Salomon Hermann Mosenthal
Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben
Salomon Hermann Mosenthal

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So nahte der Sommer; das Theater wurde geschlossen, Meister Spohr reiste in's Bad. Zum Abschied legte er liebevoll seine große Hand auf Reinchens Haupt. »Brav, mein Kind,« sagte er, »noch ein Jahr und wir sind was Rechtes. Schonen Sie sich indeß, Sie wachsen mir zu schlank empor und das Geigenspiel strengt die Brust an, zumal wenn man mit ganzer Seele spielt wie Sie!«

Aber gerade die Ferienzeit ließ Engelbrecht Muße, und emsiger als je wurden Duette studirt für die zukünftige Kunstreise. Und sieh'! Da kamen schon Briefe aus Badeorten, die das junge Künstlerpaar zur Mitwirkung in Konzerten und bei Musikfesten einluden. Engelbrecht's heimliche Schritte hatten Früchte getragen. Triumphirend brachte er die Briefe, vor Freude zitternd las Reinchen sie der Mutter vor; aber diese schüttelte gewaltig den Kopf. »Schmus periendis ( pour rien dits, nichtssagende Reden),« murmelte sie, »ich werd' Dich fortgehen lassen, mein Reinchen, ohne mir!«

»Wer sagt das, Mutter!« rief Reinchen erschrocken.

»Was denn?« entgegnete diese heftig, »ich soll mitgehen und Dich herumführen wie einen Elephant? Und wenn Du mir, Gott soll meschomer sein! (behüt's), krank wirst da draußen unter den Fremden? Nicht um Alles in der Welt! Was hab' ich von der Musik, wenn sie mir mein Reinchen fortführt, ich hab' doch nichts auf der Welt, als wie Dich!« Thränen erstickten ihre Stimme. »Sieh' mich an,« fuhr sie fort, »ich kann Dir's nicht erzählen, jetzt noch nicht und am wenigsten vor anderen Leuten; meine fünf Finger gäb' ich drum, wenn ich ruhig zu Haus geblieben wär', ohne andere Gedanken. Gott wird mir's mauchel sein (verzeihen), er hat mir ja Dich dafür gegeben, mein gebenschtes Kind! Nicht wahr, Du schlägst Dir das aus dem Kopf?«

Reinchen stand tiefbewegt mit niedergeschlagenen Augen. Da erhob sich Engelbrecht vom Klavier und schlug den Deckel zu, daß es schmetterte. »Unsinn!« rief er, »jüdische Beschränktheit, die jeden vernünftigen Menschen empören muß! Wozu empfing Ihr Kind ein so seltenes Talent? Wozu den Unterricht eines so großen Meisters? Haben wir jahrelang studirt, um in dieser Spelunke zu musiziren? Unglaublich! Ein solches Licht unter den Scheffel zu stellen, das ist eine Sünde, die Sie nie verantworten können!«

Erbleichend blickte Reinchen auf die beleidigte Mutter. Aber diese lächelte nur. »Er will mir sagen,« murmelte sie, »was eine Sünde ist. Und wenn ich nun eine beschränkte Jüdin bin, die ihr Kind um etwas bittet, was ihr ihr Herz und ihre bittere Erfahrung diktirt, ist ›Ehre Vater und Mutter‹ eine Sünde? Was meinst Du, Reinchen, mein Herz? Das haben wir Zwei miteinander auszumachen und kein – Anderer!«

»Also gut!« rief Engelbrecht und erbebte, daß die Brille auf seiner Nase zu zittern begann, »so machen Sie es allein mit ihr aus! Bleibt, wenn ihr wollt, in eurer Judengasse! Und deßhalb habe ich dieß Talent wie eine Perle aus dem Schlamm gezogen und deßhalb sie zu dem großen Meister geführt und deßhalb zwei Jahre lang mit ihr in Mozart, Beethoven und Haydn geschwelgt. Großer Genius!« rief er und schleuderte die Noten vom Pult auf die Erde, »verzeihe ihnen, sie wissen nicht, was sie thun!«

Reinchen wollte sich nach den Noten bücken, aber er ergriff sie heftig bei den Schultern. »Laß! laß!« schrie er, »Du brauchst sie nicht mehr, ich reiße die Saiten von dieser Geige!« Er griff darnach, aber Reinchen entriß sie ihm zitternd und barg sie wie ein wimmerndes Kind an ihrer Brust. Wie ein schwanker Zweig, von widerstrebenden Winden umhergerissen, beugte sie sich in sich zusammen, und die Geige fest an sich drückend hob sie die großen Augen zur Mutter empor: »Nur das nicht, Mutter! nur das nicht!« rief sie mit schmerzlicher Verzweiflung.

Raschelchen hatte beide Hände um die Kniee geklammert, deren heftiges Zittern zu verbergen. »Was willst Du von mir, mein Kind?« rief sie aus. »Mich bringst Du nicht dazu, daß ich mein junges, schwaches Kind hinausführ' in die fremde Welt. Willst Du allein gehen, ohne mich, gegen meinen Willen? Thu', was Dir Dein Herz sagt.«

»Reinchen!« rief Engelbrecht jubelnd aus und zog die Zitternde in die Fensternische und begann zu flüstern, und am ganzen Leibe bebend hörte Reinchen ihm zu.

»Was red't er mit Dir, was ich nicht hören darf?« rief Raschelchen und erhob sich.

»Nichts, was Sie nicht hören dürfen!« entgegnete Engelbrecht, »Sie sollen, Sie müssen es hören. Jetzt steht Ihr Kind am Scheidewege, die Thore der Kunst öffnen oder schließen sich ihr für immer. An meiner Hand soll sie eintreten, hörst Du, geliebtes Mädchen, an meiner Hand! Wie auf der Geige begleite ich Dich, wenn Du willst, durch das Leben!«

Reinchen starrte ihn an, Raschelchen warf einen Blick auf ihn, wie auf einen Wahnsinnigen.

»Du verstehst mich doch!« fuhr Engelbrecht immer glühender fort, »Du hast mich verstanden, seit wir uns fanden, was ich in Tönen Dir gesagt, in Tönen hast Du mir's erwiedert. So laß mich's Dir jetzt in Worten sagen: ›Ich liebe Dich!‹ So hab' auch Du den Muth, es auszusprechen, daß Du mich liebst! Es muß in dieser Stunde entschieden sein, die Fesseln, die Dein Herz und Deinen Genius gefangen halten, müssen gebrochen werden, brich sie, geliebtes Mädchen, wie ich mich losreiße von den Vorurtheilen der Welt gegen Deine Nation! Sei mein Weib! Ein Wort: Ja! oder Nein! Auf ewig vereint oder auf ewig getrennt!«

Und der schöne Jüngling hing mit flammendem Blick an den Augen des Mädchens.

Aber sie sprach das Wort nicht aus. Wie eine zur Rose aufgesprungene Knospe erröthete sie bis unter die Goldfransen ihres Stirnhaares, ihr Busen wallte, als höbe er zum ersten Mal seine jungen Flügel; wie eine fremde Sprache klangen die nie gehörten Worte verwirrend in ihr Ohr, ein süßer Schrecken umklammerte ihr Herz und fesselte ihre Zunge. Ihr Blick hob sich nicht auf den Geliebten, nicht auf die Mutter, es war, als flüchtete er in ihre eigene Seele zurück, ein Gefühl von Furcht überkam sie und ein kaltes Rieseln überlief all' ihre Glieder.

»Ein Wort! ein Wort!« rief Engelbrecht und faßte nach ihrer kalten, zitternden Hand.

Raschelchen, die in sprachlosem Erstarren seiner Erklärung gefolgt war, wollte ihr Kind seiner Berührung entziehen, aber die Füße versagten ihr, sie sank in den Sessel zurück. Die ganze Vergangenheit, die ganze Zukunft sah sie in diesem Augenblick zusammengedrängt. »Du siehst doch,« brachte sie mühsam hervor – »Du siehst doch jetzt, wo er mit seiner ›Kunst‹ hinaus will! So red' doch, red' wie Du denkst! So hart kann mich doch der Allmächtige nicht strafen, daß mein Kind seinen Gott verleugnet und seine Mutter! Ich sag' kein Wort, gib Du ihm die Antwort!«


»Reinchen, liebst Du mich?«
Holzstich nach einer Zeichnung von Moritz Daniel Oppenheim

»Reinchen, liebst Du mich?« rief Engelbrecht und faßte die Hände der Regungslosen. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie sprach kein Wort. Er griff hastig nach seinem Hut. »Du schweigst!« rief er wild, »so leb' wohl für immer!« Da rang es sich wie ein Angstruf aus der Brust des Mädchens hervor: »Christian!« und sie erhob beide Arme, daß die Geige, die sie an die Brust gedrückt hatte, an ihr niederglitt.

Und Raschelchen hörte das Wort. Wie vom Blitz getroffen sank sie zurück. »Reinchen! mein Kind!« schrie sie auf, so schrill, so schmerzlich, als hätte ein Messer ihr das Herz durchbohrt. Da war es, als fiele ein Bann von den starren Gliedern des Mädchens; wie ein Pfeil flog sie auf die Mutter zu, mit beiden Armen umschlang sie ihren Hals. »Ich bleib' ja bei Dir! Mutterleb!« schluchzte sie, »so lang ich lebe, bleib' ich bei meiner Mutter!«

Engelbrecht stürzte hinaus, auf der morschen, hölzernen Wendeltreppe verhallten allmälig seine hastigen Schritte. Laut weinend lag das Kind an der Mutter Brust; die drückte den blonden Kopf fest an ihr Herz, wie ein Vögelchen, das man an die Brust versteckt, und flüsterte ihr in's Ohr: »Ich weiß, was in Dir vorgeht, mein Tachschid, mein Juwel! Du hast gethan, was ich nicht gethan hab', Du hast Deine Mutter losgekauft und mein frommer Vater benscht Dich dafür!« und die Hand auf das Haupt des Kindes legend, betete sie mit zum Himmel erhobenen Augen: »Gott segne Dich wie Sarah, Rebekka, Rahel und Leah! Der Ewige segne und behüte Dich, der Ewige lasse sein Antlitz Dir leuchten und sei Dir gnädig, der Ewige wende sein Antlitz Dir zu und gebe Dir – den Frieden!«

Einige Tage später verließ Engelbrecht die Stadt. Er hatte einen Ruf an das kaiserliche Operntheater in Wien erhalten und war ihm gefolgt.

»Willst Du mir nicht ein bischen was vorspielen, mein gebenschtes Kind?« fragte Raschelchen am andern Tag.

Reinchen hatte eben die gesprengten Saiten der Geige abzulösen und neue aufzuziehen begonnen. Sie griff nach dem Bogen, setzte ihn an und legte ihn wieder weg. »Ich kann nicht, Mutterleb,« sagte sie ruhig. Eine tiefe Blässe lag auf ihren Wangen, sie wollten sich lange nicht röthen, endlich malten sich wieder Rosen, aber scharf abgegrenzte, glühende auf das durchsichtige Antlitz und die Augen erschienen größer und glänzender als ehedem. Am Pfingstfest führte Raschelchen ihr Kind in den Tempel. Auf der Stiege begegnete ihnen Madame Büding und betrachtete überrascht und besorgt das schlanke Mädchen mit den gerötheten Wangen und den bleichen Lippen. »Was ist's mit Dir?« fragte sie, mit der Hand über die blonden Locken streichelnd, »fehlt Dir etwas?«

»Meinem Reinchen?« fragte Raschelchen befremdet.

»Mir fehlt nichts,« sagte Reinchen und lächelte.

»Doch, doch, ich weiß, was Dir fehlt,« entgegnete die schöne Frau.

Reinchen erglühte.

»Dir fehlt Luft und Licht,« fuhr jene fort, »Du hast den Winter über zu fleißig studirt, und nun, im Frühling, fällt kein Sonnenstrahl in eure Gasse! Da muß etwas gethan werden!« Wenige Tage darauf hatte Madame Büding in einem Garten vor dem holländischen Thor ein Stübchen und ein Kämmerchen gemiethet und bestand darauf, daß es Reinchen mit ihrer Mutter bezog. Das Klavier und die Geige wurden mitgenommen, doch blieben sie unberührt, auch ohne daß der Arzt, den Madame Büding sandte, es verboten hatte.

Reinchen saß im Garten, freute sich still der Blumen und neigte ihr Köpfchen dem Sonnenschein zu, wie eine Monatsrose in einem Glas Wasser. So oft die Mutter sie betrachtete, lächelte sie. Bald konnte sie vor Mattigkeit das Zimmer nicht mehr verlassen; die guten Gärtnersleute stellten ihr Blumentöpfe an's Fenster und legten ihr Rosen auf die Decke ihres Bettes, über dem die Geige hing. Sie klagte nicht über Schmerz, sie lächelte nur still und stiller, wie die Lampe, in der das Öl versiegt. Raschelchen schien das nicht zu bemerken, ruhig und unbesorgt saß sie am Bette des Kindes. Die Frauen der Gemeinde besuchten sie oft, auch Frau Spohr erkundigte sich wiederholt und theilnehmend nach ihrem Liebling. Eines Tages war unsere Tante Channe hinausgekommen. Die erfahrene Greisin, die so oft an Krankenbetten gesessen war, betrachtete mit stummer Besorgniß den unheimlichen Zug, der von der feinen, transparenten Nase des Mädchens sich an den rosigen Flecken der eingefallenen Wangen hinabzog. »Gott wird helfen,« sagte sie beim Abschied zu Raschelchen, die sie in den Garten begleitete.

Da lächelte Raschelchen. »Das wird er auch,« sagte sie mit seltsamer Zuversicht; »meinem Reinchen geschieht nichts, das weiß ich! Ich hab' mir jetzt wieder die Akeite (das Opfer Abrahams) durchgelesen. Der Heilige, gelobt sei er! hat doch Abraham unserem Vater sein Kind nicht nehmen wollen, er hat nur sehen wollen, ob er ihn lieber hat oder das Kind. Und nachher hat er schon seinen Malach (Engel) geschickt. Und daß er dem Kind so wehe gethan hat, ist Abraham doch zum großen Verdienst angerechnet worden und heut noch erinnern wir Gott daran, er soll uns deßwegen unsere Sünden mauchel sein (verzeihen). Nicht wahr, Madame Channe, das steht doch geschrieben und Kibet Av Em (Ehre Vater und Mutter) ist doch auch was, was Einem zu gute kommt? Drum bin ich ganz ruhig, meinem Reinchen kann nichts geschehen. Ich glaub' immer, das ist nur vom Wachsen!«

Die alte Tante gab ihr Recht, um sie zu trösten. »Das ist Alles gewiß,« sagte sie nickend, »das steht ja geschrieben!« (nämlich in der Thora).

So saß denn Raschelchen, glücklich in ihrer Zuversicht, auf dem Fußende des Bettes und plauderte mit dem kranken Kind. »Jetzt, Reinchen, mein Herz,« sagte sie, »jetzt bist Du groß genug, jetzt kann ich Dir auch erzählen, was ich nie gethan hab', von Deinem Vater!«

Reinchens Hände zuckten in den ihren. »Ja! ja!« flüsterte sie.

»Weißt Du, mein' Perl, ich bin von guten Leuten, mein Vater, gesegneten Andenkens, war der berühmte Chassen (Kantor) in der großen Schul' von Metz. Ein Kol (Stimme) hat er gehabt, man soll's nicht sagen, und getrillert hat er wie ein Rosignol. Meine Mutter olewescholem (der Friede mit ihr!) ist gestorben, wie ich noch klein war und Mimmle Madel (Mühmchen Madelon), die Schwester von meinem Vater, hat mich großgezogen. Sie hat den ganzen Tag geort (gebetet) und ich hab' thun dürfen, was ich gewollt hab'. Gelernt hab' ich nichts, aber dreimal in einem Tag hab' ich mich anders frisirt, das hab' ich so in den Fingern gehabt.

Mein Vater hat mir nie ein bös Wort gesagt, wenn die Mimmle mich gezankt hat, hat er mir ein Kniffchen in die Backen gegeben. Gott, was für ein Mann! Die ganze Musik in Dir hast Du von ihm. Lieb hat er mich gehabt, wie ich Dich, und ich – Gott soll mir's verzeihen!« – Schluchzen erstickte ihre Stimme.

»Du hast mir doch von meinem Vater erzählen wollen, Mutterleb!« sagte Reinchen und streichelte ihre Hände.

»Ja, das war Anno Neun, die Armee ist nach Österreich gegangen und wir haben Einquartierung gehabt in Metz. Da ist Einer bei uns gelegen, der mit den Lieferungen zu thun gehabt hat für den Proviant, eine Schönheit von Gott, ganz Dir aus dem Gesicht geschnitten. Vier Wochen war er bei uns, er war ein Jud' aus dem Elsaß, Piccard hat er geheißen. Mein Vater hat ihm gern zugehört, denn er hat gered't wie ein Buch, und ich noch viel mehr. Ich hab' nichts mehr gesehen und gehört auf der Welt, als wie nur den Piccard mit seine blonde Haar! Kannst Du Dir das vorstellen?«

Reinchen schloß die Augen, ein leises Beben flog durch die Nerven ihres bleichen Gesichts.

»Nun, wie die Armee hat weiter gesollt, hat er zu mir gesagt: ›Raschel, geh' mit mir, sei mein Weib!‹ Ich bin zu meinem Vater geflogen, im siebenten Himmel hätt' ich nicht glücklicher sein können, als wie ich war. ›Kindleb,‹ hat mein Vater gesagt, ›laß Dich nicht irr' machen, bleib' bei Deinem alten Vater, Du hast es doch nirgends besser auf der Welt. Du kennst ihn nicht genug und auf Reden allein soll der Mensch nicht gehen; und Du willst mit ihm hinausgehen in die Milchome (Krieg). Folg' mir, mein Kind, und schlag' Dir ihn aus dem Kopf!‹ ›Mein Vater leid' 's nicht,‹ hab' ich zu ihm gesagt. ›Was fragst Du Deinen Vater, wenn Du mich lieb hast,‹ hat er gesagt. ›Das Weib soll Vater und Mutter verlassen und soll dem Mann folgen,‹ steht geschrieben. – Was soll ich Dir sagen, Reinchen, mein Juwel, wie er hat fort müssen, ist mir's gewesen, als wenn er mir die Neschom (Seele) aus dem Leib herauszieht; und ich – – ich bin mit ihm gegangen heimlich und ohne meinem Vater ein Wort zu sagen. In Straßburg hat uns der Maire getraut, ich hab' wollen zum Raaf mit ihm gehen, aber er hat gesagt, ›es ist das neue Gesetz und in Kriegszeiten darf man sich nicht rühren!‹ So sind wir langsam gekommen bis nach Ulm, wo eine lange Station war, dann hab' ich nicht weiter gekonnt wegen Dir. Und bei Nacht hab' ich mir die Augen ausgeweint vor Schiwerlef (Herzeleid) über meinen Vater, und das hat ihn so verdrossen, daß ich keine gute Stund' mehr gehabt hab'. Ich hab' gesehen, daß ich ihm zur Last bin. Da hat er gesagt, ich darf nicht weiter mit und hat mir Geld gegeben und ich bin wieder nach Haus zu meinem Vater, und wie ich mich vor ihm niedergeworfen hab' und hab' so geweint, hat er mir kein böses Wort gegeben, und wenn Mimmle Madel geschimpft hat, hat er gesagt: ›Was thust Du? Ist sie nicht gestraft genug!‹ Und wie Du bist auf die Welt gekommen, hat er Dich gebenscht mit seinen frommen Händen. So ein Vater! Und ich hab's doch gesehen, wie ich ihn zu Tod gekränkt hab', denn er war ganz zusammengefallen und hat gehust't. Der Kummer macht alt vor der Zeit. Ich hab immer auf Brief' gewartet und es ist nichts gekommen; ich hab' gehört, die Proviantkommission liegt in Kassel. Da bin ich noch einmal fort, die Mimmle, wenn sie mit mir auch gezankt hat, hat Dich gern gehabt, so hab' ich Dich versorgt gewußt. Ich bin ankommen und hab' mir die Füß' abgelaufen, es hat Keiner was von ihm gewußt. Da hab' ich mich geschämt vor meinem Vater und gefürchtet vor der Mimmle, und hab' geschrieben, ich hätt' ihn gefunden, und was ich mir verdient hab' mit Frisiren, denn das hab' ich verstanden cummelfo ( comme il faut), das hab' ich nach Haus geschickt, als wie wenn er's schickte für sein Kind. Und ich hab' auswendig gelacht und mein groß Herzeleid versteckt, damit ich anderen Leuten nicht zuwider bin. Und immer hab' ich gefragt nach ihm und von einer großen Generalsfrau, die ich frisirt hab', hab' ich's endlich herausbekommen, daß er mit der großen Armee ist gegangen nach Rußland. Aber herausgekommen ist er newich (leider) nicht mehr und Gott soll's ihm mauchel sein (verzeihen), wie ich's ihm längst mauchel gewesen bin! Ich hab's nicht besser verdient! ›Ehre Vater und Mutter‹ steht ja schon auf den zwei Tafeln, die Gott selber an Mausche ribenu (Moses, unserem Lehrer) gegeben hat! Nicht wahr, mein Reinchen, mein gebenschtes Kind?«

Reinchen zog die Hand der Mutter an die spröden, heißen Lippen und schloß auf's Neue die Lider mit den langen, goldenen Wimpern.

»Nun,« fuhr jene fort, »wie das Royaume hier zu End' 'gangen ist, was hätt' ich thun sollen? Ich bin heimgangen, und meinen Vater – ich hab' ihn nicht wieder gefunden! Vier Wochen vorher hat ihn Gott zu sich genommen, nicht einmal die Augen hab' ich ihm zudrücken dürfen, die guten, sanften Augen. Du mußt Dich doch noch an die Augen erinnern, Reinchenleb! Du warst doch schon vier Jahr alt! Ich hab' mir nicht die Haar' ausgerissen, damit die Anderen keine Nekome (Schadenfreude) haben; hingekniet hab' ich mich an seinem Grab und geschworen, ich will fromm sein wie er, damit er mir drüben verzeiht, was ich ihn hier gekränkt hab'. Mein Vater hat neb nichts hinterlassen, zu verdienen war daheim nichts und geschämt hab' ich mich auch, da hab' ich das Bissele, was da war, an Mimmle Madel gelassen und bin mit Dir wieder hieher gekommen, wo ich gewußt hab, daß gute Leut' sind. Und Du warst mein Massel und meine Broche (Glück und Segen), wie Du's heut noch bist! Um Deinetwegen haben sie mich hier aufgenommen und alles Andere weißt Du ja; aber das weißt Du noch nicht, wie ich glücklich war in der Armuth durch den Reichthum an Dir! Und wenn ich auch im Winter kein warm Kleid auf dem Leib gehabt hab' und hab' Dich an der Hand geführt, so bin ich mir vorgekommen wie Schippe-Malke (die Piquedame ist das Symbol der Pracht). Und wenn ich Dein Stimmchen gehört hab' oder den Ton von Deiner Violin', so ist mir's gewesen, mein Vater lacht dazu in Gan-Eden und ich hätt' am liebsten gehabt, es hört' Dir kein Anderer zu, wie er und ich. Und wie Du hast müssen in der Tifle spielen, begreifst Du jetzt, mein' Kron', was in mir vorgegangen ist? Aber reden wir nicht davon, das ist vorbei, und war's eine Ewere (Sünde), so hast Du Alles zehnmal gut gemacht in jener Stunde, wo Du hast Dein Herz geopfert für Gott und Deine Mutter, da hast Du meine Seele ausgelöst bei Gott dem Allmächtigen und am Jaum-Din (Tag des Gerichtes) wird Dein Sechus (Verdienst) Deiner armen Mutter zu gute kommen!« Weinend sank ihr Haupt an die Brust des Mädchens, das die mageren Arme um ihren Hals schloß. Sie hörte das Herz Reinchens so dröhnend zittern, daß sie sich erschreckt erhob. »Reg' Dich nicht auf, mein Herz!« rief sie und streichelte das geliebte Haupt, das sie sanft auf die Polster zurückgleiten ließ.

Der Herbstwind begann die Bäume im Garten zu lichten. Reinchen starrte mit großen, offenen Augen hinaus auf das sanft wirbelnde goldene Laub. – »Ob ich die Bäume noch einmal grün sehen werde?« flüsterte sie einmal.

»Was red'st Du für Stuß (Thorheit)!« schalt die Mutter. »Wo darf Dir etwas geschehen? Unser Herrgott weiß doch, was Du bist!«

»Wissen Sie was Neues, Frau Piccard?« sagte ihr eines Tages eine Frau, die ihre Nachbarin in der Gasse gewesen und sich im Vorbeigehen nach dem »lieben Mamsellchen« erkundigte, »der Engelbrechtin ihr Christian hat ein großes Glück gemacht. In Wien hat eine Bäckerstochter sich in ihn verliebt und ihn geheiratet und hat ihm ein dreistöckiges Haus und viele hunderttausend Gulden zugebracht!«

Raschelchen schüttelte den Kopf und lächelte wehmüthig. »So ist der Goi!« murmelte sie vor sich hin.

Sollte sie es Reinchen mittheilen? Vielleicht daß die Nachricht von Engelbrecht's raschem Vergessen den letzten Schatten der Erinnerung aus dem Herzen des Kindes verscheuchen und ihre Genesung beschleunigen würde? Aber nein, lieber den verhaßten Namen gar nicht mehr nennen! Raschelchen fühlte sich dennoch beunruhigt. Nichts beklemmte sie mehr als der Zweifel. Wie hätte sie das Siechthum des geliebten Kindes so ruhig ertragen, hätte sie nicht die Gewißheit gehabt, das Opfer ihres Kindes sei eine Mizwe (fromme That), die Gott durch völlige Genesung vergelten müsse. »Gott ist ein Schaufet Zedek (gerechter Richter),« murmelte sie oft vor sich hin, »und wie er mich bestraft hat, so muß er mein Reinchen belohnen!« Sie sah ruhig ihr Kind mit gebundenen Händen auf dem Holzstoß liegen, sie wußte, der Engel sei nahe, der das gezückte Messer abwehren und ihr sein »Heil« verkünden würde.

Und er war nahe, der erlösende Engel!

Die großen Feiertage kamen heran, sie fielen dieses Jahr in den späten Oktober; der Herbstwind schlug an die Fenster des Gartenhäuschens. Raschelchen saß, während die Anderen in weißen Kleidern im Tempel beteten, am Lager des Kindes, das rasch und leise athmete. Zwei Lichter brannten auf dem weißgedeckten Tischchen, verspätete Monatrosen hauchten bleich und sterbend ihren Duft auf der Decke des Krankenlagers aus.

Da fuhr Reinchen auf wie aus einem Traum und streckte die magere Hand nach der Geige aus, die über ihrem Bette hing.

»Was willst Du, mein Herzblatt?«

»Die Geige,« lispelte das Kind.

Raschelchen besann sich, ob sie am heiligen Neujahrsabend ihr die Geige geben dürfe? Aber dem Kranken ist Alles erlaubt; sie klomm am Bette hinauf und löste die Geige vom Nagel. Reinchen griff darnach und drückte einen langen Kuß auf die schlaffen Saiten. In ihre großen Augen traten Thränen und sie betrachtete das Instrument mit unsäglicher Zärtlichkeit. »Ich hab' von ihr geträumt,« flüsterte sie, »ich hab' auf ihr gespielt, die Sonate in  f, und – –« sie schüttelte leise den Kopf, ein tiefer Seufzer hob sich aus ihrer Brust.

»Du wirst sie wieder spielen, mein gebenschtes Kind!« rief die Mutter, »und schöner als je! Weißt Du, was ich mir vorgenommen hab'? Wenn Du, so Gott will, wieder ganz gesund bist, geh' ich mit Dir und laß Dich hören, wo Du willst! Wir zwei allein! Soll ich mich geniren, weil ich eine alte Jüdin bin? Dafür bist Du mein Kind! Und es braucht mich ja keiner zu sehen; ich zieh' Dich nur an, in schöne, neue Kleider, Madame Büding hat mir schon gesagt, sie wird Dich ausstatten wie eine Kalle (Braut), und die Frau Kapellmeister gibt uns Schreiben mit an alle vornehmen Musikanten, und wenn Du nachher spielst, steh' ich hinter der Thür, wo Du 'rausgehst, mit dem Tüchel in der Hand, damit Du Dich, Gott soll bewahren! nicht verkühlst. Gelt, mein Herz, das darf ich? Und dann reisen wir weiter und weiter bis nach Metz, und da zeig' ich Dich und hab' meine Gaiwe (Stolz) an Dir! Nun, was sagst Du dazu, mein Kind?«

Reinchen schien das Geplauder der Mutter kaum zu hören; ihre Blicke waren fest auf die Geige gerichtet. »Ich hab' geträumt,« flüsterte sie, »ich spielte die Sonate von Beethoven, weißt Du –« sie griff mit den durchsichtigen Fingern in die Saiten, um das Thema des Adagios anzudeuten, – »und am Klavier – saß Christian –«

Die Mutter zuckte bei diesem Namen. »Nenn' den Goi nicht mehr,« stieß sie hervor, »nicht gedacht soll er werden! Er hat in Wien geheirathet und –«

Sie konnte nicht ausreden, mit ihrem Leben hätte sie gern das Wort zurück in die Kehle gebannt. Mit weit geöffneten Augen hatte Reinchen sie angestarrt, als dränge sich ihre ganze Seele hervor; dann wie von unsichtbarer Kraft getrieben, bäumte sich die gebrechliche Gestalt auf, sank zurück, die beiden Hände griffen krampfhaft nach dem Herzen, ein Blutstrom quoll aus den zusammengepreßten Lippen hervor.

»Schma Jisroel!« kreischte die Mutter und warf sich auf das verhauchende Kind.

Auf den Schrei waren die Gärtnersleute herbeigeeilt. Man sandte um die frommen Frauen; gewaltsam trennte man die entgeisterte Mutter von dem entseelten Kind.

Die erfahrene Tante Channe ließ die Wächterinnen im Gartenhaus und wandte ihre Sorge der ohnmächtigen Mutter zu; sie ließ sie in einer Sänfte in ihre eigene Wohnung tragen und hielt ihr so lange Hoffmännische Tropfen unter die Nase, bis sie die Augen aufschlug.

Wie im Halbschlaf starrte Raschelchen die fremden Wände an. »Ist mein Reinchen todt?« fragte sie endlich.

Die Tante suchte lange auszuweichen.

»Ist mein Reinchen todt ?« wiederholte jene.

»Gelobt sei der Richter der Wahrheit!« So sprach die Tante endlich mit dem Spruch, den man über die Todten sagt.

Da schüttelte Raschelchen ungläubig den Kopf. »Es kann doch nicht sein,« sagte sie, »Gott ist gerecht und mein Reinchen todt?«

»Die Wege Gottes sind unerforschlich,« entgegnete die fromme Greisin.

Doch Jene versank immer tiefer in sich selbst. »Am Schiwerlef (Herzbruch) ist mein Kind gestorben,« murmelte sie; »bin ich Schuld dran? Ich weiß nicht! Soll ein Kind seine Eltern verlassen und dem Mann folgen, wie geschrieben steht, wo ist nachher meine Ewere (Sünde)? Soll ein Kind sein Herz opfern und seinen Eltern folgen, wie geschrieben steht, wo ist nachher die ihre? Da soll Einer wissen, was Recht und Unrecht ist, wenn mein Reinchen sterben muß in der Blüt' ihrer Jugend!

»Ich will zu meinem Kind!« schrie sie plötzlich auf und sprang vom Sessel. »Fürchten Sie sich nicht, Madame Channe, ich weiß, was ich thu', ich weiß, daß mein Kind todt ist und daß ich leben muß. Aber lassen Sie mich zu meinem Kind um Gottes Barmherzigkeit willen.« Da war jeder Zuspruch der frommen Trösterin vergebens, wie vom Sturm getrieben flog die Unglückliche zu dem Gartenhaus. Man hatte das Antlitz der Entseelten mit einem Tuch verhüllt. Die Wächterinnen erschraken beim Eintritt der Mutter und erwarteten einen Ausbruch der Verzweiflung. Aber diese zog leise das Tuch zurück und betrachtete die starren, schönen Züge des geliebten Angesichts, dann setzte sie sich an's Fußende des Bettes und schüttelte den Kopf und murmelte Worte, die Niemand verstand.

Zwei Tage lang durfte die Leiche nicht berührt werden wegen der Festtage. Zwei Tage lang saß die Mutter dort, ablehnend winkend, wenn man sie zur Ruhe lud oder ihr einen Bissen Nahrung bot. Am dritten ließ sie es sich nicht nehmen, Reinchen selbst anzukleiden und in den Sarg von sechs tannenen Brettern zu betten. Als sie die Geige nahm, die die Sterbende noch an die Brust gedrückt hielt, und sie unter das Strohkissen unter das Haupt des Kindes schob, und all' die welken Rosen, die auf der Decke ihren Todtenduft athmeten, über die Leiche säte und die frommen Frauen es wehren wollten, da das eine Sünde sei, da blickte sie sie mit durchbohrenden Augen an. »Wißt ihr, was eine Sünde ist?« rief sie aus. Dann kniete sie neben den Sarg und flüsterte wie plaudernd in das Ohr ihres Kindes, lange, lange. »Nicht wahr, Du bitt'st für mich; nicht wahr, Du wartest auf mich, Reinchen, mein Gold! Bald – bald!« Das waren die abgerissenen Worte, die man aus ihrem Geflüster vernahm.

Fast die ganze Gemeinde begleitete ihren Liebling zur Gruft. Der Wagen Spohr's folgte dem Zug. Da dieß den Frauen nicht gestattet ist, so hatte Raschelchen sich auf Umwegen hinausgeschlichen und an der Hecke des Friedhofs versteckt. Mit sanfter Gewalt wollte man sie fortführen. Man hatte ihr bei guten Leuten Unterkunft ausgemittelt und die Damen hatten eine bescheidene Pension für sie subskribirt.

Als sie aber an dem kleinen Häuschen im Dorf, nächst dem »guten Ort« (Friedhof), vorüberkam, in dem die Kranken der Gemeinde verpflegt wurden, bat sie flehentlich, ihr dort ein Asyl zu gönnen. Man willfahrte ihr. Wochen verbrachte sie dort, täglich das Grab ihres Kindes besuchend; dann meldete sie sich, als die Leichenwäscherin plötzlich starb, für deren Stelle. Sie hat sie fast dreißig Jahre lang bekleidet, nur mit den Todten lebend, die ihr die Boten ihrer Liebesgrüße waren; mit den Lebenden verkehrte sie kaum.

Ich hatte an einem Sabbath einen Spaziergang in's Eichwäldchen gemacht und kam an der Hecke des Friedhofs vorüber, den an dem heiligen Tag Niemand betritt. Auf einem mit Blumen reich bepflanzten Grabhügel sah ich die zusammengekauerte Gestalt der Greisin. In dem naheliegenden »Fischhaus« war Musik; die Töne einer Geige klangen leise zitternd herüber. Da sah ich, wie Raschelchen die Hände zum Himmel hob, ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust, als wolle er gewaltsam ihre Seele hinüber tragen. Theilnehmend trat ich näher. Sie erschrak. Aber dann blickte mich ihr mattes Auge forschend an, als ob sie mir etwas zu sagen habe. »Kennen Sie mich?« fragte ich.

»Wie soll ich Sie nicht kennen!« erwiederte sie, »ich hab' doch Ihre kleine Schwester Estherchen begraben, dort liegt sie an der Hecke neben dem Weidenbaum. Und Ihre Eltern, Gott lohn' es ihnen, haben mir immer Gutes gethan.«

»Und hat die lange Zeit Ihren Schmerz nicht zu stillen vermocht, arme Frau?« fragte ich gerührt.

»Ja, es ist lang her,« murmelte sie, »wie lang? ich hab's nicht gezählt. Und das Herz ist auch still geworden, aber der Kopf! Ich zerbrech' mir den Kopf schon zwanzig Jahr lang und drüber. Soll so ein arm' Menschenkind dem Mann oder den Eltern folgen? Was ist Recht? Was ist Unrecht! wenn Beides geschrieben steht! Sie sind doch ein studirter Mann, wie legen Sie mir's aus, daß ich leb' und sie todt ist? Wann werd' ich's erfahren? Wie lang wird's noch dauern?«

Es hat nicht lange mehr gedauert. Ob sie's erfuhr, was Recht und was Unrecht sei? Wer kann's enthüllen?


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