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Endlich ist die Januar-Nummer des ›Kain‹ heraus, und ich habe wieder kurze Zeit Ruhe mit dieser Arbeit. Der ›Komet‹ beansprucht indessen viel von meiner Zeit. Eigentlich wächst mir meine Oaha-TätigkeitAnspielung auf den Dichter Max Bouterweck in Wedekinds Komödie ›Oaha‹ (1908). Wedekind war Mitherausgeber des ›Komet‹ doch schon sehr zum Halse heraus. Andererseits kann ich aber auf die sicheren 200 Mark im Monat absolut nicht verzichten, und der Gedanke, daß die Pleite doch vielleicht in naher Zeit akut sein wird, ängstigt mich beträchtlich. Fuhrmann ist zwar noch gutes Muts. Er behauptet, jetzt eine sichere große Finanzierung in Aussicht zu haben. Aber was sind Aussichten? Mein ganzes Leben hat sich bis jetzt auf Aussichten aufgebaut, und der Ertrag ist minimal bei Licht besehen. Augenblicklich ist's mal wieder die Aussicht auf den Tod des Vaters, die mich beschäftigt. Zwar schreibt Hans, daß die nervöse Depression sich zu legen scheine, aber ein Greis von 73 Jahren, glaube ich, ist dann dem Ende am nächsten, wenn ihn der Lebensmut verläßt. Ich gestehe, daß mich der Anblick jedes Depeschenboten erschreckt. Immer ahne ich das Eintreffen der Nachricht von einer plötzlichen Wendung meiner Geschicke. Es ist sehr schlimm für einen Menschen in meinem Alter, das ganze Dasein auf diese Hilfe von außen aufbauen zu müssen. Aber ich weiß zu genau, daß ich die finanzielle Sicherheit brauche, um Rechtes schaffen zu können. Dieser ewige Kleinkampf denerviert und entkräftet mich ganz. Ich kann mich auch nicht zu dem Bürgerglauben entschließen, daß erst dann eine Persönlichkeit gelte, wenn sie die äußeren Nöte des Lebens selbst überwindet. Nahrung, Kleidung, Wohnung und ein gewisser Luxus der Lebenshaltung muß eo ipso garantiert sein, dann wird ein tüchtiger Geist Tüchtiges zeugen können. Ich bin von alledem noch weit ab. Mein Anzug ist schon ganz schäbig, einen neuen kann ich mir nicht kaufen. Mein Geld ist fast ganz zu Ende, zumal ich heut eine Schusterrechnung von 5 Mark 40 bezahlen mußte. Der Gedanke, wieder fortwährend an allen Kanten herumpumpen zu müssen, quält mich entsetzlich. Dabei noch die ewige WurzereiWurzen – schnorren, anpumpen. von allen Seiten. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht Geld verschenke. Bis auf die Straße verfolgen mich die Leute, die von mir Hilfe aus ihren Nöten ersehnen, und jedesmal wieder verführt mich die Vorstellung, daß es den Armen ja viel schlechter geht als mir, herzugeben und mich dadurch in weitere Ungelegenheiten zu bringen. Johannes, Ella, Lotte, Uli, alle die Leute, die mich mehr angehen, bekommen infolgedessen viel weniger von mir, als ich geben möchte, und der undelikate Brief Fricks an Uli, der wieder aus einzelnen Wendungen im ›Kain-Kalender‹ (›Der kleine Himmel meiner Liebe‹;›Das verbogene Wasserrohr‹) zotige Symbole herausgedeutet hat, tat mir nachhaltig weh, da ich daraus sehe, wie selbst Friedas, meiner einzigen Frieda Zuneigung wankt, wenn mich Geldmangel gegen Peterle unaufmerksam macht. Die 80 Mark monatlich für den ›Kain‹ sind ein höllisches Stück Geld. 40 Mark – eigentlich 43 – für Johannes sind in ihrer Regelmäßigkeit eine schwer drückende Belastung meines Budgets, – und doch nimmt mir keiner diese Lasten ab, hilft mir keiner sie auch nur wenig erleichtern. Gestern traf ich Wolfskehl. Ich erzählte ihm von Johannes' Not und deutete merklich an, daß ich ihn zu ständiger Unterstützung bewegen möchte. Er versprach, mir zu schreiben. Das war alles. Was wird herauskommen dabei? Eine einmalige kleine Summe, die nicht hin und nicht her langt, sicher nichts nachhaltig Wirksames.
(...)
(...) Um zwei Uhr ging ich dann noch in die Blüte, wo der Simplicissimus-Hausball stattfand. Ich kam in eine schon sehr ausgelassene Stimmung hinein. Alle waren schon reichlich angeheitert: Lotte, Uli, Strich, Seewald, Thesing, Kutscher und Frau, Aiwa, Tarrasch, die Kündinger, die reizend aussah (ich habe sie seit Jahren nicht gesehen gehabt), der kleine Hoerschelmann, und dann entdeckte ich Dr. Gotthelf mit seinem Lottchen und meiner Pepi. Man flößte mir sofort von allen Seiten Sekt ein, so daß ich sehr schnell auch in die rechte Karnevalslaune kam und viel Unsinn trieb. Lange hielt die gute Stimmung aber bei mir nicht vor. Zwar küßte ich eine Unmenge Mädchen, aber die, auf deren Küsse ich am meisten Wert gelegt hätte, versagten sich mir. Ich äußerte zu Lotte: »Man darf nicht gleichzeitig einen Bart und Nerven haben.« – Das Puma küßte mich einmal, als sie mich traurig allein fand, verstohlen auf den Mund und sagte: »Du bist mein Freund.« Aber Pepi behandelte mich schlecht. Als ich sie zur Rede stellte, sagte sie einmal: »Als Freund habe ich dich sehr gern, aber verlang nicht mehr von mir.« Es tat weh, aber ich mußte lachen. Auch sie. Sie knutschte mit Strich, Aiwa und dem Einbein Schmidt, der plötzlich wieder aufgetaucht ist. Ich verlegte mich später aufs Beobachten. Es ging in der Tat geradezu bacchantisch her, und ich glaube, wäre ich nicht so unglücklich gewesen, ich hätte sehr glücklich sein können.
(...)
(...) Abends Fest bei Uli: Ich hatte zuerst großen Ärger über Lotte. Sie knutschte mit Cronos auf einem Diwan. Ich wollte ihr guten Abend sagen. Dabei stieß sie mich mit dem Fuß so stark vor die Brust, daß mir fast der Atem ausging. Ich war wütend. Sie kam natürlich gleich an und bat um Verzeihung: Es sei nicht bös gemeint gewesen. Aber mir war – schon durch den heftigen Schmerz, den ich empfand, die Laune verdorben. Uli merkte das und holte von mir den Grund meiner Verstimmung heraus. Sie war unendlich nett dabei, küßte mich sehr herzlich und sagte: »Aber Mühsam, du weißt doch, daß wir dich alle liebhaben.« Dann holte sie Lotte herbei, die mir zum Trost die Zunge, so weit es ging, in den Mund schob. Ich war charakterlos genug, mich dabei wirklich zu beruhigen, und so küßte ich fröhlich weiter: die Kündinger, Emmy, einen homosexuellen jungen Italiener, Strich und sogar die häßliche Frau Kutscher. Schließlich kamen Götzens, und bei Fanny fand ich genug zu tun. Die Frau ist rasend verliebt in mich, »Mach mich nicht toll!« bat sie fortwährend, und als ich sie nachhaltig bat, sie möchte mich doch endlich mal besuchen, sagte sie: »Wenn du willst, daß ich sterben soll, komme ich.« Nachher ging ich mit ihr in den Raum, wo wir die Kleider abgelegt hatten, und im Halbdunkel griff ich ihr unter den Rock und befriedigte sie. Währenddem wurden wir plötzlich durch den kleinen Hoerschelmann unterbrochen, der ein Glas Bowle für Fanny brachte. Zu unserm Schrecken rief er plötzlich noch jemand an, und wir entdeckten, daß direkt neben uns, geradezu unter uns, Cronos gelegen hatte und so tat, als ob er schliefe. Dann krümmte sich noch aus einer Bettstatt, die mit Überziehern bedeckt war, ein Russe empor. Wahrscheinlich hatten die beiden unsere ganz ehebrecherische Tätigkeit beobachtet. Es war sehr unangenehm. Aber sie werden's für Schnapslaune angesehen haben und nicht ahnen, wie tief (nachgerade auch in mir) diese Liebe wurzelt. Mit Luitpold und Stefanie schloß die Orgie.
(...)
(...) Und heute habe ich nun also mein 34. Jahr glücklich hinter mich gebracht. Die WaidmannslusterOnkel Leopold Cohn. und Tante RoselRosalie Weiss, Schwester des Vaters, verheiratet mit Marcus Weiss, Rabbiner in Graz. aus Graz waren gestern schon mit Glückwünschen da, heute nun alle meine Geschwister, außer Joëls. Geschenke stehen mir noch in Aussicht; Hans und Minna wollen wissen, ob ich lieber Hemden oder Unterhosen haben will. Da ich Unterhosen überhaupt nie trage, werde ich Hemden wählen. Charlotte stellt eine Tasse, Ostereier und einen Aschbecher in Aussicht als gemeinsames Präsent von Joëls und Landaus. Schön. – Von Papa kam ein ausführlicher Brief, dem zehn Mark beigeschlossen waren. Der Inhalt ergriff mich einigermaßen. Er schreibt ausführlich über seinen Gesundheitszustand und berichtet, daß es ihm erheblich besser gehe als in den letzten drei Monaten. Dann heißt es wörtlich: »Viel wird ja nicht mehr werden. Der Knax, den ich weg habe, wird sich kaum mehr reparieren lassen.« Die erste Empfindung, in diesen Worten solle wieder ein Vorwurf gegen mich liegen, wird wohl falsch sein. Er wird es wohl ganz unpolitisch meinen – hoffe ich. Aber seine Glückwünsche für das neue Lebensjahr erbittern mich doch wieder recht. Könnte er nicht dafür sorgen, daß mein Leben glücklicher und meine Arbeit zweckmäßiger und erfolgreicher wäre? Zehn Mark – ein Millionär! – Aber andererseits: Kennte er meine Empfindungen, er wäre unfähig, sie zu begreifen. Er lebt in einer anderen Welt, weil er in einer anderen Zeit lebt. Mittags waren Uli und Seewald bei mir. Sie schenkten mir Zigarren. Lotte und Emmy gratulierten mir im Caféhause, in dem ich den ganzen Nachmittag von drei bis acht Uhr stumpfsinnig zugebracht habe. So fange ich das neue Lebensjahr an, und bei Gott mit wenig Hoffnungen. Der ›Komet‹ ist hin – man muß es jetzt wohl sicher annehmen – es sieht trübe aus.
34 Jahre! Du lieber Himmel! Was habe ich erreicht? Wie kläglich wenig! Immer noch das dürftige möblierte Zimmer. Immer noch von Monat zu Monat die Angst, die Rechnung nicht zahlen zu können. Und schon wieder die völlige Entkleidung aller Sicherheit im Geldverdienen. – Und der Ruhm? Du lieber Himmel! Was tue ich mit dem bißchen Berühmtheit? Mit dem Angeglotztwerden? Mit den Komplimentationen? Wer kennt meine Lyrik? Wer führt meine Dramen auf? Wieviele Leute lesen auch nur den ›Kain‹, der noch mein einziger Trost ist? – Und die Liebe? Schweigen will ich, erröten, mich schämen, und ihrer denken, der Einzigen, die ich verlor, weil ich's nicht wert war, sie mir zu erhalten. Friedel, Friedel! Mit dem Gedanken an Dich beginne ich dies neue Jahr. Mit dem Gedanken an Dich werde ich dies Jahr wie alle ferneren dieses Lebens beschließen – und ewig unglücklich sein.
(...) Seit längerer Zeit interessierte mich im Café Stefanie ein sehr anmutiges Geschöpf: groß, mit den hochgezogenen Schultern, die ich so sehr liebe, schlank, blond, blauäugig und in der Kleidung von jener gelinden Schlampigkeit, auf die ich immer wieder hineinfalle. Keiner wußte ihren Namen, man sagte mir nur, daß sie in der Pension Führmann wohne. So sah ich sie denn auch bald mit Leuten meiner entfernteren Bekanntschaft und beschloß, ihr unter allen Umständen persönlich näherzutreten. Ich fing das so an wie immer: Ich grüßte sie und erreichte in kurzer Zeit, daß sie mich, wenn ich sie mal übersah, zuerst begrüßte. Ich wollte nun einmal eine Gelegenheit abwarten, wo ich sie allein anträfe und sie dann anreden, da ich sie nun aber vor einigen Tagen in der Gesellschaft von Morax sah, setzte ich mich einfach dazu. Sie war sehr nett. Es stellte sich aber heraus, daß sie nicht nur verheiratet ist, was ja nicht unbedingt hätte zu stören brauchen, sondern in zwei Monaten ihrer Entbindung entgegensieht. Ich hatte nichts bemerkt. Ihr Mann ist ein ganz junger Bursche namens Jung,Franz Jung (1888-1963), Schriftsteller, nach expressionistischen Anfängen Wegbereiter einer linken Avantgardeliteratur, damals verheiratet mit Margot Jung. die Ehe dauert bis jetzt zwei Jahre, und ein einjähriges Kind ist schon da.
(...) Ich bin in die Jung, trotz ihrer Schwangerschaft, einigermaßen verliebt, was ich ihr auch gestand. Ich fragte sie, ob sie ihren Mann prinzipiell nicht betrüge. Sie erklärte, darin keinerlei Prinzipien zu haben. Als ich ihr dann sagte: »Legen Sie nur erst Ihr Kind ab, nachher fange ich sofort mit Ihnen an«, lachte sie und sagte weder ja noch nein. Übrigens scheint in ihr die Schwangerschaft einen Zustand absoluter Wurschtigkeit hervorzurufen. Sie sitzt manchmal ganz apathisch da, plötzlich klagt sie über große Schmerzen und spricht Befürchtungen für den Verlauf der Entbindung aus. Dann macht sie wieder märchenhafte Dummheiten. Das Ehepaar hat gar kein Geld (ich habe aus meinem Dalles schon mit fünf Mark ausgeholfen). Neulich waren aber etwa zehn Mark da, die sie in Verwahrung hatte. Sie ging fort und kaufte ein silbernes Portemonnaie und noch sonst soviel Kleinigkeiten, die gar keinen Zweck haben, daß sie in den neuen Geldbehälter nichts mehr hineinzustecken hatte. Der Jüngling, der ihr Ehemann ist, scheint Alkoholiker zu sein. Er sagte nur: »Du bist ja verrückt«, als sie mit den Klamotten anrückte. Ein komisches Paar.
(...)
(...) Im Stefanie saß die junge schwangere Frau, und – ich weiß nicht, wie es kam – plötzlich war sie dabei, mir ihr Herz auszuschütten. Sie klagte sehr über ihren Mann, der alles Geld versaufe und sich überhaupt nicht um sie kümmere. Sie wolle, wenn sie nur das Geld auftreibe, nach Hause, nach Breslau, und sich dann von Jung trennen. Große Tränen standen in ihren Augen, ich hatte das arme Weib wirklich gern, und ich glaube sehr – zumal nach dem Gespräch, das wir heute im Café führten, daß die Freundschaft, die sich da anknüpft, für uns beide ernst werden kann.
Abends war dann die von Morax arrangierte Cabaret-Unterhaltung, Der grüne Teufel, in der Schillerstraße. Es war überraschend hübsch. Viele Leute, meistens Bekannte, die mit Tee bewirtet wurden. Morax trug vor, Emmy, dann auch Hardekopf, zuerst eine eigene Skizze, sehr fein, prononciert, stark im Ausdruck und ausgezeichnet mit Leidenschaft und Kraft gesprochen – es ist erstaunlich, wie dieser Mensch sich ganz langsam und ganz sicher zum echten Künstler entwickelt. Dann las er aus dem ›Sturm‹ ein Manifest von MarinettiFilippo Tommaso Marinetti (1876-1944), italienischer Schriftsteller und Hauptvertreter des Futurismus, ›Technisches Manifest der futuristischen Literatur‹ in: ›Der Sturm‹ 1912, S. 194 f. vor, der den literarischen Futurismus propagiert. Ich war über das Zeug (das brillant stilisiert war) so ungehalten, daß ich das Wort zu einer Polemik erbat, und nun trug sich der merkwürdige Fall zu, daß das Cabaret zur Tribüne wurde. Ich wehrte mich dagegen, daß man das Grammophon höher werten sollte als den Gesang, den Kientopp höher als das Theater. Ich predigte Kultur und Kunst anstatt Zivilisation und Technik und schloß mit dem Wunsch, daß
Den Schlußsatz mußte ich bis heute zurückstellen, weil Dr. Emma Geliert kam, mit der ich mich sogleich nackt ins Bett legte. Ich schloß also in jener Rede mit dem Wunsche, daß die von den literarischen Futuristen glorifizierte Rapidität der Dinge zunächst mal über den literarischen Futurismus hinwegfegen möge. Ich hatte mächtigen Beifall, nur Emmy schrie: »Hier ist doch keine Versammlung!« worauf ich replizierte: »Jede Versammlung ist ein Cabaret.«
Nachher trug ich noch Gedichte vor. Es war ein schöner Abend, und, was ich seit vielen Jahren nicht mitmachte, ein echter Cabaret-Abend, bei dem das leichte Chanson, das ernste Lied, die schöne Kunst und die improvisierte Ansprache zum Recht kam. – Nachher hielt ich mich nicht lange in der Torggelstube auf, da dort wenig los war, sondern kehrte bald wieder im Stefanie ein, wo ich viele Cabaretisten versammelt fand. Hardy grüßt mich immer noch nicht. Es ist zu dumm, zu geschmacklos, wenn ich bedenke, daß wir in den Tiefen unseres Herzens ja doch noch gute, echte Freunde sind.
Gestern nachmittag hatte ich nun eine sehr ernste eindringliche Aussprache mit Frau Jung, von der ich merkwürdigerweise immer noch nicht sicher weiß, ob sie Marie heißt oder sonstwie, da ich die Gewohnheit habe, jede Frau willkürlich mit irgendeinem Vornamen anzusprechen, was dann zur Folge hat, daß mich die Weiber mit falschen Namensangaben frotzeln. – Sie beschwerte sich bitter über ihren Gatten, der in der Gesellschaft des üblen Fritz Klein und anderer haltloser Gesellen tagaus, nachtein bummle und sich um sie überhaupt nicht kümmere. Sie gestand mir die Befürchtung, daß das Kind in ihrem Leibe absterbe und daß sie jeden Augenblick das Eintreten der Wehen und das Akutwerden der Fehlgeburt erwarte. Ich gab ihr drei Mark, damit sie für alle Fälle ein Auto bezahlen könne, und stellte mich ihr ganz und gar zur Verfügung, wenn sie plötzlich Hilfe brauche. Heut sah ich sie noch nicht und weiß nicht, was aus der Geschichte geworden ist. Die enge Vertrautheit, in die ich mit der reizenden Person inzwischen gekommen bin, läßt mich mit einiger Zuversicht darauf schließen, daß sie gewillt ist, sobald sie physisch dazu imstande ist, mich enger an sich zu fesseln.
(...)
(...) Abends Krokodil: Kutscher, Huch,Friedrich Huch (1873-1913), nachnaturalistischer Erzähler, Vetter von Ricarda Huch. Dülberg,Franz Dülberg (1873-1934), Schriftsteller und Übersetzer. Happe, v. Jacobi,Bernhard von Jacobi (1880-1914), Münchner Hofschauspieler. Halbe, Wedekind, Weisgerber. Weisgerber berichtete über eine höchst gefahrvolle Skitour, die er gemacht hat, in der er schneeblind wurde und um ein Haar verunglückt wäre. Im übrigen wurde immer noch die Titanic-KatastropheUntergang der Titanic am 14. April 1912; Glosse in ›Kain‹, Mai 1912. besprochen, von der die Menschen gar nicht loskommen können. Ich werde meine Ansichten darüber im ›Kain‹ deponieren. – Um halb zwei gingen noch Wedekind, v. Jacobi, Halbe und ich in die Torggelstube, wo das Thema erörtert wurde: Welchen Schaden erleiden die Theater durch das Kino? Jacobi hält den Schaden für unermeßlich. Wedekind und ich behaupteten, der Schaden treffe das ernste Theater gar nicht, sowenig wie die Malerei von der Photographie gelitten habe, da sie sich eben entgegengesetzt der Ähnlichkeitsporträtierung entwickelt habe, und Halbe hielt sich mit seinem Urteil ziemlich zwischen den beiden Ansichten. Dann kam das Gespräch auch auf Thomas Manns Eintritt in den Zensurbeirat,Thomas Mann war 1912 für kurze Zeit dem Münchner Zensurbeirat beigetreten, um auf die kunstfeindliche Zensurtätigkeit der bayerischen Polizei einwirken zu können. den wir gleichmäßig alle verurteilten. Ich werde auch diesen Fall im nächsten ›Kain‹-Heft vornehmen. Halbe brachte mich per Auto heim.
(...) Und heute ist nun der gefürchtete 1. Mai. Es ergibt sich, nachdem ich heut vom Dreimasken-Verlag die fälligen 50 Mark erhielt, diese Rechnung:
Ich erhalte von Waidmannslust | 180 Mk. |
(5 Mk nachträgliches Geburtstagsgeschenk, habe noch | 50 Mk. |
und werde mir von der Staatsbibliothek die dort seinerzeit deponierten 20 Mk. wieder abheben. | 20 Mk |
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250 Mk. | |
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Ich muß zahlen: Hier in der Pension ungefähr | 150 Mk. |
An Johannes schicken | 42 Mk. |
Cafe Stefanie (Wallner und Kellner) | 16 Mk. |
Marie (Torggelstube) | 10 Mk. |
Mariechens Schuhe | 25 Mk. |
Neuer VereinMünchner Theaterverein, der gegründet wurde, um die Aufführung verbotener Theaterstücke in geschlossener Vorstellung zu ermöglichen. | 5 Mk. |
Zigarrenfrau | 6 Mk. |
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Das macht, wenn ich nichts Wichtiges noch vergessen habe | 254 Mk. |
Bleibt ein Barbestand von minus vier Mark, woraus erhellt, daß ich meine Schulden nur mit Maßen zahlen werde. Aber es sieht nicht ganz so schlimm aus, wie ich gefürchtet hatte. Ich hoffe bloß, daß sich Führmann vorläufig nicht meldet, und daß für Mariechen nicht gleich wieder größere Ausgaben notwendig werden. Heute erzählte mir der Gatte, daß Führmann ihn schon aus der Pension ausgesperrt habe. Ich werde Mariechen, sobald ich sie allein sprechen kann, jedenfalls vorschlagen, vorläufig auf meine Kosten in meiner Pension zu wohnen.
(...)
Meine Nerven sind fürchterlich kaputt. Mariechens Verhalten regt mich entsetzlich auf. Ich sitze jeden Moment in Erwartung des Telefonanrufs und weiß doch fast sicher, daß er nicht erfolgen wird. Daß ich doch mein ganzes Leben zu schlechter Behandlung verurteilt sein muß. Die einzige Erklärung, die ich mir denken kann, ist die, daß sie wohl sexuell wieder intakt ist und nun von dem Manne, der sie unglücklich macht und prügelt, nicht los kann. Wollte sie mir bloß ein Wort schreiben, daß ich Gewißheit habe! Wie konnte ich mich nur wieder so in dieses Erlebnis verlieren! Ich bin jetzt ganz unfähig zu arbeiten und zu allem. Fortwährend bin ich benommen von dem Gedanken an sie.
(...)
Von Mariechen nichts Neues. Aber in Kopf und Herzen wird sie mir noch lange zusetzen. Endlich einmal die Aussicht auf eine Art Ehe – und wieder nichts, nichts, nichts. Ob ich gar so reizlos bin? Kürzlich fielen mir die Zeitungsausschnitte wieder in die Hände aus der Zeit des Prozesses. Ich wurde überall schamlos beschimpft, überall war auch mein »groteskes Äußeres« hervorgehoben. Und doch haben mich ja manche Frauen – und wahrlich nicht die schlechtesten – schon gern, sehr gern gehabt. Ein Mensch, den Frieda geliebt hat, kann doch unmöglich gar so häßlich sein!
(...) Gestern abend ging's in der Torggelstube dramatisch zu.
(...) Während des Spiels erschien in der Tür die abgeschabte Gestalt des jungen van Hoddis,Jacob van Hoddis (1887-1942), expressionistischer Lyriker, berühmt wurde sein Gedicht ›Weltende‹ (ersch. 1911). trotz der Hitze in einen dicken uralten Überzieher gehüllt. Kaum war er eingetreten, als vom Stammtisch her gerufen wurde: »Raus! Raus!« und als der junge Mensch etwas erwiderte: »Raus! Hier wird nicht gebettelt!« – Ich fuhr dazwischen und verbat die Roheiten, gab van Hoddis die Hand und bat ihn an unseren Tisch. Er zog es aber vor zu gehen, nachdem er mir gedankt hatte. Als später Grimm an unseren Tisch kam, der neben Lutz der Schreier gewesen war, verweigerte ich ihm die Hand und erklärte ihm, daß zwischen uns keine Beziehungen mehr sein können. Als er heute nachmittag mich im Hofgarten noch mal deswegen stellte, wiederholte ich ihm, daß ich mit Leuten nichts zu tun haben will, die sich derartig abgeschmackter Roheiten schuldig machen. Dem Stammtisch wird es jetzt obliegen, sich für Herrn Grimm oder für mich zu entscheiden. Ich denke, man wird nicht lange wählen. Die Gegenwart dieses anschmeißerischen Sektreisenden ist schon lange den meisten widerlich gewesen.
Oh, ich Narr! Ich Kind! Ich Phantast! – Da nehme ich nun die Feder in die Hand, die vor Freuden zittert, und wie ich schreiben will, frage ich mich, ob ich mich denn so ausbündig freuen darf. Was ist denn geschehen, das mir diesen Tag wie den Geburtstag meines Glücks scheinen läßt? Nichts, als daß ich Mariechen wiedersah und daß sie zu mir war wie immer und die Versprechen erneuerte, die sie schon halb gebrochen hatte. Weiß ich, wie lange ihr Entschluß vorhält? Aber ja! Er wird vorhalten. So, wie sie heute zu mir sprach, so lügt man nicht. Ich kam vom Hofgarten aus ins Stefanie. Da saß sie mit ihrem Mann, Morax, Ida, Nitschke usw. Sie begrüßte mich freundlich lachend, und sah in einem rosa Sommerkleid so süß aus, daß ich, selbst wäre ich böse gewesen, ihr nicht hätte zürnen können. Und dann sprachen wir viel und eingehend. Ihr Verhalten in diesen Tagen schob sie auf große Müdigkeit und Apathie. Auf meine Frage, ob sie an unseren Abmachungen festhalte, antwortete sie sehr lebhaft: ja! – Sie will bloß erst – recht bald – nach Breslau, und wenn sie von dort zurückkommt, dann will sie dauernd bei mir sein. Ich sagte ihr, daß ich mich keiner Illusion hingebe und voraussetze, daß sie mich nicht liebe. Sie sagte: »Was heißt lieben? Das ist so vorbei bei mir! Wenn ich nur jemand hab, mit dem ich mich verstehe und vertrage!« – Wir verabredeten uns für heute abend bei Führmann und für morgen vormittag um elf Uhr bei mir. Dann wollen wir Einkäufe machen. Ich ging nachher vom Schachspielen aus mit Roda und wollte zur Pension Führmann. Als ich durch die Herzogstraße kam und beim Pündterplatz war, sah ich dahinter die Wiesen, von der Silhouette des Schwabinger Krankenhauses wundervoll eingerahmt, und bog über den Platz zur Clemensstraße ab: Vor einem Hause am Pündterplatz hielt mich plötzlich der Ehemann Jung an. Er habe eben in der Pension einen Zettel für mich deponiert, daß Mariechen mich morgen um elf Uhr im Stefanie treffen wolle. Sie habe sich zu Bett gelegt. Er erzählte, daß sie jetzt Pündterplatz 8 wohnen und forderte mich auf, noch etwas hinaufzukommen. Mariechen lag im Bett und sah ganz entzückend aus. Leider ließ uns der Mann fast gar nicht allein. Nur einmal konnte ich ihr verstohlen einen Kuß auf die Backe geben. – Nun bin ich ganz glücklich heimgegangen, und mein Herz ist ganz voll von der lieben, lieben Frau. Ach, ich weiß, daß wir glücklich miteinander auskommen werden. Sie hat viel gelitten, viel zu viel für ihre jungen Jahre. Da gibt es manches zu glätten und zu beruhigen, und das ist eine gute Aufgabe für mich. – Mariechen! Daß sie nur morgen wirklich kommt! Aber diesmal glaube ich's doch! Zumal ich ihr eine neue Kopfbedeckung versprochen habe.
(...)
Es ist wieder genug zu notieren von den zwei unausgefüllten Tagen. Zunächst zum Kapitel Margot Jung. Am Freitag rief sie vormittags an, sie erwarte mich im Stefanie. Sie war dort mit ihrem Mann. Dem gab ich drei Mark, damit er dafür Mariechens Mantel aus dem Leihhaus hole, denn es war kalt und regnete. Als er zurückkam, ging ich mit ihr fort, einen Hut kaufen. Wir fanden einen so billigen, daß sie gleich zwei von der Sorte erstehen wollte. Davon brachte ich sie aber ab, und wie recht ich hatte, merkte ich nachher auf der Straße, als sie plötzlich zu jammern anfing, dieser Hut gefalle ihr gar nicht. Sie wolle einen anderen haben. Also richtig wurde in einem anderen Geschäft noch ein Hut für zehn Mark gekauft, den sie gleich aufsetzte und über den sie sich anscheinend freute. Aber die arme Frau muß schon sehr unglücklich sein, da sie fortwährend neue Sachen wünscht und sich nie richtig freuen kann, wenn sie sie hat. Wir kauften noch Strümpfe für sie und verabredeten uns für den Nachmittag im Café. Dort war sie auch, nahm mir aber übel, daß ich anfing, mit Morax Schach zu spielen, und ging mit dem Versprechen, in einer Viertelstunde wiederzukommen. Natürlich kam sie nicht und blieb auch gestern unsichtbar. Heut war sie wieder im Café. Es war wunderschönes Wetter. Ich forderte sie auf, mit mir in den Hofgarten zu kommen. Sie wollte nicht. Ich ärgerte mich und ging allein. Als es mir, sehr bald, leid tat und ich zurückkam, war sie fort.
Freitagabend abonnierten zwei Herrn auf den ›Kain‹, die mir das Geld gleich gaben. Leider verspielte ich das Ganze abends in der Torggelstube in Écarté, so daß ich fast nichts übrig behielt.
Gestern kam mittags ein junges Mädchen zu mir, eine hübsche Jüdin, namens Jenny BrünnJenny Brünn (1892-1928), studierte Nationalökonomie. Die Heirat mit Mühsam scheiterte am Einspruch ihrer Eltern. aus Königsberg. Sie interessiert sich für den Sozialistischen Bund, und ich begleitete sie nachher in die Barerstraße. Sie soll, da wir demnächst wieder eine Zusammenkunft veranstalten wollen, eingeladen werden.
(...)
(...) Mit Mariechen beabsichtige ich Schluß zu machen. Es handelt sich nur noch darum, die richtige Methode zu finden, die sie möglichst wenig verletzt. Ich habe gestern plötzlich eingesehen, daß es absolut nicht gehen kann mit uns beiden.
Abends war im Gambrinus Gruppensitzung. Jenny Brünn holte mich dazu ab. Zu meinem Schrecken hatte Morax allerlei peinliche Gestalten aus dem Café Stefanie und der Pension Führmann mitgebracht. Fritz Klein mit seinen proletarischen Gebaren saß da, ein Student, der in die Gesellschaft da geraten ist und Herr Franz Jung mit Frau Margot. Ich ärgerte mich sehr über Morax. Man muß doch wissen, welche Leute zusammengehören und welche nicht. Ich hüte mich vor philiströser Versumpfung, indem ich mit möglichst vielen verschiedenen Kreisen umgehe und indem ich diese Kreise scharf voneinander getrennt halte. Da habe ich die Anarchisten, da das Café Stefanie, da die Torggelstube und da den Lotte-Uli-Kreis, lauter ganz verschieden interessierte Menschen, die gar nichts miteinander zu schaffen haben. Nun kommen Leute wie Klein und Jung in die Gruppe, innerlich verwahrloste Menschen, zu solchen, für die innerliche Festigkeit gerade das Lebensbedürfnis ist, das sie zu uns führt. Frl. Brünn machte mich darauf aufmerksam, wie an einem Tisch (Klein) von Leihhaus und Geldbeschaffung gesprochen wurde, am anderen, wo nur Arbeiter saßen, von Kropotkin.Pjotr A. Kropotkin (1842-1921), russ. Geograph, Theoretiker des kommunistischen Anarchismus. Sein Hauptwerk ›Gegenseitige Hilfe in der Menschen- und Tierwelt‹ entwarf die Utopie eines klassen- und staatenlosen – und folglich friedlichen – Gemeinwesens. Vgl. Eintragung vom 7. April 1922.
Ich schämte mich vor ihr. Mariechen saß ganz uninteressiert da und bemühte sich, den Ehemann von allzu reichlichem Biergenuß fernzuhalten. Ich sprach dann und redete mich in Wut hinein, daß bei all unsern Bemühungen so gar nichts herauskomme. Die Gäste hatten mir die Laune gründlich verdorben. Nachher wurde Mariechen hysterisch und goß ihrem Vis-à-vis ein Glas Wasser über die Hosen. Ich sah sie an und wußte, daß es aus sein müsse zwischen uns. Gewiß sah sie hübsch aus, aber ich bemerkte einen Zug von Gewöhnlichkeit in ihrem Gesicht, der mir bisher entgangen war, und ich verglich: Neben mir saß die feine, zarte Jüdin mit sehr schönen Händen und tiefen braunen Idealisten-Augen. Ich bin keineswegs in Jenny Brünn verliebt, aber ich spürte, tiefe nachhaltige Sympathie kann ich nur für differenzierte Frauen hegen.
(...)
Ich bin außer mir: Onkel Leopold hat noch immer kein Geld geschickt. Offenbar will er mich dafür strafen, daß ich ihm die Quittungen des vorigen Monats zu spät gesandt habe. Es ist scheußlich. Gott sei Dank gewann ich gestern nacht Weigert im Écarté zwanzig Mark ab, von denen er mir leider zunächst bloß fünf Mark auszahlte. Immerhin komme ich auf diese Weise über diesen Tag wieder weg. Kommt das Geld bis morgen früh nicht an, so muß ich telegrafieren. Aber Johannes wartet, Mariechen wartet – Gotthelf, der mir 100 Mark bis Sonnabend beschaffen wollte, kann ich nirgends finden. Der Dreimasken-Verlag ist ganz unsicher. Soll ich da wieder stundenlang im Wartezimmer sitzen und mich minderwertig behandeln lassen? – Und der ›Simplicissimus‹? Ich scheue mich hinzugehen. Bald halte ich die Schweinerei nicht mehr aus! Immer wieder kommt mir der trostlose Gedanke, daß ich vielleicht doch eher dran glauben muß als der Vater – und dann ist alle meine Arbeit, alle meine Jugend, alle meine Hoffnung und Leidenschaft vertan. Der Gedanke ist entsetzlich.
(...)
(...) Heut mittag war Jenny Brünn bei mir zu Tisch. Wir unterhielten uns so gut, daß sie den ganzen Nachmittag dablieb und ich sie erst nach sieben Uhr zum Schauspielhause begleitete. Ein prächtiges Geschöpf, sehr klug, sehr gebildet, sehr tief im Fühlen und Empfinden – und Anarchistin. Dabei noch hübsch. Sie erzählte mir von ihrer Jugend und ihrem Elternhaus. Ihr Vater ist ein reicher jüdischer Bankier in Eydtkuhnen. Als sie berichtete, sie habe Verdruß, weil die Eltern sie an irgendeinen gleichgiltigen Juden verheiraten wollen, schlug ich ihr ganz spontan vor, mich zu heiraten. Wir lachten beide. Aber ich stelle mir vor, daß das für uns beide nicht schlecht wäre. Mein Vater wäre begeistert, brächte ich ihm eine reiche jüdische Schwiegertochter, und wir beide behielten unsere Freiheit. Wenn sie wollte, mir war's lieb. Sie gefällt mir so gut wie (außer Ella Barth) noch keine Jüdin. Ich küßte ihr oft die Hände und ein paarmal das sehr schöne kastanienbraune Haar. Gute Freunde sind wir heute mindestens geworden.
(...) Gestern abend war die Gruppe Tat wieder im Gambrinus versammelt. Ich hatte Jenny Brünn vorher zu mir zum Abendessen abgeholt, und sie ließ einen Schweizer Herrn, der mit ihr hinwollte, zu mir nachkommen. Gespräche über Monogamie und Eifersucht. Sie ist sehr klug und frei. Die Syndikalisten,Anarchistische Gewerkschaftsbewegung, die auf Proudhon zurückgeht und in Deutschland erst Anfang der zwanziger Jahre vorübergehend an Bedeutung gewann. Die Revolution sollte in ›direkter Aktion‹ (ohne politische Ideologie) erfolgen und den Staat durch die föderalistische Selbstverwaltung der Produzenten ersetzen. Mühsam kritisierte am Syndikalismus das ›Abwarten‹ und versuchte ›Sehnsucht, Leidenschaft, Empörung‹ zu entfachen. denen ich einen Vortrag halten sollte, waren nicht erschienen, da sie selbst eine Aussprache hatten. Dagegen war Emmy da, die eben von Berlin zurück ist. Wir küßten uns herzlich, und ich freute mich sehr, sie äußerst frisch, wohl und gesund zu sehen. – Ich sprach zu dem Dutzend Personen von den Voraussetzungen zur Zugehörigkeit zum Sozialistischen Bund, vor allem darüber, daß alles dabei auf das Innerliche im Menschen ankommt und alles praktische Tun keinen Sinn habe, wenn es nicht aus begeistertem Herzen komme. – Nachher ging ich mit Jenny Brünn in die Torggelstube. Sie lernte Roda Roda und Ludwig ThomaLudwig Thoma (1867-1921), bayerischer Erzähler, Dramatiker, Lyriker. Mitarbeit bei ›Jugend‹ und ›Simplicissimus‹. kennen. Auch FeuchtwangerLion Feuchtwanger (1884-1958), Schriftsteller, häufig zu Gast in der Torggelstube. war da und KörtingBerthold Körting (gest. 1930), Münchner Maler. mit seinem bezaubernden Weibe. – Wir fuhren alle zusammen im Auto heim, und ich ging noch ins Stefanie.
(...)
(...) Heut früh war ich beim ›Simplicissimus‹, wo ich lange mit Olaf GulbranssonOlaf Gulbransson (1873-1958), norwegischer Zeichner, ab 1902 Mitarbeiter des ›Simplicissimus‹. sprach. Nachher wurde Thoma sichtbar und dann Geheeb, der mir Zeichnungen zum Textieren heraussuchte, darunter ein prachtvolles Revolutionsbild von Th. Th. Heine.Thomas Theodor Heine (1867-1948), Zeichner und Illustrator, langjähriger Mitarbeiter und Mitherausgeber des ›Simplicissimus‹. Vgl. Eintragung vom 3. 10. 1910. Ich bin neugierig, wie man mir meine Arbeit bezahlen wird.
Von Hans sind die angekündigten 100 Mark noch nicht eingetroffen, dagegen von Onkel Leopold eine Karte mit der Mitteilung, daß ich die Ärzterechnungen an ihn schicken darf. – Ferner kam ein sehr merkwürdiger Brief. Frieda König, die mich seit zwei Jahren fortwährend ihrer glühenden Liebe versichert, tobt in kindlichen Versen gegen mich los. »An Erich Mühsam! Geschrieben von dir vernichteten Mädchen.« In ganz unausgeschriebenen Lettern und in sehr dürftiger Orthographie und Grammatik macht sie ganz wilde leidenschaftliche und haßerfüllte, nicht immer ganz rhythmische Verse gegen mich. Erst beschreibt sie, wie sie mich als unerfahrenes Mädchen zuerst sah: »Du warst ein häßlich Geselle –« folgt meine Beschreibung frei nach dem Dichter Rigo in meiner Novelle ›Carmen‹.In: »Kain-Kalender 1913« Wie ich sie dann verführte: »Hier kan ich meine Wohllust stiellen.« Und dann wütende Anfälle gegen mich, der ich ihr »das Teuerste mit List geraubt«. »Erich, elender Jude,« »Erich, Scheußsal könnt ich dich erwürgen –« – »Erich du elender Wicht« – und das Gedicht schließt mit dem freundlichen Wunsch: »Erich diese Zeilen sollen dich quällen Tag und Nacht. Vielleicht kann ich mich doch noch rächen«. Ich war, als ich das gelesen hatte, zuerst ganz konsterniert. Habe ich dem Mädchen wirklich so unrecht getan? Vor ganz kurzer Zeit war sie noch bei mir und versicherte mich ihrer leidenschaftlichen Liebe. Seit ich ihr die Virginität nahm, hat sie soundsoviele Verhältnisse gehabt und dabei, wie sie behauptete, immer nur mich geliebt. Und jetzt plötzlich dieser Abfall! »Ich war verstock und begegnet dir nur mit Falschheit« behauptet sie plötzlich. Ich weiß nicht, was ich davon denken soll. Ich beruhige mich an der Zeile: »Du hast mir das Teuerste mit List geraubt«. Daß einem Mädel die Jungfernschaft noch zwei Jahre nach ihrem Verlust als »das Teuerste« erscheinen sollte, ist einfach nicht wahr, ist Phrase und anerzogene Moralität. Damit habe ich nichts zu schaffen. Ich mag sehr roh sein, aber ich weiß wahrlich andere Dinge, die mich »Tag und Nacht quällen«, als dieser Erguß. Schwamm drüber. Der Brief fliegt in den Papierkorb. Das Mädel wird nicht mehr empfangen.
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Auf dem Wege zur Torggelstube ging ich gestern noch ins Café Odeon, wo ich Heinrich Mann und Dr. Brantl traf. Man sagte mir große Schmeicheleien über die letzte ›Kain‹-Nummer, die allgemein sehr gefallen hat, und meinte: »Sie haben jetzt die wertvollste Zeitschrift, die existiert.« Das aus dem Munde des bedeutendsten Mannes zu hören, der gegenwärtig im geistigen Deutschland wirkt, ist recht angenehm. Er lobte besonders meinen kurzen Strindberg-Nekrolog. Nachher lange Gespräche über Frauenliebe, Eifersucht und Beziehung der Geschlechter zueinander, wobei ich gegen die beiden Herren einen harten Stand hatte.
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(...) Nun sprach ich gestern mit Steinebach über die Aussichten des ›Kain‹; und erfuhr, daß ich die Zahl der Abnehmer weit überschätzt habe. Es sind erst ganze 89 Abonnenten da, und mit dem Einzelverkauf gehen nur etwa 400 Exemplare unter die Leute. Das ist wirklich verzweifelt wenig. Ich war ganz geknickt gestern abend, zumal ich auch den ganzen Tag Jenny nicht sah, die auch heute wieder nicht ins Café kam. Dabei geht's mir gesundheitlich immer noch nicht gut. Ich bin sehr verschleimt und spüre in Hals und Nase immer einen störenden säuerlichen Geruch, der mich entsetzlich verstimmt, da er mich immer fürchten läßt, ich müsse dadurch erotisch unmöglich sein. Wenn ich bloß einen Arzt wüßte, der ein wenig mit solchen Dingen Bescheid weiß. Die Leute plagen einen nur, ohne zu helfen und ohne Ahnung, was für ein Phänomen sie vor sich haben. Exakte Wissenschaft!
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Ich ging ins Café und wartete auf Jenny, die kurz nach ein Uhr kommen wollte. Ich wartete bis nach halb zwei. Sie kam nicht. Ich war maßlos nervös, ließ ihr Bescheid zurück und lief nach Hause, um den Boten der Druckerei nicht zu verfehlen. Natürlich hing ich den Kopf aufgeregt zum Fenster hinaus, immer in der Hoffnung, das geliebte Mädchen werde noch kommen. Sie kam wirklich – nach wenigen Minuten: nur auf einen Sprung, wie sie verkündete. Nicht einmal den Hut wollte sie abnehmen. Gegessen hatte sie schon und sah nach den zärtlichen Begrüßungsküssen zu, wie ich meine Mahlzeit verzehrte. Nachher kam der ›Kain‹-Umbruch von Steinebach, und ich las die Revision, während sie neben mir saß und mich eng umschlungen hielt. Ich war unendlich selig, da ich merkte, wie sie durchaus nicht wieder von mir fort finden konnte und wie jede neue Umarmung ihren festen Entschluß, unaufschiebbare wichtige Gänge zu besorgen, erschütterte. Bald saßen wir auf dem Sofa und erzählten uns gegenseitig von vielen Erlebnissen, und die Zeit verging. Um fünf Uhr entschloß sie sich, den Hut abzunehmen. Um sechs Uhr endlich ging sie, und ich begleitete sie bis vor die Tür. – Von unsern Gesprächen, die durch viele Küsse unterbrochen waren, ist dieses wohl das Wesentlichste: Ich machte ihr in aller Form einen Heiratsantrag, den ich folgendermaßen begründete. Wir beide, sagte ich, entgehen uns doch nicht mehr. Führt unser Verkehr zu dem Wunsch, zusammenzuleben – und bei mir sei dieser Wunsch schon jetzt durchaus vorhanden –, so ist der offizielle Eheschluß ein Präventiv gegen behördliche Schweinereien. Ferner sei uns beiden ein Wohnen in eigener Behausung lieber als in den ramponierten Möbeln einer fremden Wirtin, und durch eine Heirat werde die finanzielle Unterlage geschaffen. Drittens sei die Sache finanziell günstig. Ich glaube bestimmt, daß meine Familie sich, wenn ich heirate, und zwar ein Mädchen aus gut jüdisch bürgerlichem Hause und mit Geld, nobler als sonst zeigen werde und daß mein Vater mir einen erhöhten Zuschuß bewilligen werde. Sonst aber sei ja durch die Zinsen ihrer Mitgift immerhin eine finanzielle Basis des Lebens geschaffen. Für Jenny habe eine Heirat den Vorteil, daß sie der elterlichen Obhut entrückt wird, dauernd von Eydtkuhnen freikommt und mich als Ehemann ja in keiner Weise als Tyrannen zu fürchten habe. Solange wir uns lieben, ergebe sich ja in unserem Zusammenleben alles von selbst. Lieben wir uns eines Tages nicht mehr, so ergebe sich erst recht alles von selbst. – Ich sagte Jenny, daß sie die erste sei, der ich einen wirklichen ernsten Heiratsantrag mache, und sie erwiderte, daß das der erste vernünftige Heiratsantrag sei, den sie erhalte. Ihre Einwände waren diese: Zunächst werde ich zur Erfüllung von Formalitäten angehalten werden, die mir sehr gegen das Gefühl gehen müßten (Ich erklärte ihr, daß ich nach guter Überlegung entschlossen sei, das auf mich zu nehmen). Dann aber fürchte sie für sich allein aus dem Gefühl, verheiratet zu sein, eine Unfreiheit und Belastung. Schon daß sie ihren Namen wechseln müsse, verstimme sie, und sie zweifle daran, ob sie die freiheitliche Kraft habe, alle diese Äußerlichkeiten, wie ich es wohl könne, ganz als Äußerlichkeiten zu nehmen. Wir einigten uns dahin: Sie solle sich die Sache sehr durch den Kopf gehen lassen und mir von Eydtkuhnen aus schreiben, wie sie sich entschlossen habe. Fällt ihre Entscheidung bejahend aus, so fahre ich nach Berlin und versichere mich durch Vermittlung Onkel Leopolds der Zustimmung des Vaters (Es soll, wenn wir schon die Konzession der Heirat machen, alles ganz konventionell und korrekt geschehen) und halte dann offiziell bei ihren Eltern um Jenny an. Die ganze Sache ist mir im Grunde so amüsant, daß ich zum Teil schon aus Neugier wünschte, sie käme zustande. Ich war noch nie in einer solchen Gespanntheit allen werdenden Ereignissen gegenüber. – Abends war nun also die Versammlung im Gambrinus. Leider nur gegen 40 Personen. Ich sprach über ›Staat und Persönlichkeit‹. Jenny saß neben mir. Zuerst war ich dadurch so befangen, daß ich eine Viertelstunde lang stotterte und den Faden nicht finden konnte. Als ich ihn dann aber hatte, sprach ich gut. Denn ich sprach fast nur zu Jenny, und ich sah, wie sie unter meinen Worten zitterte. In der Diskussion sprach Sirch wunderschön und ungeheuer leidenschaftlich gegen den Staat und seine Organe. Im Schlußwort ging ich darauf ein und sprach sehr heftige Worte aus, die ich aber so formulierte, daß mit einer Anklage kaum zu rechnen sein wird.
(...)
Es ist eine Zeit höchstgesteigerten seelischen Erlebens. In Jenny erfüllt sich mir alles, was ich je in einer Frau suchen konnte: Sie ist schön, klug, gut, zärtlich und vom gleichen Idealismus bewegt, der mir Halt gibt. Wollte ich sie heiraten, so brauche ich keine häßlichen Eingriffe der Familie zu fürchten: Sie ist Jüdin, hat Geld und ist gesellschaftsfähig im Sinne der Bürger, die ja nichts von ihrem Leben und von ihren Erfahrungen wissen. Sie ist für mich Trost, Errettung, Glück und Erfüllung – und es fehlt nur noch eine Kleinigkeit, um durch sie ganz beseligt zu sein: sie zu erringen. Darum kämpfe ich nun, daran arbeite ich. Ich will sie heiraten, ganz regulär und bürgerlich. Wenn wir diese Konzession an die beiderseitigen Mischpochen machen, erreichen wir erstens friedliche Beziehungen zu den Familien, dann Ungeschorenheit durch die Polizei und vor allem ein eigenes Heim, nach dem wir beide uns namenlos sehnen. Heute besprachen wir das alles sehr ausführlich, und heute habe ich zum ersten Male das Gefühl, als ob ich schon fest mit ihr verlobt wäre. Zwar warnte sie mich sehr, nicht zu fest auf ihr Ja zu bauen, aber als ich sie fragte: »Wirst du mich heiraten?«, sagte sie »Wahrscheinlich« und küßte mich. Ihre Einwände werden immer geringer und bedeutungsloser, und sie sieht das ein und wehrt sich nur noch mehr prinzipiell gegen den zu raschen Entschluß. Ich hoffe inbrünstig, noch in diesem Jahre mit ihr vereint zu sein.
Vorgestern telefonierte sie ab. Ich sah sie den ganzen Tag nicht. Auch zur Gruppensitzung war sie nicht gekommen. Dort war es sehr nett. Eine Anzahl jüngerer KundenWanderarbeiter, Landstreicher. war aus der Herberge gekommen, und ich sprach zu ihnen von unserer Stellung zur Arbeitsscheu. Wirkliche Trägheit gebe es nicht, und daß sich viele und die charaktervollsten Menschen nicht in Lohn zur Arbeit verdingen wollen, sei eben ein Beweis der Unsinnigkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Ferner über unsere Stellung zu den Eigentums-»Verbrechen«. Nicht den Dieben gelte unsere Abscheu, sondern den Einrichtungen, die die Menschen zum Stehlen treibt.Mühsam hatte sich wiederholt mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen, er ermutige die »Kunden« zum Begehen von Straftaten. – Ein jüngerer sozialdemokratischer Arbeiter sprach gutbürgerliche Worte gegen die Arbeitsscheuen und für die Bestrafung des Diebstahls. Der Student Bejach, ein organisierter Sozialdemokrat, derselbe, mit dem ich in der vorigen Woche Jenny ins Café Plendl geführt hatte, versuchte ausführlicher, mich zu widerlegen. Ich legte ihn auf zwei Äußerungen fest, einmal, daß er behauptet hatte, Elend und Armut werde es immer geben müssen, zweitens, daß er erklärte, ohne Zwang und Druck gehe es nicht. Ich fragte ihn, warum er denn mit diesen Überzeugungen überhaupt etwas anderes wolle als den Gegenwartsstaat. Seine Schwärmerei für die Bearbeitung und Bekehrung der Massen suchte ich durch einen Hinweis auf die chinesische RevolutionSturz des chinesischen Kaisers in der Xinhai-Revolution 1911. zu widerlegen. Die republikanische Bewegung dort sei gewiß sehr schwach gewesen, aber die leitenden Persönlichkeiten des Aufruhrs taten im Moment der Aktion das Richtige. Jetzt sei China Republik, obwohl es nie eine Republikaner-Majorität gehabt habe, und alle seien zufrieden damit. Die Diskussion gestaltete sich lebhaft und interessant, und Herr Bejach gab mir und Morax, der mir gut assistierte, erstaunlich viel zu.
Ich habe mich heute mit Jenny verlobt. Sie liebt mich, und, wenn nicht Satan selbst Minen legt und meine Hoffnungen zerstört, dann werde ich bald glücklich und erlöst sein. So komisch mir die Vorstellung ist, daß ich Bräutigam sein soll, so sicher weiß ich, daß ich recht tue, den kleinen Peinlichkeiten nicht aus dem Wege zu gehen. Mir ist die Verlobung und Hochzeit nicht Ziel meines Weges, aber ich verschmähe die Formalitäten nicht, da sie mir Mittel scheinen zu herrlicher Gemeinschaft mit Jenny. Ihrer wert sein – das ist nun meine Aufgabe.
Es regnet – regnet, wie es nur in München regnen kann –: ununterbrochen in langen, öden, triefenden Wasserfladen. Und dies trübseligste aller Wetter entspricht ganz meiner augenblicklichen Gemütsverfassung. Von Jenny, die nun acht volle Tage fort ist, seit drei Tagen kein Wort, – und ich verzehre mich vor Verlangen nach ihrem Gruß, nach einer kleinen Versicherung ihrer Liebe und ihrer Festigkeit, zu mir zu halten. Statt dessen kam gestern ein Brief von Papa. Ich hatte es für ratsam gehalten, ihn über den Stand der Dinge auf dem laufenden zu halten und hatte angedeutet, daß sich bei den Schwiegereltern Schwierigkeiten herausstellen. Nun schreibt der alte Herr seine Meinung darüber, ohne Vorwürfe gegen mich, das ist wahr, aber von einer solchen senilen Philistrosität, daß mir schwach wird. Ich könne eine Frau nicht ernähren, verdiene noch nicht einmal genug, um selbst davon existieren zu können. Deshalb täten die Eltern Jennys ganz recht, wenn sie mir ihre Tochter nicht anvertrauen wollten. Trotzdem hoffe er auf den günstigen Ausgang, den er selbst sehnsüchtig herbeiwünsche: aber erst, wenn ich eine gesicherte Existenz habe. Die, denke er – und er habe darüber mit Grethe gesprochen, die völlig seiner Meinung sei –, könne ich mir dadurch erwerben, daß ich in das Geschäft des Herrn Brunn einträte! – Ich wußte, als ich das las, zuerst nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Daß mein Vater immer noch solche Ideen über meine Zukunft haben kann, brauchte mich schließlich nicht zu wundern. Er schreibt auch diesmal wieder, daß, wenn ich seinem Rat folge, mein »fruchtloses Experimentieren« der letzten zwölf Jahre endlich vorbei sein werde.
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Diese Tagebücher feiern heute ihr zweijähriges Jubiläum. Es war doch eine sehr gescheite Idee damals im Sanatorium, sie einzurichten. Es ist in den zwei Jahren viel in mir und um mich geschehen. Menschen sind an mir vorübergegangen, Ideen sind gereift – ich habe den ›Kain‹ gegründet, allerlei geschrieben und gestaltet, Frauen haben in meinen Armen gelegen – und jetzt stehe ich vor dem großen Wendepunkt meines Lebens, wo ich mein Schicksal dauernd mit dem eines sehr geliebten Weibes vereinigen will. In den Tagebüchern kann ich all die Entwicklungen so ganz genau zurückverfolgen, von ihren ersten Anzeichen an bis zum Erfolg oder bis zum Debakel. Jeden Tag lese ich, was ich vor einem Jahr schrieb (von heute ab werde ich nun auch die Notizen nachlesen, die ich vor zwei Jahren schrieb), und so erhält sich in mir die Erinnerung auch an kleine Einzelheiten. Wie lange ich das Tagebuch noch so exakt führen werde, weiß ich natürlich gar nicht. Eines Tages kann es plötzlich aufhören – ebenso wie ich eines Tages die Lust am ›Kain‹ verlieren kann.
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Also, es ist abgemacht: Meine moralische Standhaftigkeit ist erschüttert. Für Jenny ist provisorischer Ersatz eingestellt: Grete Krüger wird mein Ferienverhältnis. Freitagabend – ich ließ ihretwegen die Gruppe im Stich – war sie bei mir, um Gedichte von mir sich zum Vortrag auszubitten. Als ich sie küßte, bot sie mir direkt an, mir beim Aufräumen meines Zimmers zu helfen, und als ich ihr sagte, ich dächte daran, mir eine Wohnung einzurichten, wollte sie gleich alle Arbeit dabei übernehmen. Ich klärte sie deshalb darüber auf, daß ich heiraten möchte, was sie sichtlich traurig stimmte. Aber sie ist auch nur Strohwitwe, und zwar doppelt. Sowohl Bloch, der zur Zeit in Amerika ist, wie auch ihr eigentlicher Verlobter, ein Grieche, will zurückkommen oder sie zu sich kommen lassen und womöglich heiraten. So einigten wir uns auf Liebe für Zeit.
Gestern war Gruppenzusammenkunft. Fünf Personen. Der Wirt des Gambrinus hat uns das Lokal gesperrt. Das ist, glaube ich, das vierte Mal, daß uns das passiert. Jetzt geht die Sucherei wieder los. Ob wir ihm nicht genug Bier konsumiert haben oder ob – was leider das Wahrscheinlichere ist – die Syndikalisten gegen uns intrigiert haben, darüber hat er sich nicht geäußert. Ich bin sehr erbittert, auch über Morax, der wieder ganz lässig geworden ist und sich an lauter verbummelte Leute, Klein, Jung etc. anschließt. Das letzte Mal war ich nicht dort – Morax schon seit drei Wochen nicht mehr. Da hat, wie mir berichtet wurde, Jung, Mariechens Ehemann, die Gelegenheit ergriffen, über mich herzuziehen. Feige und gemein. Sobald ich ihn treffe, soll er meine Meinung hören. Nähme mir doch jemand die Mühe ab, die ich mir all die Jahre mit dem unbrauchbaren Material gebe. Oder kritisieren mich die Herrschaften wenigstens, wenn ich dabei bin! Welche traurige Autoritätsanerkennung, hinter dem Rücken eines Menschen seine Superiorität anzugreifen!
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Die letzten Tage waren von Otto Gross so stark okkupiert, daß ich sehr fürchten mußte, durch die Anstrengung der Unterhaltungen mit ihm werde jede Energie zur Arbeit in mir gelähmt werden. Das habe ich ihm heute gesagt. Darauf schrieb er mir diese Woche ins Notizbuch: »Das ist aus der Psychologie, die ich nicht reden darf: Erich, im Ernst, Du mußt zur Zeit mit irgend etwas beschäftigt und darauf aus sein, was wesentlich nicht gut sein kann. Ich bin dir diesmal – es ist wirklich nicht Selbstüberschätzung, daß ich so spreche, ins Haus gefallen wie der EckartDer getreue Eckart in der deutschen Heldensage, dessen Warnungen nicht gehört werden. – und wurde zum Teil als solcher behandelt – Was du heute gesagt hast, heißt: Du mußt immer, bevor du deine jetzige Beschäftigung wieder aufnehmen kannst, verdrängen, auf was dich das Zusammensein mit mir gebracht hat. Das aber ist dein wirkliches Sein, nur das; nicht von mir, sondern von dir selber wird dir mit mir zusammen die tiefere Wirklichkeit wieder bewußter – und die mußt du verdrängen, bevor etc. etc. und daraus – etc. –« – Gross' Unterstellungen haben in der Tat etwas, was stark ergreift und suggeriert. Was mich aber in Wahrheit so anstrengt und ablenkt, ist die fortwährende Einstellung auf die ungewohnte Terminologie eines Monomanen. Ich muß mich fortwährend in Ausdrücken wie Komplex, Masochismus, Sadismus, Analyse, Verdrängung etc. zurechtfinden, und alle in neuen Bedeutungen angewandt. Und ferner ist mir schrecklich der Haß, den Otto gegen einige Leute hat und den er fortgesetzt betont und in Beziehung setzt zum Tode Sofie Benz'. In bezug auf Landauer versuchte er, mich vor die Alternative zu stellen: Er oder Er! Ich lehnte solche Alternative schroff ab, woraus sich die psychologische Erklärung ergab: Ich habe das Bedürfnis, mich von aller Welt foppen zu lassen. Über Johannes fiel er mit wahrhaft leidenschaftlichem Haß her und stellte die groteske Behauptung auf, er lasse sich in allem von finanziellen Erwägungen leiten. – Ungeschickt ist er ja nicht, wenn er einen Menschen vom andern abbringen will. Als er mich an Johannes' hysterische Intrigen erinnerte, mit denen er mich von Frieda trennte, kochte etwas in mir auf. Er hat damals – natürlich in der Analyse – Gross Dinge von mir erzählt, die haarsträubend sind. Die Indiskretionen, die ich gegen Frieda ihm gegenüber beging und die bestimmt nicht respektlos waren, hat er völlig entstellt wiedergegeben, als ob ich Frieda beschmutzt hätte. Damals hatte Gross solche Wut auf mich, daß er mich durchaus umbringen wollte. Ich wußte das selbst und ging – es war Ende 1908 – stets mit dem Gefühl herum, daß mir nach dem Leben getrachtet wurde. Schließlich stellte ich Gross eines Tages darauf und erklärte ihm, ich könne mich gegen Mord nicht schützen, man solle aber so anständig sein, ihn nicht meuchlings zu begehen. Damals war aber der Mordplan schon aufgegeben. Gestern sprachen wir das alles durch, und er bat mir viel ab.
(...)
(...) Am Balkan ist der Krieg ausgebrochen.Balkankrieg bis 30. Mai 1913: Die Balkanländer befreiten sich von der türkischen Herrschaft. Mühsam stellte sich auf die Seite der Türken, weil er in der Türkei ein Bollwerk gegen die Ausbreitung des Imperialismus sah. Montenegro hat angefangen, die Kriegserklärungen Bulgariens, Serbiens und Griechenlands an die Türkei werden wohl in den nächsten Tagen erfolgen. Worum es sich eigentlich handelt, wird aus den Zeitungen gar nicht klar. Diese Leute wissen immer nur vom Episodischen der Ereignisse zu faseln, von den Zusammenhängen haben sie keine Ahnung. Es scheint, als ob die Balkanstaaten die Schwächung der Türkei durch den Krieg mit Italien benutzen wollen, um im trüben zu fischen. Beschleunigt ist dann ihr Vorhaben offenbar durch die törichte und dilettantische Aktion des österreichischen Ministers v. Berchtold,Leopold Graf von Berchtold (1863-1942), österreichischer Außenminister 1912-15. der namens der europäischen Mächte den Balkanländern die Wahrung ihrer Interessen zusicherte. Dadurch mußte Mißtrauen entstehen, das sich nun in einem wüsten Kriege der Balkanstaaten untereinander entlädt. Das Ende wird wohl wieder der Sieg der Türkei sein und daran anschließend die Expropriation der Türkei durch die Mächte, die in einem Kongreß à la Berlin 1878Unter Bismarcks Vorsitz wurden die Interessenssphären der europäischen Großmächte auf dem Balkan neu geregelt. die Autonomie Rumeliens und Mazedoniens und Kretas Anschluß an Griechenland verfügen werden. Politik ist schon eine grenzenlose Niedertracht.
(...)
Von Jenny war gestern kein Brief gekommen, und ich hatte mich schon sehr geängstigt. Als nun heute früh wieder nichts kam, geriet ich in völlige Verzweiflung und dachte, alles wäre aus. Gott sei Dank, gegen Mittag kam ein Brief – und was für einer. So lieb, so zärtlich, vergnügt und vertrauend, daß ich nun ganz glücklich und zuversichtlich bin. Wie unsere Angelegenheit im Augenblick steht, darüber fehlt leider immer noch die Erklärung. Jennys Mutter scheint noch nicht abgereist zu sein, und wann ich nach Berlin fahre, ist noch ganz unbestimmt. Aber ich hoffe, endlich muß die Sache nun vorwärtsgehen.
(...)
In der Gruppe Tat kam es am Montag zu einem kleinen Eklat. Herr Franz Jung begann erst wüst über Landauer zu schimpfen und dann auch meine Tätigkeit einer Kritik zu unterziehen. Kindler unterstützte ihn dabei. Ich erklärte, keine Lust zu haben, immer nur im Anklagestand an den Verhandlungen der Gruppe teilzunehmen, und forderte die Kritiker auf, alles, was sie von mir verlangten, selbst zu tun. Ich sei nicht die Gruppe und strebe die Autorität nicht an, die man mir dort oktroyieren wolle.Die Konflikte in der Gruppe Tat waren ein Resultat der Versuche Mühsams, Subproletariat und Boheme zu einer anarchistischen Plattform zu vereinen. Sein Konzept und sein Führungsanspruch wurden von den intellektuellen Teilnehmern in Frage gestellt, was auch die charismatische Wirkung seiner Agitation untergrub. Die Gruppe Tat (und der Sozialistische Bund, dem sie angehörte) zerfiel 1913. Darauf wurde mir berichtet, es sei von vier, fünf Seiten erzählt worden, ich hätte gesagt, ich ginge jetzt nur deshalb so selten zu den Gruppensitzungen, um meine Autorität zu stärken. Ich wies das energisch zurück und erklärte den Urheber des Gerüchts für einen infamen Verleumder. Als Jung dann noch mal darauf zurückkam und ich aus seinen Worten heraushörte, daß er immer noch an die Wahrheit der Erzählung glaubte, erklärte ich, mit dieser Gruppe, der es an der ersten Voraussetzung: Solidarität untereinander, so gänzlich fehle, nicht weiter arbeiten zu können und daß ich nicht wiederkommen werde. Darauf ging ich. Später im Krokodil waren unter andern Halbe und Wedekind, mit denen ich dann noch in die Weinstube Michl ging. Es ist eine etwas delikate Aufgabe, zwischen den beiden immer noch argwöhnischen alten Freunden zu sitzen. Man trägt dabei die ganzen Kosten des Gesprächs. Gestern war Wedekind zum ersten Mal seit acht Jahren wieder auf der Kegelbahn und dann seit sieben Jahren zum ersten Mal wieder im Simplicissimus.
München, Dienstag, d. 29. Oktober 1912 Gestern kam ich von Berlin zurück, wo ich mal wieder acht Tage lang die Heirat mit Jenny zu fördern hoffte. Frau Brünn war dort, und mein Bruder Hans bestellte mich telegrafisch zum Rendezvous mit ihr. Eine sehr lebenskluge jüdische Kleinbürgerin, mit der ich allein und bei Onkel Leopold verhandelte. Über alle Details habe ich Jenny in meinen Briefen Bericht erstattet, die als Ersatz des Tagebuchs gelten können. Als ich die Frau am Mittwoch früh in den Zug setzte, blieb ich mit dem Gefühl zurück, daß diese Begegnung unsere Eheschließung nicht gefördert habe. Die Frau ist schwer enttäuscht von mir und hält mich für die ärgste Mesalliance für Jenny. Onkel Leopold und ich hatten gemeinsam vergeblich versucht, die Frau zur Nennung der Summe zu veranlassen, die man uns als Mitgift geben würde, da daraufhin Papa bearbeitet werden sollte, entsprechend zuzugeben. Onkel meinte nachher, er habe die Empfindung, daß Brünns außer der Einrichtung und Aussteuer gar nichts geben würden, und ich hatte den Eindruck, man rechne dort nur mit einem Schwiegersohn, dem man Geld ins Geschäft stecken könne, um womöglich dabei selbst noch ein Geschäft zu machen. Das alles scheint sich jetzt zu bestätigen. Denn Jenny schreibt in dem Brief, der heute ankam, es sei völlig ausgeschlossen, daß ihre Eltern jemals einer Heirat mit mir zustimmten, und nun beginnt damit eine neue Epoche in unserer Liebe: der Konflikt mit den Eltern. Jenny ist entschlossen, zu mir zu kommen, und ich habe ihr eben meinen Entschluß mitgeteilt, sie mit oder ohne Geld, mit oder ohne Heirat zu mir zu nehmen. Ich bin schon fast bereit, die Weigerung der Eltern als einen Glücksfall zu betrachten, zumal ich bei Jenny die prachtvolle Entschlossenheit erkenne, um ihrer Liebe willen auf Elternhaus, Wohlstand und jegliche Bürgerlichkeit zu verzichten. Die widerwärtige Konzession der religiösen Trauung wird uns nun sicher erspart bleiben, auf die – eventuell spätere – standesamtliche Verbindung werde ich allerdings um der Kinder willen, auf die ich hoffe, dringen, denen sonst die Beteiligung an den Häuserzinsen entginge.
(...)
München, Donnerstag, d. 21. November 1912 Nach langer Pause mal wieder ein kurzes Resümee. Es gibt genug Dinge, die mir wichtig genug erscheinen, um hier für all meine Zukunft vermerkt zu stehen. In der Angelegenheit mit Jenny ist eine Wandlung immer noch nicht eingetreten. Das gute Mädchen leidet zu Hause arges Leid. Sie ist entschlossen, spätestens mit dem Eintreten ihrer Mündigkeit (am 6. Januar) das Elternhaus zu verlassen und zu mir zu kommen. Ich warne sie redlich, das zu tun, wenn nicht für unseren Unterhalt irgendwie gesorgt wird. Mir geht es materiell gerade schlecht genug – ganz besonders wieder in der letzten Zeit –, und ich wüßte nicht, wie es werden sollte, wenn wir nun zu zweien von dem bißchen leben sollten. Gestern kam ein Brief, in dem Jenny die Hoffnung aussprach, ihre Eltern dazu bewegen zu können, daß sie schon im Dezember einer stillen Trauung in Berlin beiwohnen werden, um den Skandal zu vermeiden, der durch Jennys Fortgehen im Januar entstehen würde. Ich weiß gar nicht, was ich von all dem halten soll. Mir scheint nur, daß ich in dieser Sache ebensowenig Glück habe wie in allen anderen. Hätte ich nicht an die Eydtkuhner Eltern geschrieben, und wir hätten gar nicht ans Heiraten gedacht, dann wäre sie längst wieder hier, kein Mensch wüßte von unserer Beziehung, und wir wären glücklich.
(...) Bald hätte ich meinen eigenen Ehrenabend vergessen. Am Montag, dem 11. November hatte ich im Gobelinsaal der Vier Jahreszeiten den 1. Intimen Abend des Neuen Vereins zu bestreiten. Ich las Gedichte aus »Wüste«,»Wüste«, Mühsams erster Gedichtband, Berlin 1904. »Krater« und dem Manuskript und hatte großen Beifall bei dem außerordentlich zahlreichen Publikum, das zum großen Teil nicht mal Platz zum Sitzen fand. Ich hatte die große Freude, am nächsten Tag in der »Münchner Zeitung« eine außerordentlich anerkennende Kritik des Herrn Richard Braunsgart zu lesen, der auch den 1. Akt der »Freivermählten«, den ich vorgelesen hatte, lobte, daß ich nun wirklich hoffe, der Neue Verein wird das Stück doch spielen. Kutscher meinte nachher, meine Gedichte seien ihm geradezu Offenbarungen gewesen. – Außer der »Münchner Zeitung« hat aber kein einziges Blatt es der Mühe für wert gehalten, von meinem Vortrag Notiz zu nehmen. Eine offizielle Veranstaltung des Neuen Vereins wird in den »Münchner Neuesten Nachrichten« einfach totgeschwiegen, weil man mich nicht mal als Lyriker leben lassen will. Ich will das hier vermerken, um das Preßgesindel unserer Tage der dauernden Verachtung späterer Menschen preiszugeben.
(...)
Im übrigen bin ich in großer Sorge. Steinebach teilte mir mit, daß das Defizit des »Kain« bereits die Summe von 2500 Mark überschritten habe und daß er endlich Geld sehen wolle. Er möchte 1000 Mark haben, die er mit fünf Prozent für das Jahr verzinsen will.
(...) – Nun setzte ich mich dieser Tage mit dem jungen Verleger BachmairHeinrich Franz Seraph Bachmair (1889-1960), Münchner Verleger expressionistischer Literatur, 1913/14 Herausgeber der Zeitschrift »Neue Kunst«. in Verbindung, um ihn zur Herausgabe der »Freivermählten« zu bewegen. Er erklärte, vor Frühjahr an derartige Publikationen nicht denken zu können. Im Laufe des Gesprächs fragte ich ihn, ob er nicht vielleicht den »Kain« im Verlag übernehmen wolle, und zu meiner Überraschung schien er dazu sehr geneigt zu sein. Wir verabredeten uns zu gestern, wo wir zusammen zu Steinebach wollten, um die Bücher einzusehen etc. Ich war rechtzeitig im Café Bauer, wo wir uns treffen sollten. Statt Bachmairs war sein Freund Becher da, der mir erzählte, Bachmair sei morgens schon allein bei Steinebach gewesen und erwarte mich jetzt bei sich. Wir gingen hin. In zweistündiger Unterhaltung wurden alle geschäftlichen Schwierigkeiten hin und her ventiliert. Herr Bachmair konnte sich vor allem mit dem einen Gedanken nicht befreunden, daß er gleichzeitig mein Gläubiger und mein Angestellter sein solle. Endlich und schließlich, als wir nun einen gemeinsamen Besuch beim Anwalt und bei Steinebach verabredet hatten, kam der Herr auf die Tendenz des »Kain« zu sprechen und stellte das unerhörte Ansinnen an mich, ich müsse da eine Wandlung und Mäßigung eintreten lassen. Ich war außer mir. Als ich erklärte, die Leute kauften doch das Blatt gerade, um meine Ansichten kennenzulernen, meinte Herr BecherJohannes R. Becher (1891-1958), expressionistischer Lyriker, ab 1919 Mitglied der KPD und Repräsentant der proletarisch-revolutionären Literatur, 1954-58 Kulturminister der DDR. ganz ungeniert, das glaube er nicht, man kaufe den »Kain« nur der Kuriosität wegen. Ich brach das Gespräch ab und ging sehr aufgeregt fort.
(...)Zwischen dem 22. November 1912 und dem 2. August 1914 hat Mühsam kein Tagebuch geführt.