Erich Mühsam
Die Psychologie der Erbtante
Erich Mühsam

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Tante Ludovika

Es gibt Menschen, die alles Schmerzliche peinlich empfinden. Zu diesen Menschen gehöre ich. Es gibt auch Menschen, die von allem, was sie schmerzt, sehr angenehm berührt werden. Zu diesen Menschen gehörte Tante Ludovika. Deshalb war sie für Psychologen ein interessanter Fall und man nannte sie eine Masochistin.

Würde ich zu Kindern sprechen, so würde ich den Masochismus so erklären: Masochist ist, wenn man ganz artig war und doch Keile kriegt. Da ich aber zu Erwachsenen spreche, sage ich: Masochist ist, wenn man Dolorosa liest. Dolorosa aber ist eine Dame, die Gedichte macht, die masochistisch sind, weil sich Liebe auf Hiebe reimt.

Tante Ludovika also war Masochistin, las Dolorosa, wurde katholisch, kasteite sich und sehnte den Tag herbei, wo ein Mann käme, der ihr diese Übung liebevoll abnähme.

Tante Ludovika aber hatte einen Neffen, wie ja Tanten meist einen oder mehrere Neffen zu haben pflegen, sofern es keine Nichten sind. Dieser Neffe hieß Otto.

Otto war aber nicht sehr gebildet. Er kannte weder die Schriften Dr. Veriphantors über Flagellantismus, noch Krafft-Ebings über psychopathia sexualis, noch meine über Homosexualität. So hielt er Tante Ludovikas Vorliebe für Doloröschens Gedichte einfach für eine künstlerische Verirrung, und schenkte der guten Tante Gedichtbücher, die er für geeigneter hielt, besonders die von Margarete Beutler, der ich in Treue und Freundschaft die zuzueignen mir erlaubt habe. Denn, gestehe ich es nur – beinahe stände hier eine »Tante Lene« aus ihrer Feder, die schon geschrieben war, aber mir aus Zerstreutheit oder anderen Gründen nicht rechtzeitig zuging.

Eines Abends ging Otto zu Tante Ludovika, um zu sehen, ob sie nicht bald infolge ihrer gräßlichen Lektüre mit Tode abginge. Denn eine Erbtante sterben sehen, ist selbst für einen so guten Menschen, wie Neffe Otto war, ein erhebender Anblick, – und im Grunde sagte er sich ja selbst, daß er gar nicht in seinem eigenen Interesse handelte, indem er Tante Ludovika bessere Gedichte zu lesen empfahl. Aber er war eben ein sehr guter Mensch.

Also Otto besuchte eines Abends Tante Ludovika. Als er vor der Türe stand und klopfte, hörte er innen etwas wimmern. Hoffnungsvoll entsetzt stürzte er ins Zimmer. Ihm bot sich ein gräßlicher Anblick. Splitternackt, die welken Brüste nur bedeckt mit einer dünnen grauen Haarsträhne, die ihr übers Ohr herabhing, lag die bejammernswerte Dame auf ihrer Chaiselongue. Vor ihr stand in heraufgestreiften Hemdsärmeln ein alter Mann, der mit zitternder Hand eine Peitsche über Tante Ludovikas Rücken zu schwingen versuchte. Es war ein Versuch mit untauglichen Mitteln. Denn die schwachen Ärmchen des Alten vermochten die schwere Peitsche kaum hochzuheben, und beim Niedersausen traf er stets nur die Rückenlehne des Ruhebetts. Nichtsdestoweniger wimmerte Tante Ludovika jämmerlich.

Otto war, wie gesagt, sehr ungebildet. Er wußte nicht, daß der alte Mann die gute Tante, die zum ersten Male in ihrem lenzereichen Leben einen Liebhaber per Annonce gefunden hatte, nur aus sadistischer Liebe zu prügeln versuchte. Sadist aber ist, wenn man einen Masochisten – siehe oben – verhaut.

Natürlich regte sich in Otto sofort der gute Mensch und der liebende Neffe. Er zog sein Taschenmesser heraus und durchbohrte den alten Herrn mit einem siegreichen Aufschrei durch die Brust. Der Greis aber sank spiralenförmig in sich zusammen, ließ sein spritzendes Herzblut segnend über den nackten gelben Rücken der Tante quellen, röchelte noch: »Ludovikchen, ich liebe dich!« – und verschied –

Daß Tante ludovikas nackter Leib sich nunmehr über die Leiche des Geliebten warf und sein Blut mit ihren Tränen mischte, und daß Otto mit dem bluttriefenden Taschenmesser in der erhobenen Hand mit Rettermiene dabeistand, versteht sich von selbst. Ebenso, daß Tante Ludovika nach den liebreichen Schmerzensergüssen über dem Leichnam des Liebhabers und nach den Flüchen auf den Mörder ihres späten Glücks nach der Polizei rief. Ferner, daß man den toten alten mann ins Leichenschauhaus, Otto ins Gefängnis und Tante Ludovika ins Irrenhaus warf. Auch das ist selbstverständlich, daß die Tochter des Getöteten – er hatte nämlich in jüngeren Jahren, ehe er Sadist wurde, mal eine natürliche Tochter gezeugt – auf Schadensersatz klagte, und daß sie auf diese Weise ihren Beruf einer Straßenschönheit mit dem einer mitgiftbegabten Ehefrau vertauschen konnte, denn ihr fiel Tante Ludovikas ganzes Vermögen zu. Daß Tante Ludovika selbst bald im Irrenhause an Gemüts- und Geisteskrankheit starb, sei nur nebenher erwähnt. Durch die Schadenersatzklage der Tochter des Geliebten hatte sie ja auch ohne ihre ausdrückliche Enterbungsbestimmung dem Neffen Otto nichts mehr zu hinterlassen – und wenn Otto etwas von ihr bekommen hätte, so wäre ja diese Geschichte für dieses Buch absolut wertlos. So hat denn der traurige Ausgang unserer Erzählung doch seine gute Seite.


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