Tagebücher 1910-1924
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1916

München, Sonnabend, d. 1. Januar 1916

Des Neujahrs 1916 werde ich lange eingedenk bleiben. Bei uns fand eine große Silvesterfeier statt, an der – zugerechnet die Flüchtlinge von anderen Veranstaltungen – achtzehn Personen teilnahmen. Es war ungemein lärmend und ausgelassen. Man ersäufte die Große Zeit in Alkohol und Fröhlichkeit. Zenzl hatte sich riesig angestrengt und reichlichst Speise und Trank vorgesorgt. Bei mir schaltete der starke Feuerzangenpunsch bald alle Hemmungen aus, und ich lag in den Armen und am Munde einer Frau Professor Aenny v. Aster. Frau Ehrengard wurde darüber hysterisch eifersüchtig, und ich mußte mich auch mit ihr abgeben. Da sich überall sogenannte »Schwabinger Knäuel« gebildet hatten, nahm niemand Anstoß daran außer Zenzl, was mir leider in meiner Bezechtheit erst zu spät klar wurde. Als zwischen halb sieben und halb acht heute früh die Gäste aufbrachen, machte Ehrengard so üble Szenen, daß ich sie zur Beruhigung heimbegleitete. Mein Ärger war aber groß, als sie sofort wieder erschien, angeblich, weil die Tür verriegelt war. Ich stellte ihr vor, daß ich nun Vorwürfe bekäme, und sie hatte nichts besseres zu tun, als Zenzl darüber zur Rede zu stellen. Die machte mir dann im Schlafzimmer bittere Vorhaltungen und erklärte, mich verlassen zu wollen, da ich sie fortwährend häßlichen Situationen aussetze. Sie wollte sofort weg, ließ sich aber durch Tränen und Bitten veranlassen, den furchtbaren Entschluß auszusetzen. Entsetzlich war es mir, als sie weinend sich vorwarf, Ludwig Engler meinetwegen verlassen zu haben. Sie bereue es und werde vielleicht doch noch zu ihm zurückgehen. Was nun daraus werden soll, ist mir ganz rätselhaft und beängstigend. Sie will es mir nicht glauben, daß sie mir unentbehrlich und meinem Herzen der nächste von allen Menschen ist. Andererseits ist meine Sinnlichkeit bei Ehrengard zur Zeit sehr stark engagiert, und bei der fanatischen Verliebtheit der Frau und ihrer Kunst, mich immer wieder zu sich einzufangen, kann ich mich ihren Reizen nicht entziehen.

(...)

München, Freitag, d. 7. Januar 1916

Auf der letzten Kegelbahn gab es mit Halbe wieder einen Disput, der sich diesmal mehr in den Grenzen philosophischer Determinationen hielt. Der Krieg ist diesen Leuten immer noch lediglich Naturkatastrophe, und ihr Gewissen ist völlig beruhigt. Daß sie bei dieser »historischen« Betrachtungsweise trotzdem wütende Feinde der Herren Grey,Edward Grey (1862-1933), britischer Außenminister 1905-16, baute nach dem Scheitern seines Versuchs, den Krieg mit diplomatischen Mitteln zu verhindern, das Bündnis mit Frankreich und Rußland aus (Entente) und befürwortete den Kriegseintritt Großbritanniens. Poincaré,Raymond Poincaré (1860-1934), französischer Staatspräsident 1913–1920. IswolskiAlexander Iswolski (1856-1919), russischer Außenminister 1906-10; als Botschafter in Paris 1910-17 betrieb er das russische Bündnis mit Frankreich gegen Deutschland. und Genossen, aber begeisterte Bejaher der Tirpitz,Alfred Tirpitz (1849-1930), als Marineoffizier (1911 Großadmiral) einflußreichster Politiker neben dem Reichskanzler; baute die Kriegsflotte aus und betrieb eine aggressive Kolonialpolitik. 1916 durch Hindenburg abgelöst. 1924/25 Mitglied des Reichstags. BurianStephan Graf von Burian (1851-1922), österreichischer Außenminister 1915/16. und Enver PaschaEnver Pascha (1881-1922), türkischer General und Politiker, trat an der Seite Deutschlands in den Ersten Weltkrieg ein. sind, tut nichts zur Sache. Mein »Kosmopolitismus« ist höchst verächtlich, aber in meiner Eigenschaft als Jude begründet. Ich erklärte, daß ich diese Eigenschaft für die beste der Juden halte und nur wünschte, meine Stammesgenossen hätten darin nicht auch umgelernt. Im übrigen sei der Kosmopolitismus bis zum 1. August 1914 auch ein Spezifikum der Deutschen gewesen. Das ficht aber den sich verbreitenden Antisemitismus der deutschen Patrioten gar nicht an. Ich sehe immer klarer: Nach dem Kriege wird ein Krieg ausbrechen, in dem ich als freiwilliger Offizier im ersten Graben kämpfen muß.

München, Sonntag, d. 6. Februar 1916

Freitag sprach ich mit Heinrich Mann, gestern mit Professor v. AsterErnst von Aster (1880-1948), Professor der Philosophie in München. über die Möglichkeit, die oppositionellen Elemente der deutschen Intellektualität zu sammeln und mit ihnen irgendeine Aktion zu unternehmen, die von Wert sein könnte. Soviel ist sicher, daß es ungemein schwierig ist, auch nur den persönlichen Konnex zwischen denen herzustellen, die nicht vom Staatswahnsinn verfolgt sind. Die Herren Fischer,Möglicherweise Aloys Fischer (1880-1937), Professor der Philosophie und Pädagogik in München. Wölfflin,Heinrich Wölfflin (1864-1945), Professor der Kunstwissenschaft in München 1912-1924. BrentanoLujo Brentano (1844-1931), Professor der Nationalökonomie in München. wollen so hofiert werden, daß man von vornherein den Mut verliert. JafféEdgar Jaffé (1866-1921), Professor der Nationalökonomie in München, Caféhausbekanntschaft Mühsams. 1918/19 bayerischer Finanzminister (USPD) der Regierung Eisner. ist ein schwankes Rohr im Winde, der erst zu brauchen sein wird, wenn er seine innere Überzeugung auf die gleiche Ansicht autoritativer Namen glaubt stützen zu können. Inzwischen redet er noch öffentlich von Deutschlands wirtschaftlicher Unbesiegbarkeit. Wedekind gesteht offen zu, daß er nichts riskieren mag. »Man wirft uns in den Schützengraben oder ins Zuchthaus«, sagte er mir neulich. »Dafür danke ich. Ich fühle keinen Beruf zum Märtyrer. Unser aller ganzes Leben ist Martyrium genug.« Das ist für ihn natürlich richtig, und man muß warten, bis er und andere seiner Art einsehen, daß sie keine Christusleiden mehr zu fürchten brauchen. Das wird sein, wenn stärkere Naturen von wichtigem Namen vorangegangen sind, ohne in Not und Tod zu geraten ... Mit Aster bin ich ziemlich einig. Meine Idee einer ›Deutschen Gesellschaft von 1916‹ fand er diskutabel, meint aber, das Beste sei, den ›Bund Neues Vaterland‹, der nur noch ein Scheindasein führt, in München zu neuem tatkräftigen Sein zu erwecken. Für die Zeit nach dem Kriege plant er die Gründung eines ›Schutzverbands gegen das Alldeutschtum‹. – Wir betreiben jetzt eine erste persönliche Zusammenkunft mit denen, die den Mut zur Wahrheit haben. Daraus mag dann Weiteres und hoffentlich Gutes erwachsen.

(...)

München, Montag, d. 14. Februar 1916

(...) Ich hatte großen Ärger. Gestern sollte die lang vorbereitete Besprechung mit den Professoren und den übrigen Gleichgesinnten sein. Die kleine Person, deren Initiative viel dabei zu danken war – wirklich auf die Beine gebracht habe ich die Verabredung –, kam nun gestern mittag plötzlich und bestellte alles ab, da »die Hauptperson« erkrankt sei. Diese »Hauptperson« sollte Eisner sein, der von Anfang an gar nicht viel Wert auf die ganze Geschichte legte. Ich war wütend, und mein Verdacht, daß die Verlegung sich ad calendas graecas erstrecke, erhielt die stärkste Wahrscheinlichkeit, als mir Professor v. Aster, der abends bei mir war, mitteilte, er habe mit Fischer vereinbart, daß erst mal die Professoren allein zusammenkommen sollten. Meine Idee war gerade, daß diejenigen Entschlossenen, die persönlich noch keine Fühlung haben, zusammenkommen sollten, um sich kennenzulernen und nach Maßgabe ihres jeweiligen Wirkungskreises die Rollen verteilen. Was bei der Professorenkonversation herauskommt, sehe ich deutlich voraus: eine lendenlahme, zensurfähige Resolution und die vorsichtige Erwägung, man bleibt lieber allein, als sich mit dem suspekten Herrn Mühsam gemein zu machen. Und dies Fiasko nur, weil die törichte Person die Erkrankung EisnersKurt Eisner (1867–1919), Schriftsteller und Journalist, Führer der Münchner USPD, leitete ab 1917 einen pazifistischen Gesprächskreis, aus dem Mühsam wegen seines Eintretens für die Revolution verwiesen wurde. für die Verhinderung der »Hauptperson« hält, während ich überzeugt bin, daß die Krankheit in Wirklichkeit Unlust heißt. Bald verzweifle ich an allem. Man sollte halt Milliardär sein wie Herr Ford. Der bringt es wirklich fertig, einen permanenten Friedenskongreß von neutralen Staatsangehörigen zu organisieren. Wenn er's erreicht, daß der Krieg durch seine Arbeit auch nur um einen Tag verkürzt wird, so würden die Hunderte Millionen, die es kostet, nicht umsonst vertan sein, und wir wollen das Geld, ohne zu fragen, wie es erworben sein mag, vergessen, selbst ohne zu fragen, was Ford dran verdient.

München, Sonnabend, d. 25. März 1916

Alles, was ich in den letzten Tagen hier zu notieren gedachte, tritt in den Hintergrund gegen das, was sich gestern im Reichstag abgespielt hat. Nach den kurzen Berichten, die bisher hier vorliegen, ist es zu regulärem Skandal zwischen den Amtsträgern der sozialdemokratischen Partei gekommen und zur offenen Spaltung in der Fraktion. Nachdem ScheidemannPhilipp Scheidemann (1865–1939), Fraktionsvorsitzender der SPD im Reichstag, Exponent des rechten Flügels. die Erklärung abgegeben hatte, daß die Partei vorbehaltlich ihrer Entscheidung zum Hauptetat dem vorläufigen »Notetat« die Zustimmung geben werde, nahm Haase das Wort, um eine sehr scharfe Rede dagegen zu halten. Für die grenzenlose Verlogenheit, die heutzutage in Deutschland überhaupt nur als Diskussionsboden Geltung hat, zeugt das Verhalten der Abgeordneten bei Haases Rede. Er sprach aus, was jeder Mensch ganz genausogut weiß wie er selbst: Nämlich, daß Not und Entbehrung im Lande herrsche und daß schleunigst Frieden gemacht werden müsse, da es in diesem Kriege Sieger oder Besiegte doch nicht geben werde. Bei diesen Worten tat sich ein Orkan der Entrüstung auf, und bei der Abstimmung, ob Haase das Wort entzogen werden solle, stimmten außer allen bürgerlichen »Volksvertretern« viele Sozialdemokraten dafür. Dann beschloß die Fraktion, Haase ebenso wie Liebknecht außerhalb der Fraktion zu stellen, weil er angeblich dadurch einen Treuebruch begangen habe, daß er in der Fraktionssitzung dem Antrag zugestimmt hätte, zum »Notetat« keinen Redner vorzuschicken (Wie sich diese Dinge verhalten, wird wohl morgen aus dem ›Vorwärts‹ ersichtlich sein). Ich denke mir, Haase und seine Anhänger werden sich gesagt haben, die Ankündigung ihrer Absicht in der Fraktion hätte die nationalliberalen Scheidemänner zu Gegenmaßnahmen veranlaßt, und es wäre wieder unmöglich geworden zu sagen, was zu sagen ist. Jedenfalls haben sich nun die übrigen Mitglieder der Minderheit mit Bernstein etc. mit Haase solidarisch erklärt, und so ist eine neue Fraktion entstanden, die »Fraktion der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft«, der sich wohl auch Liebknecht und RühleOtto Rühle (1874–1943), Pädagoge und Publizist, sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter des linken Flügels, Mitbegründer der KPD, 1919 Ausschluß, danach in linksradikalen und unionistischen Organisationen tätig (vgl. Eintragung vom 24. März 1920). einfügen werden. Sehr bezeichnend für den Geist, der die Mehrheit der Partei beherrscht, sind die Zwischenrufe, die Haase aus den eigenen Reihen hören mußte: »Landesverräter!« schrien welche, und Herr Hörn: »Sie sind überhaupt kein Sozialdemokrat!« ... Fast muß man es wirklich annehmen, daß einer, der noch internationales Empfinden, menschliches Fühlen und Haß gegen die kapitalistische Mordbrennerei in sich hat, nicht mehr so bezeichnet werden darf. – Ich habe eben an Haase einen längeren Brief geschrieben, in dem ich auch ihm meine Meinung begründet habe, daß jetzt wir wenigen, die wir entschlossen sind, aktiv für revolutionären Pazifismus zu wirken, zusammengehören. Er möge mir mitteilen, ob er einer Konferenz in Berlin, die im April stattfinden solle, zustimme. – Liebknecht hat mir auf meinen Brief bisher nicht geantwortet. Ich fürchte, daß die Ursache seines Schweigens sein Dünkel ist. Dann soll er mir gestohlen werden. Meine Bemühungen um die Münchner Wahlweiber habe ich aufgegeben. Die haben die Reformhosen voll, wenn sie nur meinen Namen hören. Mit Angstmeiern aber ist keine Rebellion zu machen.

(...)

München, Mittwoch, d. 5. April 1916

Die Unterseeboote arbeiten wie besessen; englische, französische, holländische, norwegische, schwedische, dänische Schiffe, bewaffnet und unbewaffnet, mit Bannware oder mit Passagieren werden gewarnt oder ungewarnt torpediert oder in die Luft gesprengt. Zugleich darf sich das Publikum täglich von neuem an der Nachricht erfreuen, daß die Zeppeline England bombardieren, bald London, bald die Ost- und Südostküste – nun schon an vier Tagen hintereinander. Ob sich die Arrangeure dieser Kriegsführung gegen Kinder und Weiber im Ernst einbilden, damit die Gegnerschaft Englands kleinzukriegen? Ich kann's mir nicht denken. Ich sehe in diesen Unternehmungen nur noch Akte der Verzweiflung. Die Metzelei vor Verdun, die immer noch entsetzensvoll fortgesetzt wird, führt scheinbar nicht zu dem gewünschten Ergebnis einer militärischen Entscheidung. Die russische Offensive ist wegen des Tauwetters abgebrochen worden – in einer unglaublich geschwätzigen OHL-DarlegungOHL – Oberste Heeresleitung wurde das ausgedrückt, sie sei »in Sumpf und Blut erstickt«. Die Türkei scheint angesichts der russischen Erfolge in Armenien und Persien sehr geneigt, einen Sonderfrieden zu schließen. Bulgarien wird in den deutschen Blättern gar nicht mehr erwähnt, nur das erfuhr man heute, daß die bulgarischen Truppen auf Verlangen Griechenlands von der griechischen Grenze zurückgezogen sind – was auch nicht gerade auf diplomatische Erfolge am Balkan schließen läßt. Im Lande selbst aber herrscht Katastrophenstimmung. Hier in Bayern hat die Kleinigkeit der Butterknappheit das Faß offenbar voll werden lassen. Überall redet man ganz ungeniert so, wie ich es etwa in diesen Blättern darstelle. Die unglaubliche Teuerung aller Waren, die sich in den ärmeren Schichten in bitterer Not ausdrückt, äußert sich drohend in den Reden der Menschen und hier hauptsächlich in unverhohlenem Preußenhaß. Man hat das Gefühl: einen Tropfen noch – und dann wehe der Welt! ... Schon ist in der Schwanthalerhöh an einer Verteilungsstelle des sogenannten »Wohlfahrtsausschusses« die Wut der Frauen offen ausgebrochen. Ein Beamter fauchte sie an, sie sollten ihre Fratzen zu Hause lassen. Antwort: Vielleicht sollen wir für eure Bettelgroschen auch noch Kindermädchen bezahlen! Auf das Murren und Schimpfen ließ der Mann Polizei kommen. Der Schutzmann, der eine der Frauen feststellen wollte, bekam eine Ohrfeige, daß ihm der Helm herunterflog. Er zog blank. Aber die Frauen nahmen ihm den Säbel weg und verprügelten ihn. Dabei gab es Zurufe: Ihr wollt's wohl mit uns so machen wie in Berlin und auf uns schießen, wenn unsere Männer im Schützengraben liegen! – Das sind kleine Einzelfälle – gewiß. Aber sie zeigen an, wie weit die Stimmung gediehen ist bei uns. – Da wird der Zeppelin- und U-Boot-Lärm auch nicht mehr viel helfen. Einmal gibt's Scherben – und dann ist der Friede da. Alle Welt prophezeit ihn für den Mai.

München, Donnerstag, d. 6. April 1916

(...) Ich reise Samstag nach Berlin, dort hoffe ich mit Landauer, Bernstein und anderen, vielleicht auch Haase und Liebknecht, zu einem Einverständnis zu kommen. Natürlich können wir die Revolution nicht machen, wahrscheinlich nicht einmal erheblich beschleunigen. Aber ist sie über Nacht da, dann muß jeder seinen Platz kennen und seine Aufgabe. Der Boden ist gedüngt, sobald die Keime sichtbar werden, müssen die Gärtner bereitstehen.

Berlin, Dienstag, d. 11. April 1916

Heute beherbergt mich eine Konditorei in der inneren Stadt, von wo ich um sechs Uhr zu Haase gehen will. Inzwischen die Eindrücke seit gestern in aller Kürze. Von Hans aus ging ich nachmittags zum Reichstagsgebäude. Dort erhielt ich, nachdem mir eine nachgesuchte Besprechung mit Eduard Bernstein nicht gelungen war, nach vielem Warten Zutritt auf die Tribüne. Cohn-Nordhausen sprach über den neuen Kali-Gesetzentwurf, was mich nicht interessierte, das »hohe Haus« übrigens sichtlich ebensowenig. Dann war ich aber doch noch Zeuge einer durch Widerwärtigkeit interessanten Szene. Der Präsident Hämpf schlug vor, bis zum 2. Mai über Ostern zu verlegen. Dem widersprach Ledebour mit der Begründung, die Sozialistische Arbeitsgemeinschaft habe einen Antrag eingebracht, durch den eine Wiederholung der Vorgänge vom Sonnabend unmöglich gemacht und verhindert werden solle, daß ein Abgeordneter durch Gewalttätigkeiten von der Ausübung seiner parlamentarischen Pflichten abgehalten werden könne. Die Sache sei so dringlich, daß zu ihrer Beratung unbedingt schon morgen (also heute) eine Extrasitzung angesetzt werden müsse. Dem widersprach – Herr Scheidemann. Dieser ehemalige Revolutionär erklärte, daß er die Notwendigkeit einer so überstürzten Beratung nicht einsehe und denunzierte Haase, er habe Herrn Edmund Fischer gesagt, die Abgeordneten dürften ruhig gleich abreisen, es würde bestimmt nicht mehr verhandelt werden. Haase strafte ihn Lügen. Das half aber nichts, die ganze Rechte und Mitte des Hauses mitsamt dem Freisinn und der alten demokratischen Fraktion brüllten wie die Ochsen: Hört! Hört! und rasten vor Vergnügen, und ich hatte das unangenehme Gefühl, mich in einer Idiotenanstalt zu befinden, deren Insassen eine Katzbalgerei vor geladenen Gästen vorführen, um die Menschenähnlichkeit der Affen ad oculos zu demonstrieren. Grenzenlos häßlich war das Verhalten des Strebers Scheidemann, der nur darauf bedacht schien, den Patrioten auf der rechten Seite seine Assimilation durch Gehässigkeiten gegen die Seite, von der er kommt, sinnfällig zu machen. Ein arrivierter Subalterner, den die angeborenen schlechten Manieren zum Verräter werden lassen.

Nach der Sitzung traf ich im Hause Herrn Dr. Liebknecht, der sich entschuldigte, weil er meinen letzten Brief nicht beantwortet hat. Er sieht seltsamerweise – aber ähnlich wie Eisner in meinem Plan einer gemeinsamen Wirksamkeit eine Quelle der Schwächung. Ihn interessiere nur die sozialistisch-proletarische Bewegung, und er glaube, daß jeder dem andern am stärksten hilft, wenn jeder sich auf seine Kreise konzentriert. Immerhin versprach er, sich an einer Konferenz, wenn sie zustande komme, zu beteiligen. Über die Samstag-Vorgänge sprach er kühl-belustigt. Etwas Prügel müsse man in Kauf nehmen. Über den genauen Verlauf der dreckigen Szene habe ich nicht viel erfahren können, nur soviel, daß sich die Freisinnigen, und besonders Herr Müller-MeiningenErnst Müller(-Meiningen, 1866–1944), als Mitglied der Freisinnigen (Fortschrittliche Volkspartei) im Reichstag (1898–1918) und im bayerischen Landtag (1904–1924). 1919/20 bayerischer Justizminister. dabei hervorgetan haben.

(...)

Morgen und in den nächsten Tagen werde ich die Konferenz weiter zu fördern suchen, und Ledebour, Luxemburg,Rosa Luxemburg (1870–1919), führende linke Sozialdemokratin, Mitbegründerin des Spartakusbundes und der KPD, im Januar 1919 ermordet. Gerlach etc. zu gewinnen sehen. Über die Nützlichkeit kräftiger Vorbereitungen gerade in diesem Augenblick habe ich keinen Zweifel. Die Ernährungsverhältnisse in Berlin sind geradezu grotesk. Keine Butter, kein Zucker – und im Volke dumpfe Erbitterung.

Berlin, Mittwoch, d. 12. April 1916

Vor der Abfahrt nach Steglitz zu Lannatsch Schickele in einem kleinen Cafehause am Wannseebahnhof. – Bei Haase war ich etwa eine Stunde. Ein liebenswürdiger sympathischer Mensch mit guten, klugen Augen. Auch er steht der Idee sehr skeptisch gegenüber und findet, daß der Bund Neues Vaterland völlig erfüllt, was ich möchte. Gleichwohl will er sich an einem »Bierabend« beteiligen. Auf revolutionäre Dinge hofft er nur wenig. Tatsächlich kann einen die engelshafte Geduld, mit der die Leute zu vielen Hunderten vor den Butter-, Zucker-, Kaffeeläden stehen und sich nicht einmal durch Polizistenpöbeleien aus ihrer Ergebung schrecken lassen, zur Verzweiflung treiben. Aber wenn das grauenvolle Schrecknis dieses Krieges möglich war, darf man dann aufhören, auf das Wunder einer Revolution zu hoffen?

(...)

Waidmannslust, Donnerstag, d. 20. April 1916

(...) Aus der von mir angestrebten Zusammenkunft wird leider, solange ich in Berlin bin, nichts mehr werden. Haase hat mir heute telefonisch erklärt, daß die Leute jetzt, ums Osterfest herum, nicht mehr zusammenzukriegen sind. Aber er sowohl wie Landauer halten die Sache selbst für so gut, daß sie für ihre Realisierung sorgen wollen. Ich denke nun in der nächsten Woche einige Tage in Leipzig zuzubringen und dort außer meinen eigenen Geschäften einen ähnlichen Zusammenschluß verschieden orientierter, aber jetzt vom gleichen Drang beseelter Menschen zu betreiben. Ein Besuch bei der ›Leipziger Volkszeitung‹ und bei den Literaten, die ich interessiert weiß, wird hoffentlich genügen, nun auch dort Wertvolles erstehen zu lassen. Wie ich es aber in München machen werde, davon hab ich noch keine Ahnung. Aber gemacht muß es auch dort werden!

(...)

Waidmannslust, Dienstag, d. 25, April 1916

(...) Ich hatte Gelegenheit, eine Anzahl von sozialdemokratischen Streitkundgebungen einzusehen, aus denen deutlich wird, wie uneinig auch die Minderheit unter sich ist, und wie weit entfernt die Richtung Liebknecht-Rühle mit ihrem Rückhalt bei den Mehring,Franz Mehring (1846–1919), sozialdemokratischer Publizist und Literaturwissenschaftler, Mitbegründer der USPD, Mitglied des Spartakusbundes. Luxemburg, ›Bremer Bürgerzeitung‹ etc. sich von der gemäßigten ›Arbeitsgemeinschaft‹ bewegt. Die ›Spartacus-Briefe‹,Flugschriften der linken Sozialdemokraten (Gruppe Internationale, dann Spartakus-Gruppe) ab Januar 1916, verfaßt u. a. von K. Liebknecht und R. Luxemburg. die ich in der Hand hatte, gehen äußerst scharf mit den Haase-Leuten ins Gericht, die nie den Mut fanden, Liebknecht bei seinen kurzen Anfrage-Aktionen etc. zu unterstützen. Außerdem erhielt ich eine Broschüre von Julian BorchardtJulian Borchardt (1868–1932), linker Sozialdemokrat, Herausgeber der Zeitschrift ›Lichtstrahlen‹, 1918/19 Mitglied der linksradikalen Internationalen Kommunisten Deutschlands, Bremen. über die Politik der Partei vor und nach dem 4. August 1914, aus der mir der Beweis am interessantesten war, daß die ganze Haltung der Partei zum Kriege bestimmt war von der Angst um die 20 Millionen in Parteiunternehmungen investiertem Kapital.

Höchste Zeit zum Aufbruch!

München, Montag, d. 1. Mai 1916

(...) »Hamstern« ist das neueste Schlagwort der Presse und des Publikums, und die »Hamster« dienen jetzt, wie vordem Juden und Wucherer, als Sündenböcke für den steigenden Nahrungsmittelmangel. Wie fraglos der Wucher einen Teil der Schuld an der allgemeinen Teuerung trägt, so beschleunigt in gewissem Maße das Anhäufen von Nahrungsmitteln in den einzelnen Hausständen die wirtschaftliche Erschöpfung Deutschlands. Aber ich glaube, daß diese Erscheinungen minimal auf die Gesamtsituation einwirken und daß eben doch die systematische Aushungerungspolitik der Entente den Ruin der Volkskraft unaufhaltbar herbeiführt. Allmählich wird es das Volk ja wohl auch trotz aller noch so forschen – dabei aber höchst mangelhaften – »Organisation« und trotz aller Schuldhäufung auf Einzelne merken, daß Schlachtensiege und Durchhalterei es auf die Dauer nicht werden füttern können. Ich begrüße die »Hamsterei« deshalb als ein Mittel zur Beschleunigung der Katastrophe, wie Amerikas Eingreifen mir aus demselben Grunde erwünscht wäre.

(...)

München, Donnerstag, d. 4. Mai 1916

(...) Ich war wegen meiner Konferenzen bei Aster und Prof. Schmid. Beide wollen mittun. Beide »versprechen sich nichts davon«. So sind sie fast alle. Das Richtige wissen, aber nie die Vorsicht vergessen. Vorweg entmutigen und hintennach, wenn sie an Haaren und Kleidern zur Aktion gezerrt sind, den Ruhm einstreichen.

München, Freitag, d. 5, Mai 1916

Ich überlege, wie ich den Leisetretern den Teppich wegziehen kann und will es vorerst damit versuchen, daß ich ihren Wünschen entspreche und ihnen für die Zusammenkunft ein richtiges Arbeitsprogramm entwerfe. Wie das aussehen wird, weiß ich noch nicht. Jedenfalls habe ich in Briefen an Haase und Landauer das »Konkrete«, das zur Besprechung kommen soll, vorgezeichnet. Es kommt darauf an, die von verschiedenen Weltanschauungen zur Zeit in eine Richtung gedrängten Elemente zu Besprechungen zusammenzuführen, bei denen 1.) die Wege gesucht werden sollen, auf denen man die wirksame und ganz ungenierte Propaganda der AlldeutschenAlldeutscher Verband: 1891 gegründete Organisation zur Propagierung einer nationalistischen Eroberungspolitik. durch eine ebenso wirksame Propaganda durchkreuzen kann, 2.) für den Fall plötzlicher Ereignisse, als Revolution (mag sie unwahrscheinlich sein – möglich ist sie!), Freigabe der Kriegsziel-Erörterungen,Die öffentliche Erörterung der deutschen Kriegsziele (Annexionen, politische Vorherrschaft in Europa, Erweiterung des Kolonialbesitzes) wurde im Dezember 1914 verboten (bis November 1916). Waffenstillstand oder sonstwelche Überraschungen die Obliegenheiten des Einzelnen in Verbindung mit denen der anderen fixiert oder doch überlegt werden müssen, 3.) jeweils auftauchende Einfälle, Vorschläge, Wahrnehmungen der richtigen Behandlung zuzuführen wären. Vorläufig »versprechen« sich die Herren nichts davon. Wollen mal sehen, ob ihre Passivität oder meine Aktivität stärkeren Atem hat.

(...)

München, Dienstag, d. 23. Mai 1916

(...) Erdmann sowohl wie vorher ein junger Lyriker, der mit einem Gruß von Jenny bei mir vorsprach, erzählten von der Liebknecht-Demonstration am Potsdamer Platz,Am 1. Mai 1916; nach anderen Quellen mehrere tausend Teilnehmer. Liebknecht wurde verhaftet und im Juni 1916 zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Es folgten Demonstrationen und Proteststreiks in mehreren Städten Deutschlands am 27./28. Juni 1916. an der offiziell 200 Personen teilgenommen haben sollen (als ob auf dem Potsdamer Platz eine Ansammlung von 200 Personen auch nur als Auflauf angesehen würde!). Man scheint zwei Nullen bei der Zahl unterschlagen zu haben, und es ist bei der Zerstreuung nach beiden Aussagen auch Blut geflossen. Liebknecht soll zur Zeit in Moabit sitzen. Ich finde, man muß jetzt möglichst viele in ihrer Weltanschauung voneinander entfernte Menschen gewinnen, um Solidaritäts- und Sympathiekundgebungen für den Mann herbeizuführen. Das wäre zugleich eine gute Gelegenheit, aufrechte Menschen von Opportunisten und Leisetretern zu scheiden. Da in München kaum etwas zu machen ist, will ich auch das nach Berlin anregen.

(...)

München, Sonntag, d. 18. Juni 1916 (früh)

Das Volk steht auf! – Gestern erlebten wir den Auftakt der Revolution. – Mittags brachte meine Frau das Gerücht nach Hause, am Marienplatz sei etwas los gewesen, ein Butterkrawall oder dergleichen. Abends waren wir im Bunten Vogel, wo erzählt wurde, um sieben Uhr habe es am Marienplatz Krach gegeben, die Leute ständen noch da. Wir entschlossen uns (um zehn Uhr) noch hinzugehen. In der Tat stand der Marienplatz voll von Leuten, die ich auf 10000 Personen schätzte (eine unsichere Schätzung, da ich keinen rechten Maßstab hatte). Johlen und Pfeifen war zunächst das einzige Merkmal einer Erregung. Allmählich hörte man aus den Gruppen heraus lautes Fluchen, Aufklärungen, Anklagen wegen der Not, der Nahrungsmittelverteilung, der Massenmörderei. Vor dem Café Rathaus standen etwa zehn berittene Schutzleute aufgepflanzt, zunächst ohne sich zu rühren. Man erfuhr, daß kurz vorher die Gäste des Caféhauses Wasser aus den Fenstern geschüttet und Brotreste heruntergeworfen hätten. Darauf seien die Fenster des Lokals eingeworfen worden. – Allmählich kam auch jetzt wieder Bewegung ins Ganze. Die Schutzleute ritten herum, forderten zum Weitergehen auf, trieben die Menge auf dem Platz herum. Auf der Mariensäule standen dreizehn-, vierzehnjährige Jungen, die bis zu den Mittelfiguren hinaufgeklettert waren und mit Blumenstöcken warfen. Einer, den ein Schutzmann zum Herunterkommen aufforderte, erwiderte: »Mei Mutter weint den ganzen Tag, weil's ka Brotmark'n nimmer hat. Gibst mir deine, dann kumm i abi.« – Am Rathaus hörte man Fenster einschlagen. Allgemein war aber die Stimmung noch mehr neugierig als aufgeregt. Das änderte sich plötzlich, als die Dienerstraße entlang Militär anrückte, mit aufgepflanztem Bajonett, und sich vor der Ostseite des Rathauses aufstellte. Eine maßlose Wut brach durch. Alles schrie Pfui! – Gemeinheit! – Sauhunde! – Blaue Bohnen statt Brot! und ähnliches. Man sah dann, wie die Soldaten über den Platz gingen und wie an der Ecke Rindermarkt von ihnen ein junger Mensch festgenommen wurde. Der Lärm steigerte sich jetzt ungeheuer. Auch wir drangen jetzt bis zu den Soldaten durch, die von der Menge gehöhnt und beschimpft wurden: »Schamts euch! Auf die eignen Frauen und Kinder loszugehn! Franzosen täten dös net!« Die Leute (Leibregiment) schämten sich offensichtlich. Wo man einen persönlich anredete, entschuldigte er sich achselzuckend: »Mir müssen doch!« – Angesichts der infolge der Provokation bedrohlichen Volkswut zog sich die Kompanie dann zum alten Rathaus zurück. Jetzt flogen Steine und harte Gegenstände gegen die Fenster anderer Häuser (Hagé und Pölt etc.), und plötzlich hörte man aus der Rosenstraße einen Riesenlärm von Steinwürfen und niederprasselnden Fensterscheiben, jeder Wurf vom donnernden Bravo der Massen begleitet. Erst nach geraumer Weile, nachdem die Seidische Bäckerei jedenfalls schon gehörig zugerichtet war, ritten die Schutzleute in die Straße hinein und versuchten Ruhe zu schaffen. Wir standen indessen vor dem Westflügel des Rathauses, wo ebenfalls hin und wieder eine Scheibe klirrte. Plötzlich ein wildes Geschrei, Frauengezeter, wildes Durcheinanderrennen. Die Polizisten hatten blank gezogen und ritten jetzt, nach allen Seiten schlagend, über den Platz. Man hörte Schreie von Verwundeten, namenlose Wutäußerungen: Pfui! Sauhunde! Preußenknechte! Helden! Auf Weiber und Kinder habt ihr Mut! Pfui! Pfui! Nach allen Seiten stob das Volk auseinander und staute sich in den Seitenstraßen. Wir gerieten in die Weinstraße. Auf einmal stürzten sich Schutzleute zu Fuß mit blanker Waffe auf uns. Tolle Flucht und Geschrei. Wir wurden in ein Seitengäßchen abgedrängt, das zur Frauenkirche führt. Auch dahin folgten die jetzt heldisch geblähten Säbelschwinger. Eine Dame, die sich uns angeschlossen hatte, kriegte einen Hieb mit der flachen Klinge auf den Rücken. Endlich kamen wir durch Haufen aufgeregter Menschen hindurch zur Neuhauserstraße, wo die allgemeine Erregung noch nachzitterte. Wieviel Verhaftete und wieviel und welche Art Verwundungen, wird man wohl bald durch Gerüchte erfahren. Daß die Geschichte erst ein Anfang war, scheint mir ganz sicher. Heute am Sonntag wird schwerlich die Fortsetzung ausbleiben. In der Weinstraße war der allgemeine Ruf: »Auf Wiedersehen morgen!« Und ob sich nach solcher Aufführung der Staatsgewalt das Volk wieder unbewaffnet den Bewaffneten ausliefern wird, ist mir sehr fraglich. Die Demonstration trug gestern schon durchaus revolutionären Stil. Rufe wie »Frieden! – Nieder mit dem Krieg! – Brot!« erschollen überall, und nachher in der Stadt hörte man kein anderes Urteil als: »Ganz recht so! Es mußte ja mal so kommen! Noch lange nicht genug!« Die Erregung ist sehr groß, und das Volk scheint einig zu sein. Fragt sich nur, ob die Soldaten soviel Schneid aufbringen, zu den Ihren zu halten, wenn es drum und drauf ankommt, oder ob sie sich von ihren Oberen ebenso gegen ihre Angehörigen kommandieren lassen wie gegen Russen und Franzosen. Vielleicht erweist sich's schon heute.

Ursache zu dem Krawall soll dieser Vorfall gewesen sein: Gestern vormittag erschien am Viktualienmarkt eine Bauersfrau mit großem Buttervorrat, den sie verkaufen wollte. Die Kundschaft, der sie die Ware gern billig gegeben hätte und die sie gern gekauft hätte, hatte aber keine Butterkarten mehr. So kam man überein, die Butter solle halt ohne Karten verkauft werden. Dazu kam ein Schutzmann und verbot den Verkauf. Die weinende Frau sollte mit ihrem teuren Gut wieder nach Hause ziehen und die Leute ohne die köstliche Gottesgabe. Denn unsere treffliche Organisation verlangt es so. Die Menge nahm nun Stellung gegen den Schutzmann, der soll dann, als er blankzog, verprügelt worden sein, und dieser Krach setzte sich dann in Massenansammlungen am Marienplatz und demonstrativen Rufen vor dem Rathaus den ganzen Tag fort, bis um Mitternacht (genau um zwölf Uhr nachts kam die Säbelattacke, jedenfalls wollte die Münchner Polizei um keinen Preis die Polizeistunde überschreiten lassen) das Kampffeld von den Helden der Ettstraße behauptet werden konnte. War dieser Münchner Krawall, der offenbar weitaus intensivere Formen hatte als die vorangegangenen Krachs in Berlin, Hamburg, Leipzig etc., mehr als die vorübergehende Äußerung von allgemeinem Mißmut, war er, wie ich hoffe, nur der erste Schritt auf dem Wege entschlossener Selbsthilfe, und greift sein Beispiel über auf andere Städte – vielleicht zunächst nur in Bayern – dann kann es mit dem Kriege nicht mehr lange dauern. Gegen den bewußten und systematischen Widerstand des Volkes kann keine Regierung lange bestehen. Außerdem bezweifle ich, ob sich eine Armee lange vor dem Feinde halten läßt, die es – trotz aller Verheimlichungen – ja doch erfahren muß, daß die Ihrigen daheim den wahren Feinden den Krieg erklären.

München, Montag, d. 19. Juni 1916

Nachzutragen zu der Samstag-Demonstration am Marienplatz wäre, daß unter den Demonstranten eine ganze Anzahl Soldaten in Uniform waren, die sich kräftig an den Ausrufen beteiligten und durchaus offen mit dem Volk fraternisierten. Andere kamen in Zivil, aber mit Kriegsauszeichnungen. So war einer da mit dem Band des Eisernen Kreuzes, der angesichts der Säbelattacke meinte: »Einen Arm ham's mir draußen schon kaputtg'macht. Geht der andre aa hi, ist's aa wurscht.« Ein andrer hatte die ganze Heldenbrust mit bunten Bändern von Orden, Verdienst- und Tapferkeitsmedaillen vollgesteckt und schimpfte am lautesten mit. Der amtliche Polizeibericht weiß natürlich bloß von Pöbel und halbwüchsigen Burschen und stellt den ganzen Vorgang als ganz unernst hin. Immerhin klebten schon gestern früh um fünf Uhr Anschläge in der ganzen Stadt, wonach Zusatzbrotmarken wieder ausgegeben werden sollen, und zwar auch am Sonntag.

Es hat also gewirkt. Gestern kam es – wahrscheinlich infolge des raschen Funktionierens der Nahrungsmittel-Versorgungsstelle zu keinen neuen Kundgebungen. Der Marienplatz wimmelte den ganzen Tag von Sonntagsspaziergängern, die sich den Schaden an den Fensterscheiben betrachteten, Schutzleute zu Fuß und zu Pferde machten sich wichtig, hofften aber vergeblich darauf, ihren Tatendurst befriedigen zu können. Denn es war bekannt gemacht worden, daß die Polizei angewiesen sei, gleich bei Beginn neuer Unruhen »mit aller Strenge« vorzugehen. Man hat die Schufte nur bei der Arbeit sehen müssen, um zu erkennen, wie das Volk regiert wird, das die Kosaken als blutrünstige Bestien vorgemalt bekommt. Es sind 20 Personen verhaftet worden, über die Zahl und Art der Verwundungen ist keine Meldung laut geworden.

(...)

Von Landauer bekam ich einen sehr ausführlichen Brief, in dem er begründet, warum es ihm unmöglich ist, zu der von mir gewünschten Aktion mit Haase und GerlachGerlach, sozialdemokratischer Abgeordneter. die Initiative zu ergreifen. Er meint, wir hätten doch zu wenig Gemeinsames mit allen Politikern, um mit ihnen gehen zu können, ohne uns herabzuschrauben. Zu meiner Liebknecht-Verteidigung in der ›Bremer Bürgerzeitung‹›Ein mutiges Bekenntnis‹, abgedruckt am 8. Juni 1916 in der Zeitung der Bremer Linksradikalen. beglückwünschte er mich. Gegen die Bemühungen, eine Revolution zu provozieren, wendet er sich aus dem Grunde, der auch die Russen jetzt von Erhebungen absehen läßt: weil dazu bestimmte Ziele aufgestellt und organisatorisch vorbereitet sein müßten. Die Ansicht teile ich gar nicht. Das Ziel einer Revolution wäre jetzt einfach Friede. Ist der erreicht, dann hat das Volk ein moralisches Plus, das es für die Vorbereitung größerer und sozialistischer Dinge sehr aufnahmefähig machen müßte.

(...)

München, Mittwoch, d. 21. Juni 1916

(...) Anscheinend hat die hohe Polizei in diesen Tagen meiner kleinen Person wieder ihre erhöhte Aufmerksamkeit zugewandt. Gestern traf ich in den Kammerspielen (›Nach Damaskus‹ I. und II.)Zweiteiliges Drama von August Strindberg (1898, dt. 1912). das Ehepaar Feuchtwanger, das mir erzählte, die Kriminalpolizei habe in der Torggelstube anfragen lassen, ob ich dort noch verkehre. Man scheint mich in Verdacht zu haben, die ganze Sache organisiert zu haben, als ob sich so was überhaupt organisieren ließe! Meine Tätigkeit bei dem Tumult erstreckte sich einfach darauf, den Rufen der Menge eine bestimmte Richtung zu geben, die Aufregung über die Brotnot auf ihre Ursache, den Krieg, hinzulenken. Aber die Rufe »Nieder mit dem Krieg« »Wir wollen Frieden!« etc. wären wohl ohne mein Zutun auch laut geworden, wie denn die Behörde meinen Einfluß auf die Massen überhaupt erheblich überschätzen dürfte. Ich wollte, ich könnte ihrem Verdacht noch recht geben.

(...)

München, Sonnabend, d. 19. August 1916

Ich bin immer noch ganz zermürbt von einem kurzen Gespräch, das gestern mittag zwischen mir und meinem alten Freund Bernhard Köhler stattfand, der – Leutnant und Kompanieführer einer Maschinengewehrabteilung – zur Zeit auf Urlaub hier ist. Er stand mit seiner Kompanie vor Verdun, wo es am ärgsten zugeht, und nennt die Tage dort die glücklichsten seines Lebens. Und zwar preist er den Krieg um des Krieges selbst willen. Die Hemmungslosigkeit – sein eigenes Wort – mache das Kriegsdasein so reizvoll. Auf meine Erwiderung, es sei doch Mord, was er da treibe, gab er das glatt zu, auch daß diese Auffassung Barbarei sei. Ich meinte, es sei doch schrecklich, jeden Moment dem Sterben ausgesetzt zu sein. Nein, das sei gerade das Schöne. – Gut, für ihn als Freiwilligen. Aber ob er sich denn das Recht anmaße, das Leben anderer Leute zu vernichten, die nicht so denken? Und seine Leute hineinzujagen? – Ja. Anspruch auf Respektierung seines Lebenswillens habe kein Mensch. – Ich konnte mich nicht enthalten, Köhler zu sagen: »Wenn ich in Ihrer Kompanie wäre, säßen Sie jetzt nicht hier.« Er lachte und meinte, das müsse man in Kauf nehmen, und fand auch nichts dabei, als ich sagte: »Gegen Ihre Ansichten gibt es kein Widerlegen mehr. Dagegen gibt es nur noch Totschlagen.« Köhlers jetzige Denkart ist aber, wie mir scheint, einfach die Konsequenz jenes ruchlosen Ästhetizismus, der vor fünfzehn Jahren Mode war, von Köhler speziell mit einem gewissen mystischen Umhang angetan wurde, und nun, durch den Eindruck des Krieges einen Wahnsinn in ihm bewirkt hat, der sich auch in einem merkwürdigen Flackern im Auge ausdrückt. Ich bin überzeugt, daß seine Tätigkeit am Maschinengewehr, dies seit einunddreiviertel Jahren geübte Abschießen von Franzosen, in ihm geradezu eine Lust am Töten geweckt hat, daß er das Hinschlagen von Menschenleibern unter seiner Arbeit an einem kunstvollen Apparat als Sportsmann zu beobachten sich gewöhnt hat und nun das Vernichten von Menschenleben wie ein rohes Spiel betreibt, das er sich mit ästhetisch-philosophischen Betrachtungen jedesmal noch amüsanter macht. Ich zweifle kaum daran, daß für Köhler die Teilnahme am Kriege zum Irrsinn führen wird, und so wird auch er als Kriegsgefallener zu betrauern sein, und man möchte sogar hoffen, daß ihn der Tod durch Abschuß noch vor dem furchtbareren Los bewahren möge.

(...)

München, Montag, d. 9. Oktober 1916

(...) Eben kommt Besuch mit der Mitteilung, daß bei Maffei die Munitionsarbeiter streiken und daß bei Kustermann eine große Zahl Bomben gestohlen seien. Die Offiziere seien mit geladenen Revolvern ausgestattet worden und jeder Mannschaftsurlaub sei aufgehoben. Wenn's doch wahr wäre! Wenn doch endlich die Einsicht ins Volk käme, daß die Erlösung vom Übel nur von ihm ausgehen kann! ... Die Contre-Revolution ist in vollem Gange. Die Reichskanzler-Fronde arbeitet mit Hochdruck am Sturz der ReichsregierungMit der Ernennung Hindenburgs zum Chef des Generalstabes Ende August 1916 und dem Eintritt von führenden Industriellen in die Militärbehörden tritt das ›Hindenburgprogramm‹ in Kraft, das mit wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen auf einen totalen Krieg hinsteuert.. Die Herren KirdorfEmil Kirdorf (1847–1938), Großunternehmer der Montanindustrie in Ruhrgebiet, Saarland und Elsaß-Lothringen., KörtingBerthold und Ernst Körting, Rüstungsfirma, gegr. 1871., BassermannErnst Bassermann (1854–1917), nationalliberaler Parteiführer., StresemannGustav Stresemann (1878–1929), nationalliberaler Politiker. und Genossen dürfen sagen, tun und lassen, was sie mögen. Der ›Vorwärts‹ aber, der behauptet hatte, daß diese Leute pekuniär an der Ausdehnung des Kriegs interessiert seien (was für jeden denkenden Menschen selbstverständlich ist), ist seit heute verboten ... An der Somme und in Galizien gehen die entsetzlichsten Kämpfe weiter, die Alliierten nehmen den Deutschen hier und da ein wenig Gelände weg, und es bleibt alles unverändert trostlos. – Ich komme mir bei allem so überflüssig und ratlos vor. Zur Aktivität findet sich nicht die leiseste Gelegenheit. Seit etwa einem Monat korrespondiere ich lebhaft mit Julian Borchardt. Ich habe ihm vorgeschlagen, ich werde nach Berlin kommen, um ein Zusammengehen der Anarchisten mit dem äußersten linken Flügel der internationalistischen Sozialdemokraten zu erwägen. Er ist radikal genug, um selbst das Auftreten der Spartakus-Gruppe in der sozialdemokratischen Reichskonferenz als zu schlapp zu verurteilen. Aber die Lehren der Kirchenväter sitzen auch bei ihm noch zu fest. Es soll alles vom »historischen Materialismus« herkommen, statt von Leidenschaft, Sehnsucht und Empörung. – Das Wichtigste wäre Verbindung mit jungen Leuten. – Aber wie an sie herankommen, da sie zum Teil von der Jugendwehr, zum anderen von der Partei beschlagnahmt sind? – Ich hoffe – hoffe – hoffe – aber ich weiß nicht worauf noch woraufhin.

München, Sonntag, d. 22. Oktober

Es ist eine außerordentliche Tat geschehen. Gestern mittag hat in Wien in einem Restaurant Dr. Friedrich AdlerFriedrich Adler (1879-1960), linker österr. Sozialist mit Kontakten zu russischen Sozialrevolutionären. Wurde zum Tode verurteilt und nach der Revolution 1918 amnestiert. den österreichischen Ministerpräsidenten Grafen StürgkhKarl Graf von Stürgkh (1859-1916), österr. Ministerpräsident des Beamtenkabinetts; verhinderte die Wiedereinsetzung des Parlaments. erschossen. Der erste Akt demonstrativer Selbsthilfe, begangen in dem Lande, von dem alles Unglück seinen Ausgang nahm, an einem Manne, der repräsentativ und verantwortlich ist und dem ein großer Teil der Schuld an der Balkanpolitik Österreichs zufällt, die zu dem ganzen Unheil den Hauptanstoß gab. Begangen obendrein von einer weit bekannten revolutionären Persönlichkeit, dem Sohn des Führers der österreichischen Sozialdemokratie Viktor Adler,Viktor Adler (1852-1918), Begründer der österreichischen Sozialdemokratie. von einem Marxisten, der damit zugleich den ledernen Riemen der öden sozialdemokratischen Entwicklungstheorie durchschnitt. Mich erfüllt die Tat mit größter Freude und Genugtuung. Die pädagogische Wirkung muß unbeschreiblich sein. Mit dem »fluchwürdigen Verbrechen« werden die Leute ja nicht viel anfangen können in einer Zeit, wo das Hinschlachten von Menschen als heldenhaft gilt und wo täglich Tausende Unschuldiger bluten müssen. Aber ich habe ein beinah mystisches Gefühl, daß dieser Schuß ein Signal für den Frieden sein wird. Mit der Ermordung eines österreichischen Repräsentanten begann der Anfang, ebenso beginnt nun das Ende des Krieges. – Ich kannte Friedrich Adler in Zürich, wo wir oft im Café Terrasse zusammensaßen und uns über Anarchismus und Sozialdemokratie stritten. Seine tapfere Tat wird ihn die Sympathie vieler seiner Genossen kosten, die ihre politische Parteistellung gefährdet sehen werden. Er aber wird für diese Tat sterben, und wir, seine grundsätzlichen Gegner, werden ihn als gefallenen Kameraden betrauern und verehren.


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