Alexander Moszkowski
Ernste und heitere Paradoxe
Alexander Moszkowski

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Die verbogenen Welten.

Man unterhielt sich über allerhand Träume, und der Freund des Philosophen erzählte gerade sein Traumerlebnis der verflossenen Nacht. Es wäre ihm gewesen, als wüchse er unaufhörlich, erst bis zur Goliath-Größe, dann noch weit darüber hinaus; er habe eine Ausdehnung erreicht etwa wie der Ulmer Domturm. Das sei ganz unheimlich und unbehaglich gewesen.

Der Philosoph: Das läßt sich denken; vorausgesetzt, daß du dich träumend in geschlossenem Raum befunden hast. Denn dann mußt du ja mit dem Kopf durch die Stubendecke und durch alle Stockwerke des Hauses gestoßen sein.

Der Freund: Nein, so war's nicht. Ich befand mich allerdings im Zimmer, allein alles um mich herum wuchs mit mir im gleichen Verhältnis. Ich sehe mich noch am Schreibtisch, wie ich mit einem Federhalter von der Länge eines Mastbaumes einen Brief schrieb; aus einem Tintenbottich, der umfänglicher war als das größte Stückfaß im Ratskeller. Eigentlich war ich recht froh, als ich aufwachte und alles wieder in den gewohnten Größenverhältnissen vorfand.

Der Philosoph: Und du bist nun ganz sicher, daß sich an diesen Größenverhältnissen gar nichts geändert hat?

Der Freund: Schnurrige Frage. Erstlich sehe ich doch, daß alles genau ist, wie es war. Und zweitens: wenn ich träume, so hat das doch nicht den geringsten Einfluß auf die Wirklichkeit.

Der Philosoph: Also die Wirklichkeit steht fest, in allen Ausdehnungen und Formaten. Das wollen wir doch einmal untersuchen; und zwar nach einer Methode, die von Poincaré herrührt.

Der Freund: Bitte, nichts von Politik in diesem Zusammenhange.

Der Philosoph: Ausgeschlossen. Ich rede von dem Mathematiker gleichen Namens, von Henri Poincaré, welcher derartige Träume in den Bereich seiner Untersuchungen gezogen hat; mit dem Ergebnis, daß sich die Welt andauernd in der erstaunlichsten Weise verändern kann, ohne daß wir davon das allergeringste bemerken.

Der Freund: Das wird sicher auf eine Sophisterei hinauslaufen. Habe ich doch sogar den Unterschied im Moment des Aufwachens auf das allerdeutlichste wahrgenommen.

Der Philosoph: So erschien es dir allerdings. Aber stelle dir einmal vor, der Traum wäre Wahrheit gewesen. Du wärest wirklich um das Hundertfache gewachsen, und alle Dinge um dich herum hätten dies nach Länge, Breite und Dicke mitgemacht; nicht nur die nahen Gegenstände, sondern alles Sichtbare und Greifbare überhaupt, also die ganze Welt. So würde jedes Mittel fehlen, um den Unterschied zwischen jetzt und früher irgendwie festzustellen. Denn sämtliche Maßstäbe, die wir in unseren Sinnen tragen, hätten sich gleichfalls verhundertfacht, müßten uns also genau dieselben Ergebnisse liefern wie zuvor. Leuchtet dir das ein?

Der Freund: Nein, durchaus nicht. Eher könnte ich sagen: es verwirrt mich. Ich will mich aber nicht verwirren lassen. Halt, ich hab's! Du redest immer nur von der geometrischen Ausdehnung; ist denn das aber alles, was ich von mir und von anderen Körpern weiß? Da gibt es doch noch andere Erscheinungen, Bestimmungen und Merkmale; und wenn du einseitig mit der Größe anrückst, so spiele ich dagegen die physikalischen Eigenschaften aus; zum Beispiel die Masse der Körper, ihr Gewicht. Die würden sich doch auch geändert haben, und zwar in ganz anderem Verhältnis als in der linearen Ausdehnung.

Der Philosoph: Der Einwand war zu erwarten, er hält aber nicht stand. Nämlich weil auch jede physikalische Eigenschaft, kurz alles Wahrnehmbare im letzten Grunde auf einfache Zahlenverhältnisse zurückgeht. Griffe also eine übernatürliche Gewalt plötzlich oder allmählich in unseren Weltenbau ein, um ihn in allen Dimensionen ungeheuerlich zu verändern, so wäre dieser Vorgang nur von einer anderen Welt her erkennbar, für uns aber, für die in dieser Welt eingeschlossenen Beobachter, durchaus nicht. Der vorige Zustand und der spätere wären schlechterdings ununterscheidbar, anders ausgerdrückt: es hätte überhaupt gar keine Veränderung stattgefunden. Alles wäre genau so geblieben, wie es war, – für uns, – trotz aller Vergrößerung, trotz aller Verkürzung; denn wir können auch umgekehrt schließen: gesetzt, diese ganze Welt schrumpfte ein bis zur Winzigkeit, bis zur Ausdehnungslosigkeit eines einzigen Punktes, so bliebe sie in allem Ablauf der Erscheinungen immer noch unsere bekannte Welt, ohne daß sich in unseren Betrachtungen, Arbeiten, Freuden und Sorgen das allermindeste geändert hätte.

Der Freund: Das klingt allerdings äußerst abenteuerlich.

Der Philosoph: Und ist doch erst der Anfang des gedanklichen Abenteuers, das wir zu durchmessen haben, wenn wir uns von dem Vorurteil des Absoluten gründlich zu befreien trachten. Jene übernatürliche eingreifende Gewalt wollen wir uns einmal personifizieren. Und um ihr einen Namen zu geben, nennen wir sie mit Plato: den Demiurgos. In seinem Belieben steht es, die Körperwelt unaufhörlich zu verändern, zunächst gleichmäßig nach allen Richtungen, damit wir's nicht merken. Und da er es kann, so übt er es auch, da in unserer Vorstellung irgendein Vermögen ohne seine Ausübung nicht denkbar ist. Eines Tages verfällt Demiurgos auf die Idee, die Welt nicht mehr gleichmäßig auszudehnen, sondern ungleichmäßig, nämlich nur nach einer Richtung, sagen wir: in der Linie Nord-Süd. Die neugeformte Welt wird also der bisherigen ganz und gar unähnlich. . . .

Der Freund: Und das müßten wir augenblicklich merken; wenn wir überhaupt noch soviel Zeit und Besinnung behielten, um diesen auffälligen Vorgang festzustellen; denn er wäre eine Weltkatastrophe. Da wir aber in historischen Zeiten nichts dergleichen gespürt haben, so folgt: Dein Demiurgos hat diesen Plan niemals gehegt, niemals verwirklicht.

Der Philosoph: Falsch! Mein Demiurgos kann die Welt in jeder Minute ganz einseitig auseinanderziehen, in einer einzigen Richtung verschieben, und wir Menschen werden uns auch in diesem Falle nicht der geringsten Veränderung bewußt werden!

Der Freund: Aber wirklich, jetzt wirst du paradox! Wenn die Erde sich von Nord nach Süd um das Hundertfache verlängert, während der Äquatorumfang so bleibt, wie er war, so bekommt sie doch eine ganz neue Figur, sozusagen eine Wurstform, und das soll ich nicht feststellen können? Ich brauch' ja nur nachzumessen.

Der Philosoph: Womit? Mit einem Maßstab! Aber dieser Maßstab gehorcht doch gleichfalls der neuen Verfügung des Demiurg, er verlängert sich hundertfach, sobald du ihn in die Längsdimension hineindrehst, ebenso dein Augapfel und alles Organische an dir und in dir, kurzum die neue Messung stimmt im Ergebnis vollkommen mit der alten überein, die Erde bleibt für dich die altgewohnte Kugel, und du selbst bleibst der alte, obschon du nach Demiurgs Willen ein Monstrum geworden bist. Und damit noch nicht genug: Demiurg könnte das Universum überhaupt hierhin und dorthin ganz beliebig verschieben, verbiegen, kneten, deformieren –, wenn nur wir selbst, wir Menschen, entsprechend mitverbogen, mitverzerrt, mitgeknetet werden, bleibt für unsere Vorstellung alles ungeändert, und wir können gar nicht auf die Vermutung geraten, daß der Demiurg inzwischen an uns und allen Körpern so fürchterlich experimentiert hat.

Der Freund: Hör auf! Mir kommt schon alles ganz verschoben und verbogen vor.

Der Philosoph: Mit dieser Ansicht bist du auf dem besten Wege zur neuphysikalischen Erkenntnis der Dinge. Wir dürfen tatsächlich die uns scheinbar so vertraute Welt als eine »deformierte« betrachten, hervorgegangen aus einer anderen, von deren Abmessungen und Gestaltungen wir niemals etwas erfahren können. Du, lieber Freund, kannst vor einer Stunde die Größe und Figur des Sternes Sirius gehabt haben. Seitdem ist die knetende Faust des Demiurg in dich und ins Weltall gefahren, um dich in eine neue Größen- und Gestaltsordnung überzuführen. So wie du hier vor mir stehst, bist du geometrisch deformiert, entstellt, vom Standpunkt deiner früheren Sirius-Existenz betrachtet. Ich darf das als möglich annehmen, ohne Beweispflicht, nur darauf gestützt, daß kein Gegenbeweis geführt werden kann.

Der Freund: Aber du willst mir doch offenbar etwas »beweisen«.

Der Philosoph: Für heute nur das eine, daß neben der Physik von Anno Olim sehr wohl noch eine ganz andere existieren kann.

Der Freund: Am Ende gar auch eine andere Logik?

Der Philosoph: Du möchtest gern ein schroffes Nein hören, ich aber antworte mit einem herzhaften Ja. Wenn man erst das Prinzip der unmerklichen Verbiegung, Verzerrung, Deformation zugibt, dann hat es keinen Sinn mehr, diese Veränderungsmöglichkeiten auf das rein Körperliche zu beschränken. Alles Physikalische findet sein Gegenbild im Logischen, Geistigen, sogar im Moralischen. Aus der Erhaltung der Energien läßt sich eine Konstanz der Interessen, der Begabungen, der geistigen und sittlichen Strebungen ableiten. Und so wäre es auch durchaus möglich, daß wir plötzlich in eine Welt mit völlig verschobenen Maßen für Logik und kulturelles Denken gerieten, ohne daß wir es merkten. Nur von einer gänzlich anderen Welt her wäre ein Unterschied zu beobachten. Gibt es solche? Voltaire schätzt die Anzahl der vorhandenen Universen auf hunderttausend Millionen. Davon kannst du dir eine als Standort für die Betrachtung aussuchen, wenn du sachlich feststellen willst, was sich etwa in unserer Menschenwelt dehnt, kürzt, verbiegt, verzerrt oder verkrümmt!


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