Erich Mühsam
Die Psychologie der Erbtante
Erich Mühsam

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Tante Yvette

Tante Yvette war, wie ja schon der Name besagt, Balletteuse gewesen. Ja, wie man an den zahlreichen Bildern sah, die in ihren Stuben hingen und wie sie selbst gern erzählte – war sie als Balletteuse sehr schön gewesen. Und das ging auch daraus hervor, daß sie reich war, so reich, daß wir sie mit Vergnügen als unsere Erbtante betrachteten. Merkwürdig, wie sich so eine Balletteuse verändern kann! Wie ich sie kannte, hätte Tante Yvette nicht mehr öffentlich tanzen können. Ihre Taille hatte im Laufe der Zeit einen Umfang angenommen, daß sie einem Bierkutscher zu gehören schien, mit dem sie übrigens auch bezüglich ihrer Sympathie für geistige Getränke Ähnlichkeit hatte. Wenn man zu ihr kam und sie die Asthmaanfälle, die sich regelmäßig nach den Empfangsbegrüßungen und Küssen – Tante Yvette küßte noch immer mit großer Inbrunst – einstellten, überstanden hatte, setzte sie ihrem Gast zunächst irgendeinen kräftigen Schnaps vor. Dann rückte sie ihre Armbänder so, daß die prächtigen Steine ihrem Visavis recht frech in die Augen leuchteten, fletschte ihre falschen Zähne und erzählte dann mit viel Lebhaftigkeit dies und das. Manchmal hatte ich den Eindruck, wenn es recht packend war, was sie da von ihren Kolleginnen – natürlich nie von sich selbst – mitzuteilen wußte, als ob ihre blauen glasigen Augen mir ermunternd zuwinkten, und ab und zu sprang auch wohl mal ein Haken ganz unabsichtlich auf, der die himmelblaue Bluse über dem wabblig-fleischigen, weit ins Gemach ragenden Busen zuhielt. Aber die Reize der fünf Dezennien alten Jungfrau waren nicht dazu angetan, mich zu verlocken. Ich Esel! Heute bin ich fest überzeugt davon: Hätte ich damals der Tante Yvette den Gefallen getan, ich wäre nicht der arme Teufel, der auf der steten Flucht vor seinen Gläubigern immer nur pausiert, um neue Schulden zu machen.

Ich habe nur einen Trost. Auch von Tante Yvettes übrigen Neffen ist keiner darauf eingegangen. So ist wenigstens mein Glaube an die Unsterblichkeit der Erbtante unerschüttert geblieben.

Also, um kurz zu Ende zu erzählen. Als ich eines Abends wieder zu ihr kam, saß sie eng an einen jovial aussehenden Herrn gelehnt in einer Ecke ihres Plüschsofas. Sie fuhr ihm mit ihrer kleinen dicken Kaulquabbenhand fortwährend tätschelnd über das rote Gesicht und stellte ihn mir als »einen alten Freund und Kollegen«, Herrn Gustav Heuforker vor.

»Sieh ihn dir nur recht genau an«, meinte sie mit süßlichem Lächeln. Und dann schalkhaft: »Ja, ja, mein Jüngelchen. Herr Heuforker ist dein Onkel. Wir haben uns verlobt.«

Herr Gustav Heuforker ist längst Witwer, geht aber, wie ich höre, wieder auf Freiersfüßen. – Und den Kerl muß ich Onkel nennen!


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