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Man merke sich die Namen: Namirez, Cabrera, Gonzales, Lopez, Perera, Martinez, Bolivar, Blanco, Castro, Olivera; wenn man sie in irgendeiner Reihenfolge dem Gedächtnis einverleibt hat, so weiß man in der Revolutionsgeschichte der Cordillerenstaaten annähernd Bescheid. Alle diese Herrschaften sind nämlich Präsidenten, und sie werden es dadurch, daß einer immer den anderen stürzt respektive ermordet, was eine in ihrer Mannigfaltigkeit höchst erquickliche Reihe von Permutationen zuläßt.
Der geschichtliche Urgrund aller dieser Revolten ist in tiefes Dunkel gehüllt. Nur das eine steht fest, daß dabei enorm viel geschossen wird. In den peruanischen Archiven wird eine Tafel aufbewahrt, die in Antiqualettern folgende von einem deutschen Ansiedler gestiftete Inschrift aufzeigt:
»Eine treue Familie bei Lima feuerte nie.«
Dieser lapidare Satz kann Buchstabe für Buchstabe von rückwärts nach vorn gelesen werden, ohne seinen Inhalt zu ändern. Das Buchstabenphänomen entspricht in seiner Seltenheit durchaus der Abnormität des Vorganges. Alle anderen Familien bei Lima und in jenen interessanten Ländern überhaupt feuerten eben unausgesetzt, und den Inbegriff all dieser Feuertage nennt man kurz: Die Geschichte der südamerikanischen Freistaaten.
Nur in einem einzigen Falle ist es mir gelungen, die Grundmotive einer solchen Revolution evident festzustellen. Auch hier laufen die Fäden anscheinend ziemlich kraus durcheinander. Aber es glückte mir schließlich, sie zu entwirren und den Hauptfaden in aller Klarheit bloßzulegen. Der fing, seltsam genug, in London an.
Hier war es, wo in einem fashionablen Klub der rauhe Irländer Mac Clintock und der elegante Lord Pinkleton aneinanderprallten. Mac Clintock hatte die Taktlosigkeit begangen, bei einer abendlichen Zusammenkunft in Alpendreß zu erscheinen, ein Verstoß gegen die Klubsitte, der den auf Manneswürde und Frack eingeschworenen Lord tief empörte. »Sie kommen wohl aus einer Maskenverleihanstalt?« fragte er.
»O nein,« erwiderte der Ire, »ich komme vielmehr geraden Weges von der Spitze des Montblanc, die ich unter meine eisenbeschlagenen Schuhe getreten habe.«
»Ist auch ein rechtes Kunststück!«
»Nun, das will ich meinen, Mylord! 4800 Meter Höhe! Haben Sie überhaupt schon jemals einen Berg absolviert? Sind Sie schon einmal an einem steilhängenden Gletscher emporgeklettert?«
»Sollte mir einfallen! Das Klettern überlasse ich den Affen, Kaminfegern, Dachdeckern und Renommisten!«
»So redet ein Schwächling, der vor dem bloßen Gedanken an eine Aszension von 4800 Metern zurückschaudert!«
»Ich schaudere nur vor Ihrem Kostüm und nicht vor den 4800 Metern, die Sie mir mit so großer Beharrlichkeit um die Ohren schlagen. Wenn ich wollte, mir wäre das eine Bagatelle. Auf Ihren Montblanc pfeife ich. Ich bin der Lord Pinkleton, und wenn es nicht wenigstens 6000 Meter sind, fange ich gar nicht an.«
»Und mich nennen Sie einen Renommisten? Sie renommieren!«
»Wetten die Herren doch!« schallte es ihnen entgegen. Das Wort fiel auf fruchtbaren Boden, und in die Wettbücher wurde eingetragen: Lord Pinkleton erklärt, bis zum 15. September eine Bergspitze von mindestens 6000 Meter Höhe ersteigen zu wollen. Mr. Mac Clintock bestreitet die Möglichkeit. Der Verlierer zahlt an den Gewinner 10 000 Pfund Sterling und übernimmt außerdem die Kosten der Expedition. Die Benutzung von Luftballons und Flugmaschinen ist ausgeschlossen. Der in alpinen Dingen wohlbewanderte Dr. Francis, Mitglied des Klubs, wird den Lord als Zeuge des Aufstieges begleiten.
Noch am selben Abend begaben sich der Lord und Dr. Francis zu einer Beratung ins Bibliothekzimmer. »Wenn es Ihnen recht ist, Doktor, benutzen wir morgen früh den ersten Zug nach dem Kontinent. Denn in Großbritannien, so vermute ich, werden wir einen Berg von der stipulierten Höhe kaum aufzutreiben vermögen.«
Dr. Francis zündete sich eine Henry Clay an und sagte bedächtig: »Eure Lordschaft vermuten ganz richtig. Aber auch der Kontinent wird nicht in der glücklichen Lage sein, Ihnen das Verlangte bieten zu können, denn die 4800 Meter des Montblanc sind bekanntlich das Maximum in Europa.«
»Doktor, ich bin ein Edelmann und kein Geograph. Ich ersuche Sie deshalb, mich mit Ausdrücken wie bekanntlich und selbstverständlich zu verschonen. Sie sollen mir vielmehr als Experte einfach mitteilen, welchen Berg ich zu wählen habe.«
»Und ich kann nur wiederholen, daß in ganz Europa kein solcher vorhanden ist.«
»Well, dann fahren wir nach Afrika.«
»Auch dort nicht. Der höchste Gipfel in Afrika ist die Kibospitze des Kilimandscharo, die sich nach den neuesten Messungen nur bis zu 5800 Meter erhebt. Aber wie wäre es mit dem Himalaya? Ich könnte Ihnen dort den Gaurisankar empfehlen, der mißt zirka 9000 Meter.«
»Das sind 3000 Meter zuviel. Ich habe nicht die mindeste Veranlassung, mir mehr zuzumuten, als die Wette vorschreibt. Ich verlange von Ihnen einen Berg von akkurat sechs Mille, nicht einen Meter darüber!«
»Einen solchen wüßte ich auch in Asien nicht zu nennen. Aber halt! In den Cordilleren existiert so einer von genau 6000 Metern. Es ist der Gualasieri in der Provinz Mendoza, einer Seitenrepublik von Bolivia.«
»Sehr gut, Doktor. Da hätten wir also das Objekt. Wir werden morgen früh direkt nach dem Gualasieri abreisen.«
»Das geht nicht so direkt, Lord. Wir müssen zunächst nach Liverpool und hätten dort dreizehn Tage auf das nächstfällige Schiff nach Caracas zu warten.«
»Sie sind zerstreut, Doktor. Ich will nicht nach Caracas, sondern nach dem Gualafieri.«
»Selbstverständlich über Caracas, da bekanntlich . . .«
». . . Da bekanntlich in der ganzen Angelegenheit nur das eine selbstverständlich ist, daß ich die Wette gewinne.«
»Ich glaube, Lord, Sie werden verlieren. Sie stellen sich vor, man steigt da so hinauf wie auf den Turm von Westminster.«
»Gott soll mich bewahren, so viele Treppen zu steigen! Ein Berg ist doch kein Turm. Ich hoffe, daß man da in sanfter Steigung hinaufkommen wird.«
»Durchaus nicht. Was Sie sich vorgenommen haben, stellt ein überaus ernstes, schwieriges und gefährliches Wagnis dar. Sie sollten sich erst ein paar Wochen in den europäischen Alpen trainieren. Ich will Ihnen dabei behilflich sein, und wir fahren dann mit dem übernächsten Dampfer.«
»Ich denke nicht daran. Trainieren heißt steigen, und das lehne ich glatt ab. 6000 Meter stehen auf dem Programm, nicht einen Zentimeter gebe ich als Zulage.«
»Und was wollen Sie während der dreizehn Tage beginnen, die wir noch warten müssen?«
»Wir müssen gar nicht warten, ich werde eine Dampfjacht chartern, die sofort in See stechen soll.«
»Das vereinfacht natürlich die Sache; wenn das Geld gar keine Rolle spielt . . .«
»Indeed; es liegt nicht das geringste Motiv vor, das Geld meines Gegners zu schonen.« – –
Einige Wochen später befanden sich der Lord und der Doktor auf dem Hochplateau der südamerikanischen Republik. Auf einer kleinen Anhöhe lag ihr Gasthof, von dessen Veranda aus sich eine imposante Fernsicht eröffnete. Tief im Tale die Hauptstadt mit dem in graziösen Formen gehaltenen Palaste des Präsidenten Cabrera, darüber die stattliche Bergfestung Santa Cruz, und nach Nordwest hin, alles überragend, der in Schroffen himmelansteigende Gualafieri, dessen weiße Firnspitze sich in den Azur zu bohren schien. Aber dieses entzückende Panorama verwölkte sich schon eine Stunde nach ihrer Ankunft. Phöbus, der die Gäste aus seinem Zelt von reinster Tropenbläue begrüßt hatte, zog einen Dunstmantel nach dem anderen über die Schultern und verkroch sich bald gänzlich, um das Regiment dem Jupiter pluvius zu überlassen.
In der Stadt gab es gerade eines jener Volksfeste, deren der Kalender dieser gesegneten Republik an dreihundert pro Jahr aufzählt. Dem Regen zum Trotz jubilierte die Menge unter improvisierten Zeltdächern mit ihrer in endlosen Wiederholungen gesungenen, gefiedelten, gedudelten und geblasenen Nationalhymne: »Heil dem Präsidenten Cabrera, – dem Inaugurator der goldenen Ära, – Heil dem Trefflichen, Prominenten, – Tod jedem Feinde des Präsidenten!«
Auch einem mäßig begabten Menschen hätte bei diesen Ausbrüchen der Begeisterung binnen drei Minuten klar werden müssen, daß dieses Volk entschlossen war, sich für ihr Oberhaupt Cabrera zerhacken, sieden und rösten zu lassen, und da unseren Touristen an der Vertiefung dieser Kenntnis nicht viel lag, so saßen sie vom zehnten Tage ab fast unausgesetzt in der Gaststube des Hotels, überlegten, wie man bei diesem Wetter auf den Gualafieri hinauf könnte, und spülten ihre Ratlosigkeit mit gutem Xeres hinunter.
»Nun haben wir alles, was wir für die Expedition brauchen,« sagte der Lord, »Führer, Träger, Proviant, Decken, Leitern, Spitzhacken, Seile, eine tragbare Hütte, und sind hier unten zur Haft verurteilt, weil eine Aszension unter diesen Bedingungen ein Wahnsinn wäre!«
»Eine Unmöglichkeit,« ergänzte Francis. »Die Wolkenbrüche würden uns beim ersten Versuch in die Tiefe schwemmen.«
»Was geschieht nun aber, wenn diese Güsse noch wochenlang andauern?«
»Dann versäumen Sie den Termin und verlieren Ihre Wette. Ich hab' Ihnen das schon in London prophezeit.«
»Doktor, Sie werden zugeben, daß es absurd wäre, mit dieser Eventualität zu rechnen. Ich hab' noch nie eine Wette verloren.«
»So werden Sie endlich einmal damit anfangen müssen. Gegen den Himmel sind wir machtlos.«
»Das wäre erst noch zu beweisen. Ich habe einmal im Klub von Versuchen gehört, die darauf abzielten, das Wetter künstlich zu verbessern.«
»Sie meinen das Wetterschießen, Lord? Diese Experimente sind mir natürlich auch bekannt. Aber dazu gehören Kanonen.«
»Flintenschüsse, meinen Sie, würden nicht ausreichen?«
»Absolut nicht. Die Kanone ist das Minimum. Die Legende vom Wetterschießen knüpft an den Tag von Waterloo an, an dem Wellingtons Geschütze in den Regenhimmel direkt Bresche geschossen haben sollen.«
»Wir werden dasselbe tun, Doktor. Wir werden die Wolken entzwei bombardieren und uns gutes Wetter herunterschießen.«
»Und wo bekommen Sie die Kanonen her? Etwa auf dem Jahrmarkt da unten? oder wollen Sie sich mit Armstrong in Verbindung setzen? Das würde Monate in Anspruch nehmen, abgesehen davon, daß Ihnen keine Regierung der Welt die Erlaubnis gäbe, auf ihrem Gebiet mit Geschützen zu exerzieren.«
In diesem Moment betrat der Kommandant des Forts Santa Cruz das Lokal. Er befand sich in Begleitung seines Adjutanten, und beide hatten wie alltäglich die Absicht, sich von den Strapazen des Volksfestes bei dem berühmten Xeres des Herbergsvaters ein wenig zu erholen.
»Nun Lord,« sagte der Kommandant, »wie befinden Sie sich, was macht Ihre Aszension? Wird nichts daraus werden, was? Bei dem Wetter!«
»Herr Kommandant Olivera,« erklärte der Lord, »in Ihrer Hand liegt es, mir zu helfen!« und nun entwickelte er dem Gaste die Idee des Wetterschießens als des einzigen Mittels, die Gewalt der Witterung durch menschliche Technik zu brechen.
»Wenn ich Sie recht verstehe, Lord, so verlangen Sie von mir, daß ich einem Fremden zuliebe, der sich einen Sport in den Kopf gesetzt hat, die Geschütze unserer Forteresse spielen lasse. Sie werden begreifen, daß das ein Unding ist. Ohne den ausdrücklichen Befehl meines allverehrten Präsidenten Cabrera dürfte ich nicht eine Kartusche verbrennen.«
»Herr Kommandant, es handelt sich nicht um scharfe Schüsse, sondern um blinde; mir liegt lediglich an der Lufterschütterung, an der atmosphärischen Wirkung.«
»Und ich wiederhole Ihnen, daß meine Festung nur dazu da ist, um Land und Leute zu verteidigen, nicht aber um wegen der Laune eines Touristen die Luft zu erschüttern.«
»Das müßten wir unter jeder Bedingung ablehnen,« ergänzte der Adjutant, Hauptmann Lopez Perera.
»Darf ich fragen, Herr Kommandant, was für ein Gehalt Sie beziehen?«
»Das steht zwar in gar keinem Zusammenhange mit dieser Angelegenheit, aber da es kein Amtsgeheimnis ist, will ich es Ihnen sagen: die Gnade seiner Herrlichkeit meines vielgeliebten Landeschefs gestattet mir, 2000 Pesos jährlich zu verzehren.«
»Ich biete Ihnen das fünffache, wenn Sie noch heute ein Wetterschießen veranstalten.«
»Zahlbar wann?«
»Zahlbar sofort.«
»Kommen Sie, Lopez Perera, wir werden feuern.«
Auf dem Wege zum Fort spann Olivera die Unterhaltung weiter: »Sie besinnen sich, Hauptmann, daß ich stets große Stücke auf die Wissenschaft gehalten habe. Und dieser Plan des Engländers verbindet offenbar das Wissenschaftliche mit dem Praktischen. Das fünffache Jahresgehalt auf einem Brett! Wer bürgt mir dafür, daß unser allergnädigster Präsident noch fünf Jahre regiert? Daß ich unter seinem Nachfolger noch dieses Kommando innehabe?«
»Dafür bürgt Ihnen niemand,« entgegnete der Hauptmann; »aber für etwas anderes will ich Ihnen garantieren: daß Sie bereits morgen abgesetzt sind, wenn Sie wetterschießen lassen.«
»Das käme ganz auf die Richtung an, in der ich schieße.«
»Wir sollen ja blind schießen, nach oben, in die Luft.«
»Noch wirkungsvoller wäre es, wenn wir scharf feuerten, und zwar nach unten.«
»Unten steht das Palais des Präsidenten.«
»Vortrefflich, mein lieber Lopez Perera. Schießen wir also das Palais zusammen!«
Und diesmal war es keine Legende, das Experiment hatte vielmehr den sichtbarsten, durchschlagendsten Erfolg. Schon beim zehnten Schuß besänftigte sich der Regen, beim zwanzigsten zerstoben die Wolken, und als die Kanonade im vollen Gange war, blaute der Himmel auf den wagemutigen Lord, der ohne Training, lediglich durch die motorische Kraft der Wette gespornt, ein Wunder vollbrachte. Lange vor Ablauf des gebuchten Termins konnte Dr. Francis bezeugen, daß Lord Pinkleton die Spitze des Gualafieri zu seinen Füßen gesehen und damit das 6000-Meter-Problem gelöst hatte.
Und noch ein Zweites wurde bei dieser Gelegenheit erwiesen, nämlich daß der in Europa bewährte Satz »zu einer guten Revolution gehört gutes Wetter« auch für die Kordillerenstaaten Gültigkeit besitzt.
Als die Engländer im strahlenden Sonnenlicht vom Scheitel des Berggiganten nach der Stadt zurückkehrten, tobte das Volksfest noch immer mit unverminderter Heftigkeit. Nur in der Nationalhymne war eine kleine Veränderung bemerkbar, da der Text des patriotischen Liedes nunmehr lautete: »Heil dem Präses Olivera, dem Begründer goldener Ära . . .«
Der neue Präsident Olivera zeigte neben vielen anderen Mannestugenden auch in hervorragendem Maße die der Dankbarkeit. So ernannte er sofort seinen Adjutanten Lopez Perera, der ihn beim Wetterschießen unterstützt hatte, zum Kommandeur des Forts. Die Kanonen von Santa Cruz ließ er an demselben Tage vernageln, da er es für angezeigt hielt, seine Herzensgüte mit vorausschauender Weisheit zu paaren.
Er regierte, von auffallendem Glück begünstigt, länger als die meisten seiner Vorgänger, nämlich 3 Monate, 4 Tage und 5 Minuten, genau bis zu dem Augenblick, da sein Freund Lopez sich mit dem Dolch in der Hand und mit der Nationalhymne »Heil dem Präsidenten Perera« zum Chef des Staatswesens emporschwang.