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Also es wäre wieder mal ein Gitterjahr hinter uns, und das neue hat begonnen. Gefühlvolle Betrachtungen kann ich mir ersparen, enthusiastische Hoffnungsarien ebenfalls. Immerhin beginnt das Jahr 1923 angenehm. Es ist herrliches Wetter, und obendrein ist mir heute früh nach einer so gut wie lange nicht durchschlafenen Nacht das beste passiert, was ich zu erleben weiß und was ich seit Jahr und Tag nicht mehr erlebt habe: die Konzeption einer neuen dichterischen Arbeit, eines satirischen Lustspiels, das wahrscheinlich den Titel führen wird ›Einerseits – Andrerseits‹Vorstufe des 1930 abgeschlossenen Schauspiels ›Alle Wetter‹. und das in den gröbsten Umrissen zugleich mit dem Einfall und dem Titel sofort vor mir stand. Ich denke also, daß ich in diesem Jahr wieder mal etwas Literarisches zuwege bringen werde. Das verflossene Jahr war literarisch vielleicht mein ärmstes in zwanzig Jahren. Dies Tagebuch ist nahezu das einzige, was davon übrig bleiben wird, außer ganz wenigen Gedichten, von denen das letzte, ›Ewiges Diesseits‹,In: ›Sammlung 1898–1928‹, Berlin 1928. auch bislang der einzige Ertrag der Religionsgedanken ist, mit denen ich mich seit mehreren Wochen herumtrage. Ich hoffe, mit dem Lustspiel bald soweit zu sein, daß ich an die ersten schriftlichen Niederlegungen denken kann, und habe ich mich überhaupt erst wieder ins Arbeiten gefunden, dann läßt mich hoffentlich der Furor nicht wieder los, und ich ermanne mich auch wieder zur Weiterarbeit am ›Mann des Volkes‹. Vier Kapitel liegen nun fast zwei Jahre da, und dann hat mich die vierzehnmonatige Schikane der Zensur zu keiner Neuanspannung der Energie mehr kommen lassen.
(...)
Ich muß wieder neue Scheußlichkeiten vom Hause notieren, die mir gestern noch große Aufregung und dann eine unruhige Nacht verursachten. Ich war gerade mit der Eintragung ins Tagebuch fertig und wollte meine Briefe schreiben, da wurde ich ins Rapportzimmer hineingerufen. Herr Fetsch teilte mir mit, daß Herr Hagemeister den Wunsch geäußert habe, mich zu empfangen, da er mir den Auftrag geben wolle, seiner Familie Nachricht zu geben. Der Vorstand habe genehmigt, daß ich zu ganz kurzem Besuch zu ihm dürfe und daß das Gespräch, das höchstens nur fünf Minuten dauern dürfe, sich ganz auf diesen Auftrag zu beschränken habe. Ich erwiderte gar nichts, um nicht etwa durch eine unbedachte Äußerung über derartige Rechtsverkürzung, weil jemand krank ist, einen Vorwand zu schaffen, die Unterredung überhaupt zu durchkreuzen, und wurde also zu ihm geführt und zwar in Begleitung des Herrn Werkmeisters Fetsch und des Herrn Sanitätswerkführers Bastian, die mich – einer links, der andere rechts von mir – umstanden, als sollte ich als Delinquent einem Untersuchungsrichter präsentiert werden. Der arme August sah entsetzlich schlecht aus, sehr bleich und mit Schweißtropfen im Gesicht und um die trüben Augen. Er saß nicht im Stuhl, sondern mit ausgestreckten Beinen auf dem Bett, das hinten mit Keilkissen so hochgestützt war, daß der Oberkörper aufrecht sitzen konnte. Die öde Zelle machte einen trostlosen Eindruck. Er reichte mir zum Gruß die Hand, die kalt und feucht war. Dann wurde noch einmal erklärt, was zu sprechen allein zulässig sei. August zog nun einen Briefentwurf vor, den er stenographisch aufgesetzt hatte, und bat mich, mich vor den Klapptisch zu setzen, um das Diktat aufzunehmen. Gleich griff Fetsch ein. Das sei nicht erlaubt worden, Hagemeister dürfe mir nur kurz sagen, was ich der Frau schreiben solle. Natürlich war die Aufregung sofort da. August erklärte – und man sah ihm bei jedem Wort die schwere Anstrengung an, seinen Zorn zu meistern –, er habe vom Arzt keine Aufklärung über seine Krankheit erhalten können; da man ihn aber isoliert habe, ihm so vollkommene Ruhe vorschreibe, daß ihm auch das Zeitungslesen versagt werde (LuttnerFerdinand Luttner (geb. 1887), 1921 wegen Beteiligung an der Münchner Räterepublik zu drei Jahren Festungshaft verurteilt; gehörte zu den wenigen mit Mühsam befreundeten KPD-Mitgliedern. erhielt gestern noch den ablehnenden Bescheid) und er also offenbar als Schwerkranker behandelt werde, sich auch so fühle, müsse er mit seinem Tod rechnen, und da werde man ihm doch wohl nicht verwehren können, seiner Frau genau das mitteilen zu lassen, was er für nötig halte. Der Herr Fetsch war ohne jedes Empfinden dafür, daß er einen Schwerkranken vor sich hatte, warf sich in Kommandeurspositur, brüllte wie ein Kasernenraunzer und hängte den jedem Gefängnisschinder geläufigen Tierbändigerblick ein, der mich schon oft bei dieser Art Leute amüsiert hat und mit dem sie zu imponieren und jeden Widerspenstigen zu Räson zu bringen meinen. Hagemeister verbat sich energisch das Anschreien und das Drohen mit den rollenden Augen, während Herr Bastian dastand, als ginge ihn das Ganze nichts an, obwohl er als Vertreter des Arztes doch berufen gewesen wäre, den anderen darauf aufmerksam zu machen, daß der Kranke eben Ruhe brauche und nicht als Rekrut behandelt werden dürfe. Ein Wort gab nun das andere, wobei ich ausdrücklich festhalten will, daß August nicht eine Silbe sagte, die unsachlich oder persönlich gewesen wäre. Er protestierte bloß dagegen, daß man die Krankheit zum Vorwand nahm, um ihn augenfällig zu disziplinieren, während Fetsch, wenn auch nicht in beleidigenden Worten, so doch in der Tonart immer ausfälliger wurde und einfach die Unterredung abzubrechen drohte, dazu sogar schon die Tür aufriß, so daß August, der ängstlich vor Zug geschützt sein soll, direkt kalt angeweht wurde. Erst als er scharf verlangte, daß die Tür geschlossen werde, ließ Herr Bastian sich dazu herbei. Ich war in größter Erregung und Empörung, beherrschte mich aber doch genügend, um den Versuch zu machen, eine Lösung des Konflikts herbeizuführen. Ich ersuchte Fetsch, er möchte doch noch mal zum Vorstand hinüber telefonieren, ob das Diktat nicht gestattet werden könne. Ich erhielt in geübtem Ton die Antwort: »Nein, ich frage nichts mehr an. Ich hab eben erst angerufen.« Dabei blieb es trotz meiner wiederholten Anregung. August erklärte jetzt, wenn man ihn auf diese Weise hindere, seiner Frau die nötigen Mitteilungen schicken zu lassen, dann werde er von jetzt ab die ganze ärztliche Behandlung sabotieren, sich geheilt erklären und die Verantwortung für alles, was daraus folgen sollte, selber tragen. Jetzt griff ich endlich mit dem Vorschlag sein, er solle mir den Brief langsam vorlesen, ich werde, da mein Gedächtnis recht stark ist, versuchen, ihn mir einzuprägen und ihn dann schriftlich reproduzieren. Glücklicherweise gingen beide Teile auf diesen Kompromiß ein, so daß dem armen Freund die abscheuliche Qual erspart blieb, sich an jeder Verständigung der Seinen verhindert zu sehen.
(...) Ich schrieb darauf sofort den Eilbrief und brachte ihn selbst hinunter, um ihn Herrn Fetsch zu übergeben. Dabei ersuchte ich ihn, er möge das Schreiben sofort Hagemeister hineinbringen, damit er mir Bescheid geben könne, ob er Streichungen oder Änderungen irgendeiner Art wolle. Ich würde solange im Rapportzimmer bleiben. Aber der tüchtige Beamte sah mich ganz entgeistert an. Das ginge nicht, daß ihn Herr Hagemeister zuerst bekomme. Er werde den Brief aber sofort zum Zensor bringen, und wenn der es gestatte, dürfe auch Hagemeister lesen, was in seinem Auftrag seiner Frau geschrieben wird. Und so geschah es tatsächlich. Die Isolierung wird so stramm als Strafe durchgeführt, daß der Verkehr mit uns, mit seinem ständigen Umgang, allen Zensurschikanen unterstellt ist, mit denen wir sonst an unsere Stellung als bayerische Ehrenhäftlinge erinnert werden. Herr Fetsch benutzte aber auch meinen zweiten Aufenthalt unten zu neuen Beschwerden gegen Hagemeister, dessen Verhalten er als »Provokation« bezeichnete – er, der Kerkermeister, der da als Stellvertreter bayerischer Justizgötter den Schwerkranken wie einen Hundsfott angeschnaubt hatte –, und noch schöner! Er klagte mir – ausgerechnet mir! – sein Leid, daß er dafür, daß er noch extra hinüber telefoniert hat, nicht einmal Dankbarkeit fände. »Aber Dankbarkeit, die will man ja schon gar nicht verlangen! Aber so ein Betragen –« Damit stob der gekränkte Gerechtigkeitssöldling mit dem Brief zur Tür hinaus zum Zensor. – Mich hielt Ekel und Wut über die unsagbar rohe Brutalität nicht bloß der Ausführung, sondern schon der Anordnung all der Scherereien und Schändlichkeiten gegen einen kranken politischen Gefangenen und zugleich natürlich der Kummer über den wirklich recht besorglichen Zustand des Freundes bis zum Abend in der größten Erregung, und ich konnte lange keinen Schlaf finden.
(...)
August Hagemeister ist tot. Ich fühle mich noch nicht imstande, Tatsachen und Gefühle hinzuschreiben. Mein ganzes Ich ist ausgefüllt mit Schmerz und Haß. – Bis morgen schiebe ich alles auf.
Halb vier Uhr. Es wird doch richtig sein, die Ereignisse gleich in kurzer Aufeinanderfolge niederzuschreiben, solange sie ganz frisch sind. Hoffentlich läßt meine Sammlung in der Stunde bis zum Dunkelwerden nicht aus. Kurz nach acht Uhr kam Fetsch zu mir in die Zelle – es war noch dunkel, und ich lag im Bett – und forderte mich auf, mich sofort flüchtig anzuziehen, der Herr Oberregierungsrat wolle mich sprechen.
(...) Unten erwarteten uns im Rapportzimmer Oberregierungsrat Hoffmann, Regierungsrat Angiert und Dr. Steindl. Schon ihre Haltung verriet mir alles. Hoffmann sagte etwa folgendes (ich glaube, es ist wörtlich): »Meine Herren, ich habe Sie als die nächsten Freunde des Festungsgefangenen Herrn Hagemeister rufen lassen, um Ihnen mitzuteilen, daß die Krankheit heute in der Frühe ganz überraschend in einen sanften Tod übergegangen ist. Wenn Sie den Wunsch haben, Ihren Freund, so wie er gestorben ist, noch einmal zu sehen, dann bitte ich Sie mitzukommen.« Wir wurden dann hingeführt in eine Zelle, die der gegenüberliegt, in der ich August gestern vor acht Tagen zum letzten Mal sprach. Er saß im Korbstuhl, völlig zusammengesunken, vom Kopf war nur die Glatze, davor die vorderen Haare und der große Bart zu sehen, vom Gesicht selbst nur ein ganz schmaler Streifen. Die rechte Hand hing von dem auf die Stuhllehne gelegten Arm ausgestreckt hinab. Ferdl und ich sprachen kein Wort und ich glaube, ich habe lautlos geweint. Oben unterrichteten wir die Genossen, und nun brach lauter Zorn los, das Gefühl, das auch in mir rasch die Oberhand über den Schmerz gewann. Ich schloß mich gleich in meine Schlafzelle ein und weinte heftig, dann wusch ich mich und machte mich fertig. Die Aufregung im Hause war und ist noch sehr groß. Gegen den Arzt herrscht kochende Wut, zumal bekannt wurde, daß gestern bei seinem Besuch wieder die größte Aufregung beim August entstand, der die Behandlung weiterhin ablehnte. Der Arzt hat das selbst vorhin Daudistel,Albert Daudistel (1890–1955), Schriftsteller (KPD); verfaßte in Niederschönenfeld Erzählungen und einen Roman. der ihn konsultierte, bestätigt. Er hat ihn also nicht mehr behandelt, aber trotzdem nicht seine Hinaufschaffung zu uns veranlaßt. August ist, wie Fetsch Ringelmann erzählte, um zwei Uhr von dem wachhabenden Aufseher, da er eingeschlafen war, verlassen worden, und um dreiviertel sieben Uhr fand man ihn tot im Stuhl. Er hat also offenbar unter großen Schmerzen das Bett verlassen und im Sitzen Linderung gesucht. Da seine Freunde, die ihn hier oben bei den Anfällen stützten, damit er Luft bekomme – und er wird uns gewiß gerufen haben –, nicht da waren und sich niemand um ihn kümmerte, blieb dann wohl das Herz stehen. Er ist ohne Beistand, allein in der schändlichsten kahlen Gefängniszelle gestorben; man hat ihn einfach seinem Schicksal überlassen. – Von halb elf bis elf war ich im Hof. Als ich hinaufkam, wurde mir mitgeteilt, mir, Luttner, Sauber und Toller (den beiden anderen Landtagsabgeordneten)Hagemeister (KPD), Sauber (KPD) und Toller (USPD) waren von ihren Parteien als Landtagsabgeordnete aufgestellt worden. werde gestattet, der Aufbahrung in der Leichenhalle beizuwohnen. Unser trauriger kleiner Zug bewegte sich hinter der mit einem Leintuch verdeckten Bahre her, die von Aufsehern getragen und von Fetsch begleitet wurde, in ein kleines Gemach im vorderen Gebäude mit Eingang direkt vom gemeinsamen Hof aus. Man hatte in aller Eile das Zimmerchen schwarz ausgeschlagen und die schwarz belegten Bretter, auf denen August liegen sollte, mit Gewächskübeln umstellt. Schrecklich war mir das Hinüberlegen des Toten von der Bahre auf den Schautisch. Diese arme Hilflosigkeit, mit der die Glieder sich den Griffen anbequemten, die die Umlegung bewirkten! Die Leiche wurde wieder überdeckt, doch ließ man das Gesicht frei, das so kurz nach dem Einschlafen gar nicht wie das eines Toten aussah. Es wurde auch jetzt kein Wort gesprochen, bis Fetsch laut zu uns hinein das Kommando gab: »So, meine Herren, jetzt müssen wir weitermachen!« – Wir haben beschlossen, am Tage der Bestattung demonstrativ 24 Stunden hindurch die Nahrungsaufnahme zu verweigern, ferner werden fast alle fortan den Arzt völlig boykottieren. Justizministerium und Landtag sollen ausführlichen Bericht über die Umstände erhalten, die der Katastrophe vorangingen und zu ihr führten. Dazu ist wichtig, daß Schiff, der bis gestern in Einzelhaft auf demselben Gang wie August war, so klug war, datierte Aufzeichnungen über die Beobachtungen zu machen, die er treffen konnte. Vom Zwölften hat er Rufe von August vermerkt: »Das ist keine Krankenpflege hier! Man bringt mir nichts zu trinken! Seit drei Tagen ist nicht gelüftet worden, seit vier Tagen ist der Urin nicht ausgeleert. Wenn ich rufe, kommt niemand! Ich habe Anspruch auf Festungsbehandlung; dies ist Disziplinierung« usw. Kurz, jeden Tag gab es nun schreckliche Aufregung, und der Musterarzt hier (gegen den wir Strafanzeige nach § 222 St.G.B., Abs. 2 stellen wollen) hat Daudistel gegenüber heute noch erklärt, er habe zwar keine Herzgeräusche gehört – er hat übrigens sicher eine Fehldiagnose gestellt, indem er erst auf Rheumatismus, dann auf trockene Rippenfellentzündung riet; draußen haben schon früher Ärzte mit Röntgenuntersuchungen eine Verwachsung des Herzbeutels konstatiert –, aber Herr Hagemeister hätte sich nicht aufregen dürfen. Angeblich hat er ihn ja hinunterschaffen lassen, damit wir ihn nicht aufregen; wir alle sind überzeugt, daß er nicht hätte zu sterben brauchen, wenn man ihn oben gelassen, uns Nachtwachen erlaubt und ihm die entsetzlichen Aufregungen erspart hätte, die der Arzt bei jedem Besuch und Fetsch bei jeder Gelegenheit ihm verursachten. Daß der Todkranke die ärztliche Behandlung schließlich verweigerte, um nicht unnötig gequält zu werden, spricht ja für sich.
(...) Ziemlich kurz nach der ersten Mitteilung ließ ich den Vorstand noch einmal antelefonieren, er möge den Toten auf unsere Kosten photographieren lassen, was zugesagt wurde. Ekelhaft war dabei die Schmalzigkeit des Fetsch, der mir versicherte, das sei ein sehr guter Gedanke. »Er sitzt ja auch so sanft da!« meinte er und wiederholte tartuffehaft: »So sanft!« – Jetzt sind sie die rührsame Güte selbst, diese Henker, die meinen armen Freund bis zum letzten Tag schikaniert und gequält haben, wie es ihnen nur möglich war. Und leider war es ihnen in einem grauenvollen Maße möglich. – So ist August Hagemeister denn der erste von uns, der den bayerischen Foltermethoden gegen politische Gefangene erlegen ist. Der Strafzweck an ihm ist erreicht! Fluch uns Überlebenden, wenn wir's vergäßen!
(...) Ganz Deutschland treibt schon wieder im Strom nationalistischer Wallungen. Die Besetzung des Ruhrbeckens geht ununterbrochen weiter, Dortmund, Bochum, Gelsenkirchen – eine Stadt nach der anderen wird einbezogen, und der ›Matin‹ kennzeichnet die ganze Aktion Frankreichs und die Gegenmaßnahmen Deutschlands wohl ziemlich zutreffend als »Wirtschaftskrieg«.Die französische Besetzung des Ruhrgebiets wegen ausbleibender Reparationsleistungen verschärfte die wirtschaftliche und politische Krise in Deutschland und verhalf den Nationalsozialisten zu rasch wachsender Popularität.
(...) Aber während in allen Meinungskloaken im politischen Hauptpissoir das Volk in seiner Eintracht gepriesen wird, stinkt hinten der Öffnungskübel die widerlichsten Dünste der Parteibesudelung aus. Nationalisten, Demokraten, Sozialdemokraten – alles giftet einander Ekel und Pest an; einer wirft dem anderen »Landesverrat« vor, einer macht den anderen für Jammer und Unglück verantwortlich. Die bayerischen Hakenkreuzdesperados aber wittern Morgenluft. Die gehen wenigstens deutlich und offen heraus mit der Sprache. Die drohen den »Novemberverbrechern« – und dazu gehört alles, was seit 1918 republikanische Gesinnung heuchelt – Mord und Rache an, und selbst die friedliche ›Germania‹ meint, Ableugnen habe keinen Zweck mehr, es stehe was bevor in München (worauf die Regierung KnillingEugen von Knilling (1865–1927), Politiker der Bayerischen Volkspartei, Ministerpräsident 1922–24. Übertrug die Vollzugsgewalt im September 1923 auf Kahr. selbstredend nicht anders zu regieren weiß als durch – Ableugnung). Zenzl fährt heut abend nach Köln zum Besuch meiner Genossen, die dort einen Mühsam-Abend arrangieren, und so mag's meinetwegen gern anfangen. Einmal muß diese ewige Spannung sich ja doch wohl lösen. Daß wir kurz vor Ereignissen stehen, die, so oder so, auch unser persönliches Schicksal entscheidend beeinflussen müssen, sagt mir ein deutliches Gefühl. Der Gedanke läßt mich nicht los, als ob der traurige Auszug unseres August Hagemeister von Niederschönenfeld unser aller Verlassen dieser Schreckenskammer signalisiert habe: Er selbst spottete gelegentlich über sein beispielloses Pech und meinte mal: »Es sähe mir ähnlich, wenn ich noch kurz vor der allgemeinen Freilassung hier drinnen sterben müßte.« Heut nacht fiel mir das Gespräch wieder ein, und nun läßt mich der Gedanke nicht los, als ob's eine Prophezeiung gewesen wäre.
(...)
»Absonderung bis auf weiteres. Verbunden mit Briefverbot und Zeitungsverbot!« Das hat vor einer Stunde der Herr Oberregierungsrat Hoffmann über mich verfügt, und seitdem befinde ich mich in dem kahlen, schmucklosen, mit Riegeln, Zapfen und Schlössern hinlänglich versperrten Gemach, das mir der »Sicherung« wegen jetzt als Wohnraum dient. Gründe?? Es ist mir, obwohl der Vorstand mich so robust wie ein Rekrutenschleifer angebrüllt hat, auch jetzt noch nicht ganz leicht, die Sünde als Sünde zu erkennen, die ich begangen habe. Ich saß also vor meinem Tisch oben und schrieb am fünften Kapitel Bröschke. Mitten im Satz wurde ich gerufen und hinunterzitiert. Ich war mir so wenig irgendwelcher Schuld bewußt, daß ich meine Füllfeder neben dem geöffneten Manuskript liegen ließ, ja nicht einmal mein Pfeifchen in die Tasche steckte, das ich ganz ausnahmsweise mal fortgelegt hatte.
(...) Ich hätte, ging's los, heute früh einen Beamten in durchaus ungehöriger Weise zur Rede gestellt. Ich war völlig perplex, denn ich entsann mich nur eines einzigen Worts mit einem Märtyrer, das sich in absolut einwandfreier Form um meine Stiefelflickerei drehte. Ich ließ den Mann, der seine Stimme bei jedem Wort steigerte, erst mal zu Ende reden, um zu wissen, was er denn eigentlich wolle, und dann kam's endlich heraus, daß ich dem Sanitätswerkmeister Bastian »Vorhaltungen« gemacht und ihm »Fangfragen« gestellt habe. Ich war nämlich gestern – oder war's schon vorgestern? – jedenfalls nicht heute – Tollers wegen bei Bastian und bat ihn, er solle doch ein Abführmittel hergeben. Auf seine Erwiderung, er dürfe nicht ohne ärztliche Anordnung, meinte ich, und zwar mit vollkommener Ruhe und Höflichkeit, er habe doch früher auch schon selbständig Medikamente verabfolgt (So gab er mir im vorigen Jahr auf einfachen Appell an ihn Brusttee), und bat ihn – tatsächlich: Ich sprach in bittendem Ton zu dem Mann –, es sei doch klar, daß, wenn jemand keinen Stuhlgang habe, er doch ein Abführmittel brauche, ob er denn auch keine Klistierspritze geben wolle. Die Antwort blieb negativ, und ich ging mit den Worten: »Ist schon recht!« hinaus. Der Herr Oberwachtmeister Rainer war mit hineingegangen, mischte sich aber nicht ins Gespräch. Wie sich jetzt herausstellte, war er wohl da, um die »pflichtgemäße« Meldung zu erstatten. Jetzt bekomme ich's zu spüren, wie so eine Meldung lautet, wenn sie »pflichtgemäß« verfaßt ist. Übrigens vermute ich, daß der eigentliche Veranlasser der Meldung, die unter allen Umständen meine Disziplinierung nach sich ziehen sollte, der Herr Anstaltsarzt ist. Denn der bewegte sich, ehe ich zu Bastian eintrat, nervös beim Ganggitter herum und zeigte überdeutlich, wie unangenehm er es empfand, daß ich ausdrücklich Herrn Bastian verlangt und seine Bemühung abgelehnt hatte. Dies ist also der Tatbestand. Nach der Quasi-Anklageschrift, aus der der Herr Oberregierungsrat sein Material schöpfte, soll mein Auftreten sehr provokatorisch ein Zur-Rede-Stellen Bastians gewesen sein und wissentlich und absichtlich mit ganz bestimmtem Zweck auf die »Fangfrage« hingesteuert haben, ob schon immer ärztliche Verordnung zu jedem Abführmittel erforderlich gewesen sei. Dann sollte ich mich äußern. Ich tat das mit vollkommener Ruhe, da ich stark empfand, daß ich durch das ganz unmotivierte Anbrüllen in Erregung gesetzt werden und dadurch erst den Grund schaffen sollte, gegen mich etwas zu unternehmen. Ich bestritt ganz sachlich jede geringste Verletzung der Form und die Stellung von »Fangfragen«. Aber ich kam nicht weit mit meiner Rechtfertigung. Das »Hören« des Beschuldigten bestand zumeist darin, daß der Beschuldiger wie ein Fuhrknecht schrie und dabei einfach all das konstatierte, was ich bestritt: »Ich stelle fest, daß Sie sich in ungehöriger Form in die Angelegenheit eines Dritten gemischt haben« etc., daß ich Fangfragen gestellt habe, und das Schönste: daß ich mit Toller nicht befreundet sei. Ich wollte erwidern – aber das gab's nicht: »Ich weiß das«, »ich stelle es fest«, »da können Sie mir nichts erzählen«. Er »stellte« auch »fest«, daß Toller mir keinerlei Auftrag gegeben habe, ließ dann aber, als er auch noch behauptet hatte, daß ich ohne Tollers Vorwissen bei Bastian war, stenographisch meine Feststellung aufnehmen, daß ich Toller vorher von meiner Absicht, Bastian aufzusuchen, Kenntnis gegeben hatte. Daß ich um den Kranken besorgt gewesen sei, wurde glatt bestritten, da meine Freundschaft, wie die Verwaltung weiß, keine »so enge« zu Toller ist, wie sie etwa zu Hagemeister war. Infolgedessen lügt also ein Festungsgefangener, wenn er behauptet, er sorge sich um einen kranken Genossen, auch wenn er nicht der allerintimste Freund ist. Sogar daß Toller und ich politisch nicht übereinstimmen, hielt mir der Mann vor, worauf ich replizierte, ich sei politisch überhaupt isoliert, habe aber doch sehr gute Freunde im Haus. Kurz und gut, das Ende war, daß mir so brüsk, wie es ging, erklärt wurde, da festgestellt sei, daß ich mich in die Angelegenheit eines anderen eingemischt habe, der selbst durchaus schreibgewandt sei, da ich ferner einen Beamten ungehörig zur Rede gestellt und ihm mit bewußter Absicht Fangfragen gestellt habe, »verfüche ich«: Absonderung bis auf weiteres, verbunden mit Briefverbot und Zeitungsverbot.
(...)
Zehn Minuten vor vier. So. Jetzt weiß ich Bescheid. Ich hatte mich nicht getäuscht. Herr Rainer erschien eben bei mir mit zwei Eröffnungen: 1.) »Aus der Festungsstube des F. G. Mühsam wurden fünfzehn Zettel und ein blaues Heftchen wegen agitatorischen Inhalts zu den Akten genommen.« 2.) »Aus der Festungsstube des F. G. Mühsam wurden zehn Hefte mit täglichen Aufzeichnungen wegen politisch-agitatorischen und teils gröblich beleidigenden Inhalts zu den Akten genommen.« – Ich glaube, so heißt's wörtlich. Also alle meine Tagebücher! Ich werde wohl vorläufig nichts dagegen tun können, werde aber dem Untersuchungsausschuß das Nötige sagen.Der rechtswidrige Vollzug der bayerischen Festungshaft beschäftigte wiederholt den Reichstag und den bayerischen Landtag und war ein wichtiger Streitpunkt im Konflikt Bayerns mit der Reichsregierung. Untersuchungsausschüsse des Reichstags wurden daher abgewiesen oder nicht zu den Häftlingen vorgelassen. Das wird mir erleichtert durch die Beschlagnahme des blauen Heftchens und der Zettel – allerdings: fünfzehn Stück? so viele waren's meines Wissens lange nicht –, die kaum andere sein können als die mit den vorbereitenden Notizen für den Empfang des Ausschusses. Sollte man etwa den TapezierkursusMühsam ließ seinen Romanhelden Bröschke eine Tapeziererlehre machen und hatte sich daher ein entsprechendes Lehrbuch besorgt. auch für agitatorisch gehalten und beschlagnahmt haben? Nun, die Führung von Tagebüchern ist mir vorläufig nicht verboten, und die Haussuchung scheint sich ja auf das Schubfach oben beschränkt zu haben. Jedenfalls ist mein Verdacht bestätigt, daß man den Vorwand brauchte, um mich an unbequemen Aufklärungen für den Ausschuß zu hindern. Kleinkrieg zwischen der Verwaltung und einem Gefangenen. Wollen abwarten, ob Goliath diesmal über David Herr wird oder ob's wieder mal umgekehrt geht.
Dreiviertel drei. Eben ist nun das Unwetter niedergegangen. »Zum Herrn Oberregierungsrat.« Also mir wurde eröffnet: Die ohnehin nur für kurze Zeit gedachte Absonderung mit Brief- und Zeitungsverbot wird aufgehoben. Zweitens: Es wird neuerlich verhängt: Absonderung mit Brief-, Zeitungs-, Paket- und Besuchsverbot und Rauchverbot, alles bis auf weiteres. Gründe: Die bei mir vorgefundenen bis zum 1. März geführten Tagebücher enthalten Beschimpfungen gröblichster Art gegen die mit meiner Bewachung betrauten Beamten vom Minister abwärts bis zum Aufsichtspersonal. Außerdem habe ich mich als Festungsgefangener vergangen dadurch, daß ich Ansichten staatsgefährlicher Natur geäußert und mich in Drohungen, insbesondere gegen die mit meiner Bewachung betrauten Organe ergangen habe für den Fall, daß meine Pläne einmal wieder gelingen sollten. – »Der Herr Mühsam ist abzuführen.« Ich habe stillschweigend zugehört und keinen Mucks von mir gegeben, um keinen Grund zu schaffen, mich wegen anderer Dinge zu maßregeln als wegen zeugenlos schriftlich geführter Selbstgespräche. Jetzt hat man mir meine sämtlichen Rauchwaren weggeholt. – Ich werde nun wohl oder übel die Tagebuchnotizen auf rein Tatsächliches beschränken und mich kritischer Randglossen enthalten. Davon, daß Zenzl über den Nichtempfang von Nachrichten beruhigt werden soll, kein Wort. – Gerade hatte ich angefangen, das sechste Kapitel nun ohne die Aufzeichnungen dazu aus den Tiefen meines Gemüts weiterzuschreiben. Ob ich das ohne Tabak werde durchführen können, ist zweifelhaft. Für heute muß ich's wohl mal mit dem ersten Satz bewenden lassen, der gerade aufs Papier geflossen war: zwölf ganze Worte.
Viertel nach drei. Ich wurde eben zum Oberregierungsrat gerufen. Meine Meinung, daß er mir die Aufhebung der Disziplinierung oder eines Teils davon mitteilen werde, war unberechtigt. Ich bekam einen Bescheid des Justizministeriums vom 16. März verlesen, der etwa so lautete: »Die Beschwerde der Festungsgefangenen Klingelhöfer, Mühsam, Toller und Luttner gegen die Zurückweisung der früheren Beschwerde betr. den Tod des Aug. Hagemeister wird zurückgewiesen. Sie ist formal und sachlich unberechtigt. Der Satz in der Eingabe – folgt Zitat, wonach wir mit aller Deutlichkeit erklären müßten, daß H. in einer strafwürdigen und rechtswidrigen Weise vernachlässigt unter eines Rechtsstaats unwürdigen Verhältnissen hilflos habe verenden müssen –, bedeutet eine Disziplinwidrigkeit. Von einer disziplinären Maßregelung ist indessen abzusehen, weil den vier Unterzeichnern die große Erregung, die durch den Tod des Aug. Hagemeister bei vielen Festungsgefangenen hervorgerufen wurde, zugute gehalten werden soll. Dies ist den vier Unterzeichnern zur Kenntnis zu bringen.« – Ich habe mir die Ministerialentschließung schweigend angehört und wurde nach der Verlesung schweigend wieder entlassen.
(...)
(...) Als ich beim Mittagessen saß, kam Herr Rainer, hinter ihm ein Aufseher mit einer großen Kiste, die meine Pfeifen, Zigarren, Tabakpakete und Streichhölzer enthielt: Das Rauchverbot sei von heute ab aufgehoben. Ein erster Sonnenstrahl. Ich rauchte im Hof gleich zwei Zigarren und las dabei den Brief, der eben von Zenzl aus Berlin eintraf. Leider hat mir eine Nachricht darin die Freude am übrigen Inhalt und die am Rauchen sehr getrübt. Sie habe erfahren, daß die Frau von Leonhard FrankLeonhard Frank (1882–1961), Schriftsteller (›Die Räuberbande‹), emigrierte als Kriegsgegner 1915 in die Schweiz, 1918/19 Mitglied des Münchner Zentralrats. (Lisa Ertl) vor vierzehn Tagen gestorben sei. Sie will sich noch erkundigen und hofft, daß es nicht wahr sei: Ich fürchte schon, daß die Nachricht stimmt. Die arme Frau kränkelte schon immer, die Lungen waren nicht fest. Das ist für Frank bitter hart, aber die Frau selbst tut mir unendlich leid. Soviel Treue, Güte und Tapferkeit. Am 16. Januar 1919 saßen wir zusammen in einem kleinen Münchener Weinlokal beim Essen. – Landauer, die beiden Franks und ich, da kam Weigel mit der entsetzlichen Nachricht von der Ermordung Liebknechts und Rosa Luxemburgs. Dann die groteske Szene, wie ein Leutnant mit seinem Mädel hereinkam und sich mit dem Weinwirt laut und freudig beglückwünschte. Wir zahlten und ließen unser Essen stehen. Auf der Straße dann die Telegramme und die grinsenden Gesichter der Bürger und leider auch vieler Proletarier. Lisa Frank weinte herzbrechend. Auch wir anderen wußten, daß das der Beginn der furchtbarsten Tragödie sei, die das deutsche Volk je durchgemacht hat. Lisa war eine treue, stille Revolutionärin, ihr Herz war gut, ihr Geist rein. Ich bin traurig.
Zenzls Besuch verlief unter Aufsicht des Herrn Sauer (die ich wohl früheren Tagebuchglossen zu danken hatte) über alles Maß qualvoll. Gleich bei meinen ersten Worten wurde ich – im Tenor der Unteroffiziersschule – ermahnt: »Herr Mühsam, Sie müssen laut und deutlich sprechen, damit ich jedes Wort verstehen kann.« Ich hatte keineswegs geflüstert, mußte nun aber bei jedem Wort zur eigenen Frau zunächst daran denken, daß ich es eigentlich an Herrn Sauer zu richten hätte. Bei dem Auftrag an Zenzl, den Schutzverband zu veranlassen, sich für die sichere Verwahrung der Tagebücher zu verwenden, kam der Befehl, über die Tagebücher dürfe nicht gesprochen werden, und ich dürfe überhaupt nur von Familienangelegenheiten reden. Ich bestand darauf, auch meine geschäftlichen Angelegenheiten zu erörtern, und es gab den üblichen Zusammenstoß, wobei Herr Sauer erklärte, die Tagebücher gehörten auch nicht zu meinen geschäftlichen Angelegenheiten. »Das kann ich auch beurteilen.« Der Gefängnisaufseher erklärte sich also als kompetent in literarischen Dingen. Während der Auseinandersetzung erschien, herbeigelockt vom lauten Reden, Herr Fetsch, der in seiner cholerischen Weise anfing, auf Zenzl, die sich überhaupt nicht an dem Streit beteiligt hatte, einzureden und zwar gleich mit der Drohung, den Besuch abzubrechen. In der Tagebuchsache verzichtete ich natürlich darauf, den beiden Herren verständlich zu machen, daß die täglichen Aufzeichnungen aus vier Jahren für einen Schriftsteller das allerstärkste literarische und geschäftliche Interesse hätten. Es gelang mir auch rasch, die nötige Ruhe wiederzugewinnen, so daß wenigstens Zenzls Entfernung und meine Abführung in Einzelhaft vermieden wurde – vielmehr in Absonderung. Denn als Zenzl einmal von der Zeit meiner Einzelhaft sprach, unterbrach Herr Sauer – immer in seinem eigenartigen wie im Automaten aufgezogenen Ton – und bedeutete: »Es gibt keine Einzelhaft hier!« Ich klärte Zenzl auf, die ein sehr erstauntes Gesicht gemacht hatte, daß es nur eine Absonderung gebe. Den Unterschied wird sie wohl so wenig begreifen, wie wir dazu imstande sind. Daß der harmlosere Ausdruck eine bedenkliche Sache ist, merkte sie an meinem sehr nervösen Zustand. – Von ihren Berichten waren mehrere für mich recht wichtig. Vor allem die, daß die Austauschverhandlungen von Rußland aus tatsächlich geführt werden, und zwar handelt es sich nicht um eine größere Zahl auszutauschender Gefangener, sondern in diesem Fall nur um den einen polnischen Geistlichen, der zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde, und mich. Da sich die deutsche Presse besonders aufgepumpt hatte über das Urteil – einer der beiden Pfaffen wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet, und um den zweiten geht der Lärm –, wird jetzt ebenso wie im Falle der Sozialrevolutionäre, wo Timofejew gegen Hoelz verlangt wurde, der Austausch gegen mich vorgeschlagen. Zenzl hat mein Bild für ›Sichel und Hammer‹ hergeben müssen, da soll ich nun also neben einem hohen katholischen Priester ausgestellt werden. Die Sache ist politisch sehr klug von den Russen gedacht. Interessiert an der Freigabe des Pfaffen ist der ganze katholische Klerus. Möge also die Kirche in dem Land, in dem sie unumschränkt herrscht, das Ihrige tun, um einen gefangenen Juden, Revolutionär und Literaten freizubringen, dann kann Polen seinen Pfaffen wiederhaben. Ich bin also in der komischen Lage, mein Schicksal momentan am Interesse des Vatikans hängen zu wissen, und es ist keineswegs ausgeschlossen, daß ich durch die Bemühungen des Nuntius in München tatsächlich herausgegeben werde, daß ich also meine Rettung dem Papst zu danken haben werde. Ich habe mich entschlossen, in diesem Falle anzunehmen unter der Verpflichtung – falls man mich fragen sollte –, Deutschland so lange nicht wieder zu betreten, wie meine Strafe gesetzlich nicht als verbüßt angesehen wird. – Übrigens bin ich weit entfernt, schon mit einem Erfolg der Aktion zu rechnen. Möglicherweise ist der Austauschpriester der Klerisei im Zuchthaus ein so gutes Propagandaobjekt, daß man in Rom davon absieht, seinetwegen der bayerischen Regierung einen ihr immerhin unbequemen Befehl zu geben – will sagen ihr etwas der Reaktion Lästiges zu empfehlen. – Dann: Die Liga für Menschenrechte arrangiert einen Riesenaufruf an das deutsche Volk oder die Menschheit oder sonstwen, in dem gegen die Niederschönenfelder Schande protestiert werden soll. Was in Kunst- und Kulturwelt Namen hat, soll schon unterschrieben haben. Nützen wird's vorerst nichts, aber als Stimulans wird man es schätzen dürfen. Graf Keßler,Harry Graf Keßler (1868–1937), Diplomat und pazifistischer Schriftsteller. Gumbel und Persönlichkeiten ähnlichen Schlages – also gewiß nicht die Schlechtesten – sind die Hauptförderer des Unternehmens. – Für mich persönlich geht außerdem ein Versuch, mir Behandlung von Ohren, Herz etc. im Krankenhaus zu verschaffen. Hans hat Zenzl überdies gestanden, daß er mehr für meine Lungen als für mein Herz fürchtet. Ich halte jede Aktion dieser Art für absolut aussichtslos. Der Fall Hagemeister hat's ja gezeigt, wie die maßgebenden Instanzen über die Wichtigkeit unseres Gesundheitszustandes denken.
(...)
Mit der Post kam ein Brief Zenzls und darin eine Mitteilung, die meinen fröhlichen Optimismus ganz bedeutend stärkt, obwohl sie eigentlich den Stand der Austauschangelegenheit unverändert läßt. Die russische Regierung hat mich (und Max Hoelz) zum Ehrensoldaten gemacht und mich und meine Familie unter den Schutz eines Reiterregiments gestellt. Ich bin nun also glücklich zum Kavalleristen honoris causa aufgerückt. Zenzl hat schon den Paß, der das legitimiert, erhalten. Doch ist als Bild wieder das Porträt Landauers beigegeben, so daß Zenzl noch einige Umstände erwachsen werden. Aber diese dauernde Verwechslung mit dem besten Freund, mit dem ich schon im Leben und eben der Idee wegen so eng verbunden war, rührt mich und mahnt mich. Ich werde, wenn es wirklich zu dem Austausch kommt, nicht einfach meine Befreier preisen und sie unkritisiert tun lassen, was ihnen gefällt. Mein erstes Wort drüben wird Machno gelten, der leider immer noch von den Russen aus dem polnischen Gefängnis heraus verlangt wird, und ich will mich erbieten, wenn es angeht, ihn vor dem Tribunal zu verteidigen.
(...) Ich bin nun also Ehrenreiter, und meine possierliche militärische Karriere ist um eine neue Außergewöhnlichkeit bereichert. Im Kriege und vorher stets »dauernd untauglich«, am 7. November 1918 erster bayerischer Soldatenrat, zwei Tage darauf drei Stunden lang Kommandant des bayerischen Kriegsministerium (und in diesen drei Stunden wurde in dem Gebäude und drumherum mehr geknallt mit Flinten und Maschinengewehren als vorher und nachher, seit es steht, zusammengenommen). Jetzt als roter Soldat mit Stempel, Siegel und Trara, Reiter ohne Gaul und Sporen, aber von Ehren wegen. Zenzl ist sehr stolz. Ich für meine Person sehe die Komik der Sache deutlicher als alles andere, und mein Ehrgeiz ist von Hause aus zu wenig auf Orden und Titel gerichtet, als daß ich darüber platzen sollte. Dagegen sehe ich die praktische Seite der Ernennung sehr klar, und daraus erwächst meine Freude darüber. Der Öffentlichkeit wird durch die groß aufgemachte Preiskrönung der Schritt beim Vatikan einleuchtend gemacht. Ferner ist ein Grund geschaffen, einen Paß auszustellen, der vom Betreten russischen Bodens – also schon des Schiffsbodens an – die größten Garantien sowohl für die persönliche Sicherheit als auch für die beste Behandlung bei allen Stellen gibt, und endlich erkenne ich aus der Sache, daß im Kreml ernsthaft die Absicht besteht, mich freizukriegen. Gelänge es doch! Und gelänge es doch auch für den armen Max Hoelz! Ich möchte übrigens sehr gern den SepplSeppl Wittmann. mit nach Rußland nehmen und werde Zenzl fragen, ob sie etwas dafür tun kann. Ich hab's dem Buben versprochen, daß er bei mir bleiben soll. Seine innigste Sehnsucht ist Rußland, und er ist mein Lebensretter gewesen. – Die Wirkung der Nachricht hier im Hause deutet sich erst an. Gestern kam Schlaffer wieder aus der Einzelhaft herauf, Sauber ist noch unten. Dem wird's am bittersten sein und am unerklärlichsten, daß man den konterrevolutionären ideologischen kleinbürgerlichen Anarchisten vor der ganzen Welt auf den Ehrenschild hebt, und noch dazu da, wo man nie irren kann. Ich vermute, daß nun von allen Seiten Anschluß an mich gesucht werden wird, doch werde ich mich reserviert verhalten. Gestern erschien Schwab bei mir, um mir Versöhnung vorzuschlagen.
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(...)Zu erwähnen ist die neue Offensive der Verwaltung gegen Schwalbennester. In der Zelle von Aloys Wagner haben die Tierchen ausgebaut, und gegenwärtig bebrüten sie die fünf Eier, die das Nest schon enthält. Da kam der Befehl, das Nest zu entfernen und die Schwalben mitsamt den Eiern zu vernichten. Es muß Toller gelassen werden, daß er sich energisch und ohne die Gefahr zu achten, wegen »Einmischung« zu unbefristeter Gefängnisstrafe verdonnert zu werden, der Sache annahm.Vgl. Ernst Tollers in der Haft entstandene Gedichtsammlung ›Das Schwalbenbuch‹ (erschienen 1924). Er hatte mit dem Vorstand eine lange Auseinandersetzung, und es gelang schließlich, durchzusetzen, daß die Brut erst am Leben und flügge sein soll, ehe das Nest ausgenommen wird. Der »hygienische Berater« habe strikt verboten, daß in Zellen, in denen ein Festungsgefangener schläft, Nester geduldet werden (es ist die Wohn»stube« Wagners). Wenn der »hygienische Berater« sich nur sonst einmal um unsere Gesundheit bekümmern wollte. Gerade jetzt wieder macht sich die Zugigkeit und die hygienisch völlig unmögliche Bauart des Kerkers niederträchtig bemerkbar. Daran nicht krank zu werden ist ein wahres Kunststück, an Schwalbennestern ist bisher noch niemand hier drinnen erkrankt. – Das Verbot, weitere Nester in den Zellen zu haben, wird natürlich vom Personal buchstabentreu durchgeführt. Toller hatte vom vorigen Jahr her das Nest aufbewahrt und in seine neue Zelle, die nach Westen liegt – Schwalben bauen nur nach Osten an –, mitgenommen und dort – leer und von keinem Vogelpaar mehr begehrt –, als Wandschmuck befestigt. Diesen Schmuck hat er entfernen müssen, und der Vorstand hat heute extra einen Aufseher geschickt, der feststellen sollte, ob dem Befehl Folge geleistet sei.
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Max Hoelz erläßt einen öffentlichen Dank an die Rote Armee, worin er den Empfang seines Soldbuchs bestätigt und ein revolutionäres Bekenntnis ablegt. Er bekommt das Soldbuch ausgehändigt, während Zenzl nicht wagen dürfte, es mir hereinzuschicken. Er darf öffentlich politische Erklärungen abgeben: Das sollte ich mal probieren. Allerdings: Er ist im Zuchthaus, aber ich in der »Festung« – und das Zuchthaus liegt in Preußen und die Festung in Bayern.
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Vorgestern notierte ich den 1500. Tag meiner Gefangenschaft. Die Dauer des Weltkriegs wird bald erreicht sein. Wie sich damals die Formen des Kampfes und die Unterdrückung unerwünschter Ansichten im eigenen Land dauernd verschärften, so wird auch die bayerische Festungshaft von Anfang an und in allmählicher, aber unbeirrter Steigerung kontinuierlich verschärft. Jetzt ist die Einschränkung der Taschengeldanhäufung, die mir persönlich schon im März bekannt gegeben wurde, offiziell mitgeteilt worden. Das geschah bei Gelegenheit der Bekanntgabe der Erhöhung des Wochengeldes auf 2400 Mark. – Da der Dollar soeben seinen bis jetzt unerreichten Höchststand von 57000 erreicht hat, ist das keine »Vergünstigung«, sondern nur eine keineswegs entsprechende Anpassung an die Geldentwertung –, wobei zugleich verkündet wurde, daß im Besitz des einzelnen F.G. jeweils nicht mehr als 3600 Mark gestattet seien. Es wird also ein sehr schwieriges Balancieren mit dem Budget geben, zumal ausdrücklich verlangt wird, daß in die Summe die Briefmarken mit einzurechnen seien. Dies zur Kuratelfrage.
Vormittag. Ich habe am Nachmittag an Zenzl zu schreiben, und zwar nach Lübeck, wo sie leider zum ersten Mal nicht in meiner Begleitung sein kann. Weigel reist mit ihr, der nicht immer die Delikatesse hat, in seinen Briefen an mich Empfindlichkeiten – die übrigens nichts mit Eifersucht zu schaffen haben; in dieser Hinsicht habe ich erstens keine Gründe, Zenzls Versicherungen ihrer Liebe und Treue im geringsten zu mißtrauen, zweitens bin ich kein Schutzmann, bei dem Liebe ein Kontrollapparat ist –, meine Empfindlichkeiten aber im Hinblick auf eine gewisse seelische Luftraum-Respektierung zu schonen. Er redet in einer Weise von Zenzl und sich als »wir«, die Zenzl herunterwürdigen könnte, die so zart, taktvoll und in allem so selbstverständlich ist und handelt und die sich W. nicht halb so nah fühlt wie er ihr. Er hat das Gefühl nicht, daß es eine innere Gemeinsamkeit gibt zwischen Menschen, die gar nichts Sexuelles an sich hat, Bettrechte ganz außer Betracht läßt, und in die ein Eindringen peinlich wirkt. Ich mußte mir das mal schriftlich abreagieren, und in Briefen ist es unter den obwaltenden Zensurverhältnissen und bei der Auffassung von Beamtenschweigepflicht, die der Vorstand auch neuerdings wieder durch Ausplaudern von Tagebucheintragungen aus meinen Heften an andere Festungsgefangene (wobei er sich sogar klare Entstellungen gestattet) an den Tag legt, gänzlich unmöglich. Wenn Zenzl das nächste Mal, vielleicht noch Ende dieses Monats herkommt, werde ich ihr andeuten, was ich meine.
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(...)Die Russen sollen mit großem Nachdruck tätig sein, um die politischen Gefangenen – speziell in Bayern – freizuhandeln (ich denke mir, daß sie mit dem Boykott der bayerischen Industrie bei der Vergebung der Aufträge drohen). Sauber (der sich zu meinem Erstaunen gestern im Hof mir und Schiff anschloß, tempora mutantur, und die WuchtigkeitDie Parteigruppe der KPD in der Festung, gab ihre feindselige Haltung auf, nachdem die Komintern (Sinowjew) die KPD wegen ihrer Passivität in den nachrevolutionären Kämpfen gerügt hatte. Die Ermunterung deutscher Radikaler wie Hoelz und Mühsam sollte die KPD auf einen kämpferischen Kurs im Sinne des Leninismus bringen (Kombinierung legaler und illegaler, parlamentarischer und offensiver Kampfmethoden). Max Hoelz trat 1928 erneut in die KPD ein. merkt langsam auch, wie blöd sie war. Ich für meine Person bin zufrieden, wenn ich wenigstens äußerlich mit allen in Frieden und guter Nachbarschaft lebe. Ich vergesse deshalb nicht das geringste) – Sauber also erzählte, daß seine Frau, die gestern hier war, sehr optimistisch in dieser Hinsicht sei. Man scheint also außer der Spezialaktion für mich die Sache der bayerischen Räterepublikaner überhaupt sehr ernsthaft in die russisch-deutsche Politik einzufügen, wofür auch die kürzlich eingetroffene Nachricht spricht, die Arbeiterschaft in Wjatka, wo auch »mein Reiterregiment« garnisoniert, habe die Patenschaft über Niederschönenfeld übernommen (NB: Das Dankschreiben dafür von uns ging natürlich zu den Akten). Was nun das Interesse an mir besonders anlangt, so hängt vielleicht damit zusammen eine als »Deklaration der russischen Anarchisten« bezeichnete Kundgebung, die die Internationale Presse-Korrespondenz veröffentlicht. Darin werden ganz ähnliche Gedanken entwickelt, wie ich sie vor fast vier Jahren zur Begründung meines Übertritts zur KPD heranzog und wie ich sie, auch als die Voraussetzungen für diesen Schritt sich schon nach fünf Wochen als hinfällig erwiesen hatten, vor über drei Jahren in der von Pfemfert erdrosselten Broschüre›Die Einigung des revolutionären Proletariats im Bolschewismus‹ anführte. Es wird mit Entschiedenheit die proletarische Diktatur bejaht, was – sofern die russischen Genossen dasselbe darunter verstehen wie ich, meine größte Billigung hat, und es wird, wenn auch nicht der Beitritt zur »Komintern«, so doch die »echte Unterstützung« durch die Anarchisten, jedenfalls aber Unterlassung jeder die Bolschewiken schädigenden und daher der Konterrevolution nutzbringenden Agitation gefordert. Der Aufruf stammt offensichtlich aus jüngster Zeit, und ich nehme, falls die Namen der Unterzeichner wirklich eine Kollektiv-Legitimation da oder dort der ernst zu nehmenden Anarchisten besitzen, als wahrscheinlich an, daß ein Abkommen zwischen der KPR bzw. der russischen Regierung und den Anarchisten getroffen wurde, das gegenseitige Toleranz und nach Möglichkeit Bündnisvertrag bedeutet. Ich wäre glücklich, wenn das zuträfe, und die furchtbare Last, daß in Rußland gute Revolutionäre in Gefängnissen leiden und selbst für ihre Überzeugung sterben müssen, von unserem Gefühl weggenommen würde. Dann wäre auch wohl zu hoffen, daß man von der Verfolgung Machnos absieht, und ich könnte die Aufmerksamkeiten, die mir von Rußland erwiesen werden und die sich dann als prachtvolle Bekundung der Vertragstreue auch auf der Seite der Bolschewiken ausweisen würden, von ganzem Herzen glücklich annehmen. Es werden sich ja wohl in der ›Roten Fahne‹ entsprechende Kommentare noch einfinden, und dann muß sich zeigen, ob man endlich bereit ist, Antiparlamentarier Antiparlamentarier, Anarchisten Anarchisten sein zu lassen und die Bekämpfung des Faszismus international mit allen wirklichen Revolutionären zusammen zu betreiben, oder ob die Tatsache, daß die ›Rote Fahne‹ jetzt Radek und ReventlowErnst Graf zu Reventlow (1869–1943), nationalistischer Publizist, Bruder der Boheme-Schriftstellerin Franziska zu R., 1927 Eintritt in die NSDAP. schon gemeinsam zum Wort zuläßt und einen Nationalbolschewismus in Deutschland großzüchtet, an dem nur noch der Bolschewismus zweifelhaft ist, eine Abkehr vom Internationalismus, vom prinzipiellen Klassenkampf und von der Weltrevolution bedeutet. Ich würde inbrünstig gern ja sagen zu der Deklaration der russischen Genossen. Möge es keine Enttäuschung geben!
(...)Vorgestern abend gab es schon wieder eine antisemitische Demonstration vor der Festung, die selbstredend wieder keinerlei Störung durch die bewaffneten Kräfte der Verwaltung erfuhr. Die Heldenhaftigkeit dieser Teutonen, Gefangene, die im fünften Jahr wegen ihrer Überzeugung wider alles Gesetz gemartert werden, um ihrer Gesinnung willen zu provozieren, wohl wissend, daß sie sich nicht wehren können, ist uns doch schon verboten, auch nur unsere Lieder zu singen, wenn draußen die Abgeschmacktheiten der hakenkreuzlerischen Burschensänger ertönen – diese teutsche Tapferkeit wird hier im Hause respektiert, während man es unseren Frauen und Kindern verbietet, nach dem Besuch hereinzuwinken, ist es ja den Sauberschen Kindern passiert, daß sie, weil sie ihrem gefangenen Vater zugewinkt hatten, bloß eine Stunde bleiben durften. Bleibt eine unserer Frauen dort auf der Straße stehen, wo die Rassenretter ungestört schimpfen, drohen, höhnen und singen dürfen, dann tritt sogleich der Grüne in Aktion und verjagt sie. Die Lieder der Demonstranten aber – vorgestern beschränkten sie ihre »Aktion« auf Singen – werden andächtig bis zu Ende angehört. Immerhin lernen dadurch auch wir die poetische Tiefe dessen kennen, was diese Art Deutschtum in Begeisterung versetzt. Im letzten Ständchen erscholl es schmetternd: »Schmeißt sie raus die Judenbande aus dem deutschen Vaterland, und wir wollen und wir brauchen keine Judenrepublik – «
Mich friert erbärmlich, und ich fürchte für den Bestand meiner Gesundheit, die seit Monaten keinen Anlaß zu Klagen mehr gegeben hat. Aber das teuflisch zugige, bei dem kalten Nebel, der diese Moorgegend an sich so bedenklich macht, immer noch gänzlich ungeheizte Haus muß ja den widerstandsfähigsten Körper unterkriegen. Und – da der Anstaltsarzt von seinem Urlaub zurück ist, sind wir eben ohne Arzt.Boykott des Anstaltsarztes Dr. Steindl.
Heute ist's überdies draußen stürmisch, und es regnet fortgesetzt, so daß ich auch auf das stramme Herumgehen im Hof verzichten muß. Immerhin will ich versuchen, die letzten Neuigkeiten noch zu registrieren, bevor ich die Korrespondenz erledige, die noch vor der neuen Briefportoerhöhung auf fünf Millionen Mark, vom Zehnten ab, fort sollen.
(...) Eben wurde uns folgendes eröffnet: Die Verordnung des Generalstabskommissars (über die ich eben schreiben wollte), wonach für Bayern die Herausgabe aller kommunistischen Zeitungen, Zeitschriften, Flugblätter etc., ferner deren Verbreitung, Feilhaltung etc. verboten wird, gibt Anlaß zu der Anordnung, daß in der Festung sämtliche Schriften, Bücher, Broschüren und Bilder bis Mittwoch, den 10. Oktober, nachmittag fünf Uhr abgeliefert, heimgeschickt oder vernichtet sein müssen. Es wird empfohlen, die Frachtsendungen bis morgen um zwei zu bewirken, da dann die Erhöhung der Frachtsätze eintritt. Jetzt ist die Frage: Was ist kommunistisch – und wie kriegen wir die Sachen rechtzeitig weg? Ich werde nun alles stehen und liegen lassen müssen, um diese nette Aufgabe zu erfüllen.
(...)
Wir haben heute keine einzige Zeitung ausgehändigt erhalten. Unter den als konfisziert mitgeteilten befinden sich alle bürgerlichen Blätter, die sonst eintreffen, auch die ›DAZ‹. Natürlich bewirkt diese absolute Kenntnislosigkeit der Vorgänge seit dem Achten – noch dazu an einem Montag, dem Tage, der sonst die meisten Blätter bringt – große Nervosität und ein wildes Aufflattern von Vermutungen, Kombinationen und »Latrinen«. Man wird im allgemeinen bei Konfiskationen von Zeitungen immer annehmen können, daß die spezielle Nachricht, die die Verwaltung uns ganz vorenthalten will, eine solche ist, die ihr nicht lieb ist, während sie Meldungen, durch die unsere Hoffnungen gedämpft werden können, freigebig ausliefert. Diese Erfahrung bewirkt also an einem Tage wie heute großen Optimismus, und keine Nachrichten bedeuten für uns stets gute Nachrichten. Worin diese Nachrichten bestehen, das werden wir allmählich aus den Blättern, die wir später kriegen, nachkonstruieren müssen. Möglichkeiten sind ja genügend vorhanden. Die nächstliegende ist natürlich die, daß am 9. November doch eine Bewegung ausgebrochen ist, die über das übliche lokale Getöse hinaus als Anfang des deutschen Bürgerkriegs anzusehen wäre.
(...)
Jetzt wissen wir endlich ungefähr Bescheid. Ungefähr: Denn alle Ereignisse einer ganzen Woche müssen wir aus einer einzigen, gestern abend ausgehändigten Nummer der ›Deutschen Allgemeinen Zeitung‹ heraussuchen bzw. zurechtkonstruieren. Als das Ereignis, das unsere Nerven fühlten, ohne es zu kennen, ergibt sich: Hitler hat losgeschlagen! Der Hitler-Ludendorff-Putsch ist gestiegen – und ist mißlungen! Und alles war anders, als man es erwarten konnte, und die Situation ist so verändert, daß ganz neue Konstruktionen notwendig werden, um für den Verlauf im weiteren eine Richtschnur zu finden.
(...) Was unmittelbar nach der Schießerei am Odeonsplatz erfolgt ist, bleibt wieder für uns fraglich. Wir müssen uns mit folgenden Tatsachen begnügen: Hitler wurde am Staffelsee verhaftet, war also nach verlorener Schlacht getürmt. Die Gerüchte, daß Ludendorff Selbstmord versucht oder begangen habe, wurden dementiert; er sitze in seiner Wohnung in Ludwigshöhe. Er ist demnach nicht verhaftet, und es wird ihm nahegelegt, sich umzubringen. Auch aus einer englischen Korrespondenz geht ähnliches hervor. Dort wird bemängelt, daß Ludendorff freigelassen sei, was heißen könnte, daß man ihn schon verhaftet hatte.
(...)
Vorgestern begann plötzlich im Hause ein derartiges Durcheinander, daß die regelmäßige Beschäftigung und mithin auch das Tagebuch seitdem ganz aus der Reihe geraten ist. Ob ich die Eintragung heute über den Anfang weit hinaus bringe, ist angesichts des Umstands, daß meine derzeitige Zelle noch der geschickten Hand des Ferdl harrt, nun auch nur halbwegs wohnlich zu werden, recht ungewiß. Am Mittwoch nachmittag bemächtigte sich vieler Genossen große Unruhe. Im inneren Hof unter unseren südöstlichen Fenstern begann plötzlich rege Arbeit. Man zog mit größter Eile Stacheldrahtzäune, schloß den kleinen Hof (der seinerzeit der braven Hälfte unter Vollmann, um uns 25 Bockbeinige zu ärgern, als Extrahof neben dem großen eingeräumt war) nach beiden Seiten ab, schüttete Kies ab und errichtete auch noch einen Zaun, der den Blick vom Eingang zum großen Spazierhof in die neue Absperrung verbaute. Gleichzeitig begann man die Kastanienbäume zu fällen, die neben der Hofplanke entlang eine Allee zur Landstraße hinauf bilden. Einige Genossen hatten an diesem Tage die Herren Kühlewein und Kraus bei der Inspizierung beobachtet. Die plötzliche Umgestaltung wurde zuerst damit erklärt, daß man uns den großen Spazierhof nehmen wolle, um ihn mit den Äckern der Anstalt zu verbinden, von denen diesen nur die Planke und jene Kastanienbäume trennten. Da alle Momente diese Vermutung zu bestätigen schienen, hat kaum je eine solche Depression unter den Genossen geherrscht wie an diesem Nachmittag. Denn den Hof lieben wir alle mit seinen Apfelbäumen, die die Verwaltung erntet, mit seinem einzigen Weg ringsherum, mit seiner sonderbaren Vertiefung, in die wir Lauben eingebaut haben, und mit seinen winterlichen Erdhaufen, die die Erinnerung an die von den Genossen liebevoll betreuten gärtnerischen Anlagen des Sommers wachhalten. Statt dessen sahen wir nun den armseligen Kiesboden zwischen Gefängniswand und Steinmauer ohne Gras, ohne Baum, ohne das Wetterhäuschen und ohne Bänke und Turngeräte und höchstens ein Viertel so groß wie unser schöner Spazierhof, als künftige Oase in unserer Wüste herrichten. Die Nacht zum Donnerstag, in der wir alle in dieser Einbildung einschliefen, war wohl für keinen von uns ohne düstere Gedanken. Am Donnerstag aber wandelte sich die Stimmung sehr rasch. Wir merkten, daß die Seitenzellen hergerichtet wurden, und zwar trug man Seifennäpfe, Teller etc. hinein, also erwartete man keine Kriminal-, sondern Festungsgefangene. Von all den aufgeregten Vermutungen, die teils weit weggingen vom Tatsächlichen, teils auch das Richtige trafen, braucht hier nicht Notiz genommen zu werden. Gegen elf Uhr sahen wir Schupo – etwa zwanzig Mann stark – von der Anstalt weg nach Rain hin abmarschieren. Inzwischen war schon allgemein die Bedeutung des Ganzen klar: daß Schutzhaftgefangene kommen würden. Gegen halb eins rollte der uns Münchnern wohlbekannte Stadelheimer Autobus von Rain heran (in dem ich zum Schneppenhorst-ProzeßIm Juli 1919 trat Mühsam als Zeuge im Schneppenhorst-Prozeß auf, um dessen Mitwirkung bei der Vorbereitung der Räterepublik zu bestätigen. Schneppenhorst bestritt das unter Eid. und dann von Stadelheim zum Polizeigefängnis befördert wurde). Die neuen Einwohner langten in mehreren Fahrten mit diesem Vehikel an. Mittags wurde uns eröffnet, daß wir samt und sonders am selben Nachmittag noch in den ersten Stock hinunter verlegt würden, und zwar beziehe jeder die unmittelbar unter der seinigen gelegene Zelle. (Ich wohne auf Nr. 104, der neben der Sterbezelle August Hagemeisters gelegenen Zelle) Es ging alles so Hals über Kopf, daß das Ganze offenbar für die Verwaltung eine ebensolche Überraschung war wie für uns. Mit der Einräumerei habe ich jedenfalls noch tagelang zu tun und bin froh, daß wenigstens das Mobiliar jetzt am Platz ist, die Bilder hängen und die Beleuchtung funktioniert. Das Gerümpel muß noch untergebracht und das Penibelste – die Bücher und Papiere – geordnet werden. Während man sich noch die Köpfe zerbrach, ob die neuen Hausnachbarn unsere Genossen oder »Nazi-Sozi« seien, gab es für uns Untere peinliche Überraschungen. In unserem Gang wurde zunächst das innere Scherengitter geschlossen, so daß wir nun den Haftraum um mindestens ein Drittel seines ohnehin sehr engen Umfangs verkleinert und zum Trinkwasserholen nur die Klosettwasserleitung zur Verfügung haben. Dann hat man noch einen Vorhang vor das Gitter gemacht, der bei jedem Hofgang der Oberen zugezogen wird, damit wir nicht einmal sehen können, wenn sie – durch zwei Gitter von uns getrennt – die Treppe hinauf oder herunter laufen. Dann wurde uns im Auftrage des Vorstands eröffnet: Wir hätten uns jedes Versuchs, mit den Schutzgefangenen in Verbindung zu treten, zu enthalten, sie nicht vom Fenster aus zu begrüßen, sie anzurufen etc. Andernfalls werde man uns in den Nordbau verlegen (also in das eigentliche Gefängnis vorn?). Der Speisesaal wird während der Hofzeit der Neuen zugeschlossen, und unsere Hofzeit täglich um eine Stunde – die beiden halben Stunden vor und nach Mittag – gekürzt. Außerdem war von heute ab das Bad, für das sonst – auch, als wir 90 Mann waren – eine halbe Stunde angesetzt war, auf 20 Minuten beschränkt und, wie Toller vorläufig inoffiziell erklärt wurde, soll das wöchentliche Bad nur mehr vierzehntäglich gegeben werden: nach viereinhalb Jahren eine sehr peinliche Verschärfung. Da wir von unseren Zellenfenstern aus in den Hof der Schutzhäftlinge hinuntersehen können, war die Frage, ob Nazi oder Kommunisten, schnell entschieden: es sind natürlich nur Kommunisten, und zwar scheinbar der ganze Münchner Bezirksausschuß, die Führer der Jugendbewegung, kurzum alle, denen man Initiative zutraut. Die Hitlerleute, die doch die Revolte tatsächlich gemacht haben, wird man schon woanders und anders als in Niederschönenfeld unterbringen.
(...)
Allmählich kommt wieder Regelmäßigkeit ins tägliche Leben. Mit der Zelle bin ich ungefähr fertig, allerdings noch nicht mit dem Ärger über die sehr empfindliche Raumverengung, die verkürzte Hofzeit und das übrige. Mit den Schutzhaftgenossen fand gestern eine Art Begrüßung statt in einer sicher erlaubten Form, die mich in ihrer naiven Sentimentalität tief rührte. Die Mehrzahl unserer Genossen hat unter Schlaffers Leitung seit langem einen Gesangszirkel gebildet, der regelmäßig alle Sonntage abends ein paar Lieder vorträgt, natürlich, da ja alle unsere Bekenntnislieder verboten sind, volksliedhafte und dem Geschmack einfacher Menschen zusagende, in den Gesangsvereinen übliche Weisen. Während Schlaffer in Einzelhaft saß, waren die Vorträge unterblieben, und gestern zum ersten Mal seit fünf Wochen stiegen die Lieder wieder auf, diesmal auf dem Gang. Kaum war das erste Lied ›Sonntag ist's‹ verklungen, kam vom zweiten Stock die Antwort, irgendein populäres Wanderlied, und nun folgten abwechselnd von den beiden Chören die Vorträge, bis sich von oben eine prachtvolle, wenn auch unausgebildete Baritonstimme mit einem Sololied vernehmen ließ, das aber leider mitten im Satz abbrach, wahrscheinlich vom Aufsichtspersonal unterbrochen. Nach einem von unserem Stock gesungenen Schlußlied war das Konzert zu Ende, das mir, obwohl das Ganze nicht ohne Komik war, seit langer Zeit die ersten Tränen hochdrängte.
Mir wurde vorhin eine Eröffnung etwa folgenden Inhalts bekanntgegeben: »Der F. G. Mühsam läßt in seiner Postkarte vom 6. Dezember Herrn Richard Oestreich,Richard Oestreich, Bruder von Rudolf Oestreich (1878–1963, Redakteur der anarchistischen Zeitung ›Der freie Arbeiter‹, führend in der Föderation kommunistischer Anarchisten FKAD). Berlin, deutlich erkennen, daß er ihm für die Übersendung von einer Billion Mark als dem Vertreter seiner anarchistischen Genossen agitatorisch dankt. Es ist dem F. G. Mühsam bekannt, daß für karitative Sendungen außer den Familienangehörigen nur die Frauenhilfe für die politischen Gefangenen in München zugelassen ist. Diese Karte wird daher zum Akt genommen.« Über vier Jahre erhalte ich jetzt jeden Monat eine Geldunterstützung von den Berliner anarchistischen Genossen. Das ist der Verwaltung bekannt, und sie hat meinen Dank dafür, der stets für alle Spender als Quittung diente, nie beanstandet. Ich stecke jetzt eine neue Karte in den Kasten, deren Abfassung, wie ich hoffe, den allmählich sehr schwierig zu befriedigenden Ansprüchen genügt. Da der Verwaltung bekannt ist, daß Zenzl sich finanziell recht hart tut, rechne ich natürlich damit, daß die Erleichterung, die mir die treue Solidarität meiner engeren Kameraden gewährt, verhindert werden soll. Ich habe es mir abgewöhnt, mich über dergleichen Dinge noch aufzuregen, nur das Wundern verlernt man so leicht nicht. Und erstaunlich ist es ja immerhin, daß den Peinigern nach fast fünf Jahren immer noch neue Drangsalierungen einfallen, wo wir naive Leute doch schon vor Jahr und Tag meinten, schlimmer könne es nicht werden.
(...)
Das Weihnachtsfest ist in der Hauptsache vorüber. Mir brachte es
(...) vor allem Zenzls Besuch, wobei natürlich auch ein reicher materieller Segen abfiel. Mit ihr kam die Braut meines Schwagers Albert, ein harmloses, unschönes, sicherlich sehr gutherziges Bauernmädel, die nun als Helferin Zenzl nach Berlin begleitet. Zenzl selbst hält sich wunderbar jung. Sie ist mit ihren fast vierzig Jahren immer noch eine sehr schöne Frau, und ich verliebe mich bei jedem Wiedersehen von neuem in sie. Mein Gott, wann wird dieses treue Warten endlich belohnt werden? Sie selbst ist merkwürdigerweise auch jetzt noch in der Russensache optimistisch. Ich glaube an diese Austauschgeschichte längst nicht mehr. Von dem, was sie sonst erzählte, interessierte mich natürlich am meisten das allgemeine Stimmungsbild draußen, das leider nicht übertrieben hoffnungsvoll aussieht. Dumpfe Verzweiflung, allgemeine Gelähmtheit, gar kein Kampfgeist. Die Männer haben den Krieg noch nicht verwunden. Sie sind da um jede Individualität gebracht worden, haben jede Initiative verloren und ertragen scheinbar den Hunger, das Elend und den Übermut der Ausbeuter und wieder an die Oberfläche gelangten Reaktionäre so stumpf, wie sie vier Jahre hindurch das Leben in Tod und Dreck und die Frechheit betreßter Schikaneure ertragen haben. – Für uns persönlich bedeutet der Umzug Zenzls natürlich viel. München, wo ich bestimmt dachte, meine Tage zu beschließen, ist Vergangenheit, unser neues Heim ist in Charlottenburg, Am Lützow 10. Dort wird bei Zenzl wieder Weigel wohnen, ferner auch Willi Münzenberg,Willi Münzenberg (geb. 1889), KPD-Politiker; 1924-33 im Reichstag, ab 1927 Mitglied des ZK der KPD. Baute in den zwanziger Jahren ein kommunistisches Verlags- und Pressewesen auf; 1940 auf der Flucht in Frankreich wahrscheinlich vom sowjetischen Geheimdienst ermordet. der Führer der Kommunistischen Jugend und der Organisator der Hungerhilfe. Ich bin, wie Zenzl berichtet, inzwischen Mitglied des Wjatkaer Sowjets geworden, und die Wjatkaer Kinder, die mich Onkel Erich nennen, haben mir rührende Liebesgrüße sagen lassen. Ich wollte, ich könnte einmal alle die Liebe vergelten, die mir zuteil wird. Den Pfeifentabak, den mir Zenzl brachte, hat ein Wjatkaer Arbeiter für mich gestiftet. Nun, wenn ich die Gelegenheit noch einmal bekommen sollte zu wirken, wie es die Revolution verlangt, so will ich's in dem Geiste tun, der mich mit Freude und Ergriffenheit über alle Anhänglichkeit dankbar erfüllt, das heißt im Geiste getreuer Pflichterfüllung, unbekümmert darum, ob die, die sich meinen Dank jetzt erwerben, mich in allem verstehen oder enttäuscht werden.