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Das Stadttheater zu X. an einen lebenden Dichter:
Sehr geehrter Herr!
Nach sorgsamer Prüfung Ihres neuen fünfaktigen Schauspiels sind wir leider genötigt, Ihnen das zweifellos sehr beachtenswerte Werk mit dem Ausdruck unseres Bedauerns wieder zurückzugeben. Ihr Stück erhebt im Punkte der dekorativen und szenischen Ausstattung so gewaltige Anforderungen, daß wir uns außerstande sehen, unseren Etat nach dem Maße Ihrer Wünsche zu belasten, da es sich doch um ein Werk von noch nicht erprobter Zugkraft handelt.
Indes legt uns die ganze Art Ihrer erfindungsreichen Gestaltung den Wunsch nahe, Sie in anderer Weise unserem Institut zu verbinden. Hätten Sie wohl Lust, einige Klassiker für uns neu zu bearbeiten? Wir verstehen darunter nicht ein Herumflicken an Worten und Versen, sondern eine wirkliche Neugestaltung, von der auch die Szenenführung, ja der Inhalt Gewinn ziehen soll. Mehrere mit Recht berühmte Bühnen der großen Hauptstädte haben bereits das Wagnis mit Erfolg übernommen, und man rechnet es ihnen zum Lobe an, daß sie Sophokles, Plautus, ja sogar Molière mit kräftigen Händen neu gestaltend ergriffen haben.
Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns nach dieser Richtung möglichst bald mit geeigneten Vorschlägen erfreuen würden.
Der Dichter an das Stadttheater:
Ich habe mir Ihre Anregung durch den Kopf gehen lassen und glaube in der Lage zu sein, Ihnen schon heute einen Plan unterbreiten zu können. Da Sophokles, Plautus und besonders Molière bereits genügend betreut und versorgt sind, so möchte ich es in meinem ersten Anlauf mit Shakespeare versuchen. Um das Wesentliche vorwegzunehmen, so würde ich es mir wohl zutrauen, einem Stück, wie dem »Hamlet«, neue Glanzlichter aufzusetzen. Immer vorausgesetzt, daß wir uns im Hauptpunkt richtig verstehen, nämlich darin, daß wir uns von der falschen Pietät früherer engherziger Zeiten zugunsten voller Freiheit dichterischen Neuschaffens lossagen.
Ich denke hier zunächst an die Aufstellung eines ganz neuen Aktes, der in der Idee nahe genug liegt, und den Shakespeare aus mir nicht ganz verständlichen Motiven zu schreiben unterlassen hat. Es liegt mir selbstverständlich fern, die Historie zu vergewaltigen; ich bleibe vielmehr getreu im Rahmen der geschichtlichen Wahrheit, wenn ich den neuen Akt nach Wittenberg verlege. Denn auf der hohen Schule von Wittenberg hat Hamlet bekanntlich studiert, als er die Nachricht von seines Vaters plötzlichem Tode empfing. Und hier setzt die Kombination ein: Auch unser deutscher Faust war ja ein Wittenberger, Teilhaber derselben Universität, auf der Hamlet seine Bildung empfing! Was liegt näher, als diese beiden Ur- und Kerngestalten dramatischer Philosophie endlich einmal auf der Bühne in enger Fühlung aneinander zu bringen?
Die beiden Grundtypen des grübelnden Deutschen, – von Faust braucht's ja nicht erst bewiesen zu werden, – aber denken Sie an Gervinus, der den Hamlet direkt als Normaldeutschen definierte, denken Sie an Freiligraths Ausruf: Hamlet ist Deutschland! – und Sie werden mir zugeben, daß aus der Zusammenführung beider eine Szene entstehen kann, ja sich notwendig ergeben muß, die im gesamten Schrifttum ihresgleichen nicht findet.
Ich lasse es vorerst bei dieser Andeutung bewenden und behalte mir vor, Ihnen demnächst weitere Horizonte meines Planes zu erschließen.
Der Komponist B. an das Theater:
Ihrer freundlichen Weisung entsprechend, habe ich mich mit dem Dichter in Verbindung gesetzt, und mit Genugtuung stelle ich fest, daß sich schon im ersten Briefwechsel ein annähernder Gleichlauf unserer Ideen entwickelt hat.
Meinem Beruf, dem ich mit aller Leidenschaft ergeben bin, werden Sie es zugut halten, wenn ich in der Grundauffassung noch einen Schritt weiter gehe, als Sie selbst. Wenn Sie eine Steigerung Shakespearescher Eindrücke durch rhythmische Künste nur für möglich halten, so erkläre ich für meine Person geradezu: ein Hamlet ohne Ballett ist einfach ein Unding! Nur wird man die hierfür erforderlichen tonkünstlerischen Motive nicht bei Gluck oder Mozart, sondern weit näherliegend bei Meyerbeer suchen und finden müssen.
Mir ist es ganz erwiesen, daß der Segen der reformatorischen Neubearbeitung bei der Kirchhofszene einzusetzen hat. Ist es doch die Kunstgeschichte selbst, die mit weisem Bedacht das vorbereitete, was wir brauchen: Hamlet agiert zwischen den Gräbern, Meyerbeer hat für seinen »Robert der Teufel« ein Kirchhofballett geschrieben, – vereinigen wir diese zwei Düsternisse, und aus der Synthese wird eine Wirkung hervorwachsen, von der sich die Schulweisheit rückständiger Dramaturgen nichts träumen läßt.
Selbstverständlich muß ich mir ein ansehnliches Maß von Freiheit in der Behandlung der Meyerbeerischen Tanzvorlage vorbehalten, damit etwas Organisches zustande kommt: die Verschmelzung einer Totengräberphantasie im Geiste Hamlets mit einem tönenden Bacchanal zu einer höheren Einheit, in der des Gedankens Blässe mit beschwingter Anmut zur angeborenen Farbe der Entschließung emporgeläutert wird.
Der Dozent Z. an den Dichter:
Ich finde es ganz in der Ordnung, daß Du in dieser schwierigen Angelegenheit meinen Rat einholst; denn es liegt auf der Hand, daß Dein Vorhaben der bewußten Neueinrichtung nur dann gelingen kann, wenn es sich auf die vorhandenen Ergebnisse der Literaturforscher stützt.
Ich kann Dir nun als ein mit Lehramt ausgestatteter Sachverständiger mitteilen, daß Dich der eigene Instinkt hier durchaus auf die richtige Fährte geleitet hat. Wenn Du jetzt daran gehst, Hamlet als Dame auftreten zu lassen, so wird ein erhöhter Kunstverstand mehr darin zu erblicken haben, als einen Akt der Neuerungssucht: Hamlet war nämlich ein Weib, nicht etwa in übertragener philosophischer Ausdeutung, sondern in corpore seiner geschlechtlichen Wirklichkeit. Die Vermutung bestand schon lange, sie ist aber neuerdings durch tiefgründige Untersuchungen bedeutender Forscher zum Range einer Gewißheit emporgehoben worden. Kann es ein Zufall sein, daß der Geist des Vaters bei aller Redseligkeit geflissentlich den Ausdruck »Sohn« vermeidet? Zufall, daß die Königin mit dem Worte »er ist fett« auf seine vollen Formen anspielt, die so schlecht wie nur denkbar auf die Natur eines melancholischen Prinzen passen? Zufall, daß in seinem Denken und Fühlen so viel hysterisch-weibische Züge durchbrechen, daß seine Freundschaft zu Horatio erotisch betont erscheint? Nein, alles drängt uns auf die Annahme einer absichtsvollen Verkleidung, auf jenen geheimen Zauber, der von jeher feinspürige Schauspielerinnen verlockt hat, die Rolle des Hamlet darzustellen. Vor mir liegt eine dicke Abhandlung des englischen Literaturfachmannes Vining, der die Züge aus den Dramen und der Geschichte zusammengetragen hat, um aus ihnen den untrüglichen Schluß zu gewinnen: Hamlet war eine dänische Prinzessin!
Du stehst mithin auf ganz gesichertem Boden, wenn Du das im Bühnenschlendrian erstarrte Drama um ein Fräulein Hamlet gruppierst und ihm dadurch eine neue Beweglichkeit verleihst. Gehst Du noch einen Schritt weiter, indem Du die Ophelia in einen Ophelius verwandelst, so wird man zwar von einer dichterischen Lizenz reden dürfen, ohne indes daraus einen durchschlagenden Vorwurf herzuleiten. Ganz im Gegenteil finde ich, daß erst dadurch die Symmetrie der Begebnisse hergestellt wird. Immerhin wirst Du Dir der notwendigen Grenzen bewußt bleiben müssen und nicht etwa den Polonius in eine Polonia umkorrigieren, so gern auch Dein Mitarbeiter, der Komponist, den Anlaß zu einer Polonäse mit Themen von Chopin benutzen möchte.
Der Dichter an das Theater:
In vier Wochen spätestens hoffe ich alles Wesentliche meines neuen »Hamlet« unter Dach und Fach zu haben; ich hoffe das um so zuversichtlicher, als meine bisherigen Vorschläge das Glück hatten, Ihre restlose Zustimmung zu finden.
In der Anlage finden Sie den Entwurf einer gänzlich neuen Szene, die ich in den letzten Aufzug meines Stückes einzuschalten gedenke. Der erheuchelte Wahnsinn Hamlets, der wirkliche Irrsinn Ophelias haben es mir nahegelegt, die Geistesverwirrtheit an sich zum Kern eines allegorischen Auftritts zu wählen. Ähnlich wie in »Macbeth« und in »Richard III.« sollen hier Figuren in Phantasmagorie vor dem Beschauer vorüberziehen, die durch eine psychologische Grundeigenschaft einheitlich auf einander bezogen werden. Ihr Generalnenner sozusagen wird durch den erhabenen Irrsinn dargestellt, der sie gemeinsam beseelt. An Stelle des für mich gänzlich unhaltbaren Shakespeareschen Schlusses tritt nunmehr eine Vision, ein Apotheose: die großen Geistesgestörten aus Sage, Geschichte und Kunst formen hier den Hamlet-Ophelischen Reigen, vom rasenden Ajax angefangen zum rasenden Roland, vom englischen Lear zum deutschen Gretchen und weiterhin zu den Geistern eines Hölderlin, Robert Schumann und Friedrich Nietzsche. Die begleitende Musik wird mein Kollege aus italienischen Opern zusammenstellen, in denen die Vortragsbezeichnung delirando wiederholt auftritt. Das kann ein Schluß werden, dessen Kraft ausreicht um dreißig Aufführungen in einer Spielzeit zu verbürgen und die leidige Frage »wo bleiben die neuzeitlichen Dramatiker?« endgültig zum Schweigen zu bringen.
Eine übermäßige Verlängerung des Theaterabends brauchen Sie deswegen nicht zu befürchten. In der Anlage Nummer zwei dieses Briefes übergebe ich Ihnen das Verzeichnis derjenigen Szenen von Shakespeare, die ich nunmehr aus meinem Drama herauszustreichen fest entschlossen bin. Sie umfassen zusammen ungefähr zwei Stunden Spieldauer und sind bei ihrer völligen Entbehrlichkeit durchaus geeignet, dem Rotstift des nachschaffenden Dichters zum Opfer zu fallen.
Das Theater an den Dichter:
Im Besitz Ihrer Zuschriften möchten wir Sie schon heute zu dem glänzenden Erfolge Ihrer Uraufführung am 27. nächsten Monats einladen. Nur noch eine kurze Verständigung erscheint uns vorher erforderlich. Bei aller Anerkennung Ihrer Neuschöpfung möchten wir doch insofern an der alten Gepflogenheit festhalten, als wir auf den Zettel nach wie vor zu schreiben gedenken: »Hamlet« von Shakespeare. Denn eine Verleugnung dieses Brauches könnte uns von unberufenen Beurteilern leicht als ein Verstoß gegen die Pietät angekreidet werden.