Erich Mühsam
Die Psychologie der Erbtante
Erich Mühsam

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Tante Ursula

Als Sigismund Veilchenstocks Großvater noch an den Klapperstorch glaubte, war Tante Ursula schon ein sorglich gehütetes Erbstück der Familie. Sie mußte unermeßlich reich sein, denn sie war von spanischer Herkunft und höchst wunderlichen Gewohnheiten.

In Toledo war sie geboren, und als sie zur Jungfrau herangeblüht war, da sollten zwei spanische Granden gekommen sein, die um sie warben und sich aus Eifersucht in einem Duell gegenseitig den Garaus machten. Das erzählte man sich von Tante Ursula.

Da ihr Name, ihr Gebaren und ihr Exterieur unverkennbar nach dem semitischen Orient wiesen, nannten die Leute sie ehrfurchtsvoll »die Jüdin von Toledo«. Als aber später auch Sigismund Veilchenstock in die Schar derer eintrat, die das alte Familienstück als immer noch gleich begehrenswerte Erbtante hüteten und hegten, da vervollständigte man den Titel in »die ewige Jüdin von Toledo«.

Dies ist im wesentlichen das, was über Tante Ursulas Personale zu sagen ist.

Betrachten wir sie jetzt selbst.

Ihre Behausung bestand in einer Mansarde im fünften Stock eines Hinterhauses, deren Einrichtung sich aus einem wackelndem Tisch, einem wackelndem Stuhl und einem wackelndem Bett zusammensetzte. Unter der Matratze sollten ihre enormen Schätze verborgen liegen.

Tante Ursulas Kleid, das sie schon anhatte, als Sigismund Veilchenstocks Großvater noch an den Klapperstorch glaubte, trug sämtliche Farben des Regenbogens. Denn die Anzug- und Möbelstoffe all der Neffen und Nichten der zahlreichen Generationen, die der teuren Erbtante aus ihrem Vorrat zur Instandhaltung des Bekleidungsstücks aushalfen, waren von recht mannigfachem Gepräge.

Am linken Fuße trug sie die Reste eines grünen, am rechten die eines rosa Pantoffels; jener hatte ihrem Neffen dritter Generation Konrad, dieser ihrer Nichte vierter Generation Lucia gehört.

Tante Ursulas Gesicht war von gelbgrauer Farbe und in tausend Fältchen zusammengeschrumpft, ihre verkniffenen Augen hatten immer noch einen schlauen Ausdruck und die paar gelbgefärbten Haare, welche ihre Glatze umrahmten, sträubten sich liebevoll, wenn eines ihrer zahllosen Neffen oder Nichten zu ihr in die Kemenate kam.

Und das kam fast jeden Tag vor. Ästhetische Bedenken durften nicht obwalten, denn die Schätze, welche unter der Matratze verborgen lagen, hatten sicher ein angenehmeres Odeur, als dem Besucher beim Eintritt in Tante Ursulas Wohnraum entgegenströmte.

Eines Tages ward Tante Ursula krank. Da lief es in dem Mansardenstübchen den ganzen Tag lang ein und aus. Einer brachte Wein, der andere Wurst, noch einer Schokolade, und eine kleine Nichte sechster Generation brachte sogar ihre Lieblingspuppe, damit Tante Ursula daran Freude und Tröstung habe.

Sigismund Veilchenstock war außer sich vor Glück, daß endlich die Teilung des Geldes der alten Schrulle in naher Aussicht stände.

Wenn er die kranke Erbtante besuchte, bohrten sich seine Blicke durch den morschen Leib der uralten Dame und die filzige Matratze hindurch, und er meinte Tausende von Scheinen zu sehen; und wenn Tante Ursula sich bewegte und ihre hageren Knochen knackten, dann glaubte Sigismund, er höre die Goldmünzen, auf denen sie lag, klimpern.

Tante Ursulas Zustand wurde zusehends erfreulicher, d.h. ihre Kräfte schwanden nach und nach so rapid, daß sie den ihr trostreich zusprechenden Erben, die rieten, doch gar nicht an den Tod zu denken, sie selbst würden den Schmerz unmöglich überleben können, nur noch durch schwaches Grunzen antworten konnte.

Und dann ging es zu Ende. 45 Hinterbleibende hatten sich in dem kleinen Raume zusammengefunden, um dem feierlichen Moment beizuwohnen. Aber viele von ihnen fürchteten noch vor Tante Ursulas letztem Seufzer in der scheußlichen Luft, die in der Kammer herrschte, ersticken zu müssen.

Plötzlich machte Tante Ursula eine Bewegung. Alle Hälse reckten sich. Sie streckte die Beine mit einem Ruck gradeaus und deutete mit der Hand unter sich, an den Körperteil, auf dem sie in gesunden Tagen zu sitzen pflegte.

Die Erben hatten verstanden. Da lag der Schatz.

Jetzt – ein hohles Quieken – ein letztes Schnauben – Tante Ursula hatte vollendet.

90 Hände streckten sich gierig aus, um den Leichnam von seinem Lager zu heben, und nach einem zwanzig Minuten währenden Handgemenge, bei dem es mehrere blutende Nasen gab, trug Sigismund Veilchenstock die tote Tante unter ihr Bett.

Machen wir's kurz: Trotz mehrstündigen Suchens wurden die Millionen nicht gefunden, auf die die Erben so lange gehofft hatten. In der Schublade des Tisches lagen drei Kupferpfennige – an der Stelle aber, auf die Tante Ursula in ihrer Sterbestunde mit dem Finger gedeutet hatte, lagen die Folgen ihrer letzten Mahlzeit.

Die Erben hielten sich dadurch schadlos, daß sie Tante URsulas Leichnam an ein anatomisches Institut veräußerten. Der Ertrag war 22,50 Mark, sodaß jeder der Erben 50 Pfennige erhielt.

Das ist die Geschichte der Erbtante Ursula, der ewigen Jüdin von Toledo.


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