hält auch diesen Schlag aus. – Inzwischen tritt deutlich zutage, wie hier drinnen gegen mich gearbeitet wird. Vierzehn kommunistische Genossen hatten an die Münchner Bezirksleitung eine Ehrenerklärung für mich geschickt. Sie ist zu den Akten genommen worden. Eben erhielt ich den Bescheid, daß meine am 27. aufgegebene Erklärung für die ›Welt am Montag‹, die von dort verlangt war, um mir zu helfen, ebenfalls zum Akt genommen wurde, da sie über die persönliche Rechtfertigung hinaus agitatorischen Zwecken dienen soll. Dabei ist die Erklärung absolut sachlich gefaßt. Murböck durfte die Verleumdung gegen mich, die der Zensur als Verleumdung bekannt war, unbeanstandet an die ›Münchner Post‹ und den ›Vorwärts‹ schicken. Mir aber wird die Verteidigung meiner primitivsten Ehre unmöglich gemacht. Es ist für mich jetzt kein Zweifel mehr möglich, daß die Freunde des Duske,Wilhelm Duske (geb. 1883), zwei Jahre Festungshaft. Murböck und die Verwaltung hier zusammenarbeiten, um mich moralisch zu vernichten. Aber ich werde mich wehren. So ekelhaft es mir ist, Beleidigungen vor bürgerlichen Gerichten austragen zu lassen – dieses Mal gibt es keinen anderen Weg. Und ich habe vor, Klage zu stellen gegen Duske, die ›Münchner Post‹ und ein deutschvölkisches Blatt. Man soll vor aller Welt sehn, wer alles gegen mich verbündet ist. – Inzwischen schreit sich die Pressebande die Kehle wund: Ich bin überall der überführte Betrüger. Die guten Genossen hier drinnen tun alles Erdenkliche zu meiner Verteidigung. Auch unten ist man rührig, und ich muß es lächelnd ertragen, daß Tollers unersättliches Reklamebedürfnis sich weidlich an dieser Sache auslebt. – Ich habe eben an WeidnerAlbert Weidner (1871-1948), anarchistischer Publizist, seit 1901 mit Mühsam befreundet; Redakteur der linksliberalen ›Welt am Montag‹, Berlin, in der Mühsam ab 1925 regelmäßig Artikel und Gedichte veröffentlichte. einen Eilbrief (fünf Mark Porto!) abgesandt, in dem ich unter Verzicht auf Details nur die Behauptungen als Verleumdungen bezeichne und mitteile, daß ich Klage stelle. 1921 geht heute vorüber. Ich glaube, in summa war es wohl das ärgste Jahr in meinem nicht eben an argen Jahren armen Leben. Zenzl habe ich im Ganzen zweimal, gleich fünf Stunden, gesehen und unter was für schändlichen Umständen! – Wie wird sich das kommende Jahr zeigen? – Für mich fängt es trübe an, das ist sicher. Aber mein Optimismus ist nicht kleinzukriegen; und im Rheinland streiken die Eisenbahner!