Salomon Hermann Mosenthal
Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben
Salomon Hermann Mosenthal

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Meyer lauschte in der Küche. »Gott! wenn ich den lecho daudi zu singen hätt'!« sagte er kopfschüttelnd zu Täubchen, die Messer putzte; »da solltest Du was hören!«

»Ich weiß ja, was Du für ein Kol hast,« entgegnete sie freundlich und zwei Grübchen lachten in ihren rothen Backen.

Meyer's Blicke fielen in diese beiden Grübchen, und alles Andere vergessend, begann er den lecho daudi, dessen Melodie sich sofort seinem Gedächtniß eingeprägt hatte, zu singen. Es schmetterte durch die Küche, daß die an der Wand aufgehängten blechernen Deckel zu zittern begannen. Da öffnete sich plötzlich die Küchenthüre. Wie eine Geistererscheinung stand Herr Hornstein darin. Er trug einen bunten Schlafrock und hatte nach alter Theatergewohnheit die Haare an den Schläfen in Papierpapillotten gewickelt. Mit offenem Mund hörte er zu; Meyer gewahrte ihn und stockte erschrocken. »Weiter! weiter!« rief Herr Hornstein; »junger Mann, Sie haben ein Kapital in der Kehle.«

Meyer räusperte sich, er spürte nichts von dem Kapital. Aber Herr Hornstein faßte ihn bei der Hand. »Kommen Sie herein,« sagte er, »Sie sind der Mann, den ich suche. Ich brauche einen Tenor für den neuen Tempel, Sie haben das hohe C und werden die Gesänge nach dem neuen Ritus rasch erlernen. Singen Sie mir eine Tonleiter vor!«

Meyer machte ein verzweifelt dummes Gesicht, Täubchen lachte, aber ihr kluger Kopf verstand sogleich, welch' glänzende Aussicht sich ihrem Freund eröffne.

»Nun, Meyer, wo ist Dein Kol geblieben!« rief sie und stieß ihn in die Seite.

»Haben Sie keine Lust zu dieser Carrière?« fragte Herr Hornstein.

»Ich bitt',« antwortete der lange Soldat verlegen, »bei der Carrière wär' ich schon gern dabei, aber von dem neuen Mythus versteh' ich nichts und auf den Tonleiter hab' ich auch noch nicht gesungen, und daß ich einen hohen Zeh hab', hab' ich auch nicht gewußt.«

»Das wird sich Alles finden,« sagte Herr Hornstein mit überlegenem Lächeln und führte Meyer in sein Zimmer. Dort schlug er Noten auf dem Klavier an, die jener mit merkwürdiger Sicherheit traf und je höher desto glänzender erschallen ließ. Herr Hornstein ließ ihn dann noch ein »Stückchen« singen, das Meyer mit der, jeder jüdischen Kehle angeborenen Koloratur verbrämte und erklärte dann, er sei seiner Sache gewiß; er wolle der Gemeinde Bericht erstatten und Meyer als zweiten Chassen mit vierhundert Thalern jährlichen Gehalts vorschlagen. Sobald sein drittes Militärdienstjahr vollendet sei, solle er sich ein Kämmerchen miethen und sich ausschließlich für sein Amt vorbereiten; einstweilen wolle er – Herr Hornstein – ihn unentgeltlich unterrichten. Dann entließ er ihn, stolzer auf seine Entdeckung, als Columbus auf die des neuen langen Kontinents, und Meyer fiel freudetrunken in Täubchen's Arme, die, an der Thüre lauschend, schon Alles wußte.

»Gott! was ein Glück!« rief Meyer einmal über das andere, »vierhundert Thaler und die Kowed dazu! Das verdank' ich Dir, Täubchenleb! Jetzt kann ich meine alte Mutter zu mir nehmen und – –«

Er wollte weiter seine Zukunftspläne enthüllen, aber Täubchen schnitt ihm das Wort ab. »Mach' jetzt, daß Du heimkommst,« drängte sie, »sonst versäumst Du den Zapfenstreich.«

Er ging oder vielmehr er taumelte fort. Aber der Zapfenstreich war versäumt und der Gefreite mußte den lecho daudi mit vierundzwanzig Stunden Arrest bezahlen.

Als Tobiah Hof am nächsten Freitag sein Kind besuchte, sprach sie gleich von Meyer. Er verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, was Du alsfort mit dem langen Meyer hast,« brummte er, »was soll bei dem Soldaten herausschauen?« Als er aber von der Anstellung hörte und erst von den vierhundert Thalern, da sagte er schmunzelnd: ›,Was Du sagst, Täubchen!« Er warf einen Blick auf sie und bemerkte zum ersten Mal, daß das Kind zur Jungfrau herangewachsen war und daß es ihr nicht zu verargen sei, sich für einen Mann mit vierhundert Thalern Gehalt zu interessiren.

Wochen verstrichen. Das dritte Dienstjahr ging zu Ende. Meyer trat aus der Armee und miethete sich ein Kämmerchen. Täglich nahm er Unterricht bei Herrn Hornstein, täglich sah er sein Täubchen und endlich brachte sie ihm auch das Ölblatt, die schriftliche Ernennung zum zweiten Chassen, die Herr Hornstein ihr eingehändigt hatte. Sobald der Tempel eröffnet würde, solle er in sein Amt und seine Bezüge treten.

Am selben Tage, noch ehe Täubchen das glückverheißende Blatt empfangen hatte, war Wolf Breitenbach gekommen, sie zu besuchen. »Ich muß doch einmal sehen, was mein klein Täubchen macht,« sagte er und wickelte schwarzen Seidenstoff zu einer Schürze aus einem Papier, den er ihr wohlgefällig lächelnd überreichte.

»Das wär' nicht nöthig gewesen,« sagte Täubchen erröthend, »es sei ihr ohnedieß stets eine Kowed und eine Freude, wenn so ein Mann wie Wolf Breitenbach sich nach ihr umsähe!« Sie kredenzte ihm aus dem Speiseschrank ein Schnäpschen.

»Was bin ich schuldig?« fragte er, in die Hosentasche greifend und mit dem Geld klimpernd, »Du weißt, Wolf Breitenbach lumpt sich nicht.«

Täubchen trat gekränkt zurück. »Es gehört nicht meiner Herrschaft,« sagte sie, »ich hab' mir's eingethan für meine lieben Gäst' und Sie werden mir keine solche Schande anthun wollen und mir dafür Geld anbieten!«

»Gott soll mich bewahren!« sagte er und kniff ihr in die errötheten Wangen; »was ich Dir anthun und anbieten möcht', ist nur alles Gute! Ich hab' Dich doch von jeher gern gehabt und nur Deinetwegen hab' ich Deinem Vater geholfen, sonst wüßt' ich oser nicht, was mich Tobiah Hof angeht.«

»Ich danke Ihnen,« erwiederte Täubchen, innerlich verletzt und von einem unheimlichen Gefühl beängstigt, und als Wolf sich neben sie auf die Küchenbank niedersetzen wollte, entwand sie sich mit den Worten: »Sein Sie mauchel (verzeihen Sie), Rebbe Wolf, aber das Kind schreit!« Sie lief in's Zimmer und er warf ihr aus seinen kleinen grauen Augen einen lüsternen Blick nach.

Am frankfurter Thor begegnete er Tobiah, der ausverkauft hatte und seinen Zwerchsack leicht über der Schulter trug.

»Godelkum (Willkomm)!« rief er ihm zu, »gehen wir nicht einen Weg?«

Tobiah brummte etwas; er fürchtete an seine alte Schuld gemahnt zu werden. »Schlechte Geschäfte,« schnarrte er, »kein Heller Verdienst! Man muß sagen: ›fort mit Schaden,‹ wenn man die Gäns' nicht wieder auf dem Buckel heimtragen will!«

Wolf erwiederte nichts, sie gingen nebeneinander bis zum Wirthshaus »zum letzten Heller«. »Wollen wir nicht ein bischen rasten?« fragte Wolf.

»Ich hab' kein Geld zu verzehren,« antwortete listig der Andere, der eine Falle vermuthete.

»So werdet Ihr mit mir ein Schnäpschen trinken oder eine Tass' Kaffee; Wolf Breitenbach lumpt sich nicht.«

Tobiah sah ihn befremdet an. Sie setzten sich unter den Nußbaum, Wolf bestellte Kaffee und Butterbrod. Es war ein milder Herbsttag; ein sanfter Windeshauch schmeichelte das trockene Nußlaub von den Zweigen.

»Tobiah,« begann Wolf Breitenbach, »ich bin heut bei Eurem Täubchen gewesen. Ein gut's Kind, ein brav's Kind, sag' ich Euch –«

»Gott sei Dank, das ist sie,« antwortete der Andere; »nur verdient sie sich noch nichts Recht's. Ich hab' nichts gegen die Leut', aber zu verschenken haben sie selber nichts, und so gern Täubchen möcht', kann ich Euch immer noch nicht meine Schuld abtragen.«

»Hab ich Euch schon gemahnt?« sagte der Andere und schenkte ihm die Kaffeeschale zum zweiten Mal voll. »Im Gegentheil, Tobiah! ich mach' Euch einen Vorschlag: gebt mir Euer Täubchen und Ihr seid mir nichts mehr schuldig.«

Tobiah lachte, daß ihm der Pfeifenstummel aus den Lippen fiel. »Ihr wollt mich zum Narren halten,« sagte er. »Ihr wollt mein Täubchen zur Frau? So wahr soll uns Gott helfen! Stuß! Ihr seid doch dreimal so alt wie mein Täubchen,« rief Tobiah heftig.

»Nun, und wenn ich so alt bin?« schrie der Andere, »ist ein alt Pferd nicht mehr werth wie ein junger Hund?«

»Aber ein jung Pferd ist noch mehr werth,« versetzte Tobiah.

»Und ich laß mich nicht abschätzen,« schrie der Andere, »und was ich hab', ist immer noch genug, um Anderen zu borgen und keinen Zins zu nehmen.«

Tobiah wurde gelb. – »Zu sticheln braucht Ihr nicht, Rebb Wolf, wenn Ihr nur darum angefangen habt!«

»Ich hab' angefangen, weil's mein Ernst ist!«

»Das hab' ich mir nicht einbilden können,« versetzte Tobiah ruhiger. »Übrigens, wenn Ihr wollt, will ich mit Täubchen reden.«

»Oser!« schrie der Andere, purpurroth aufspringend; »ich laß mich nicht anbieten wie Eure Gäns'! Ich hab' geglaubt, Ihr springt vor Freude in die Luft, wenn Wolf Breitenbach sich mit Euch verschwägern will. Aber wenn Ihr meint, Ihr thut mir eine Gnad' – oser! Kein Wort! Wolf Breitenbach lumpt sich nicht!« – Er warf das Geld für die Zeche auf den Tisch und ging davon.

Tobiah ging auf der andern Seite der Straße seines Wegs und pfiff. »So!« dachte er in sich hinein, »deßhalb hat er mir Geld geborgt, der alte Kelef (Hund)! Großer Gott! hilf mir doch, daß ich ihn los werd', es drückt mir ohnehin längst das Herz ab, was ich mir Alles von ihm gefallen lassen muß!«

Seit jenem Tag waren die beiden Nachbarn brauches (gespannt), sie sprachen nicht mehr mit einander und grüßten sich nicht mehr.

Bei seinem nächsten Besuch erzählte Tobiah seinem Kinde von Wolf's Brautwerbung.

»Er hat Euch zum Besten gehabt,« sagte sie und zwang sich zum Lachen.

»Das hab' ich auch gemeint,« erwiederte der Alte, »aber es war sein Ernst und nun ist er brauches. Ich machte mir nichts daraus, ich kann ohne Wolf Breitenbach leben, wenn ich nur erst abgezahlt hätt'!«

Täubchen schwieg verlegen; sie wollte nicht sagen, daß sie ihr bischen Erspartes dem Meyer zur Miethe eines Kämmerchens geliehen hatte. »Zu Purim krieg' ich zwei Thaler von der Frau,« sagte sie, »die könnt Ihr ihm geben, Vaterleb!«

Mißmuthig kam Tobiah nach Hause. Die alte Bule war kränklich und schnarrte ihn an; aber sie übergab ihm einen Brief, den der Bote gestern gebracht hatte, und als Tobiah ihn erbrach und zu lesen anfing, glätteten sich die Falten in seinem alten Gesicht. Der Brief, mit hebräischen Lettern geschrieben, war von dem Rabbiner in Hersfeld: ein kinderloser Vetter Tobiah's, der dort ein Haus und Geschäft besaß, war vom Schlag getroffen worden und verlangte einen seiner Verwandten zu sehen. Ein Fünfthalerschein für die Reise war beigeschlossen. Tobiah steckte den Fünfthalerschein und seine Tfillim (Gebetriemen) rasch in die Tasche und beschloß, ungesäumt die Reise anzutreten. Bis nach Hersfeld waren es fünf Stunden Weges; er konnte sie zu Fuß noch vor Nacht zurücklegen und das Reisegeld sparen. Er gönnte sich nicht einmal seine warme Kartoffelsuppe, sondern nahm ein Stückchen Wurst und Brod mit für unterwegs.

Die Nachricht von der Todeskrankheit seines Vetters war ihm wie ein ungeahntes Glück vom Himmel gefallen. Was lag ihm an Schmul Chajim, der nie etwas für ihn gethan hatte. Aber daß dieser in der Todesstunde an ihn dachte, gerade ihn unter mehreren Verwandten zu sich berief, das war ein untrügliches Zeichen, daß er ihn zum Universalerben auserkoren hatte! Ein Haus in Hersfeld und ein Geschäft! Das würde er verkaufen, warum sollte er in Hersfeld wohnen, wo ihn Niemand kenne? Nein, Alles zu baarem Geld machen und nach Hause fahren mit zwei Kartoffelsäcken voll Thalern, und Wolf Breitenbach sein Geld vor die Füße werfen und ihn auslachen! Denn den vor Allen haßte er jetzt grimmig und gerade vor dem mußte er seine ihm geläufigen Redensarten im Zaum halten. – Er wanderte mit beflügelten Schritten, seine Wurst kauend, und fürchtete sich nicht einmal, als er bei sinkender Nacht durch den Wald mußte, in dem die Schwalm durch Basaltfelsklüfte sich Bahn bricht. Er murmelte sein Abendgebet und schloß es mit dem stillen frommen Wunsch, daß sein Vetter Schmul Chajim glücklich in's Gan-Eden (Paradies) eingehen möge!

Jetzt schimmerten die Lichter von Hersfeld. Vom Kirchthurm des Städtchens schlug es acht Uhr. Er fragte nach dem Hause des Vetters und betrachtete seine Lage und Bauart mit Genugthuung.

Eine alte Magd empfing ihn. Der Kranke sei schlecht, er dürfe so spät bei Nacht Niemanden sehen! Sie wies ihm ein Kämmerchen an und brachte ihm eine Schale dünnen Kaffee. Tobiah, müde und erschöpft, warf sich auf's Bett, aber er schloß vor Aufregung kein Auge.

Der Morgen graute: Schwere Nebel sanken vom Himmel herab, die Luft war am frühsten Morgen schon sommerschwül. Er begehrte den Kranken zu sehen. Die Magd brachte ihm die Freudenbotschaft: die Nacht sei sehr gut gewesen, Schmul Chajim habe geschlafen und fühle sich bedeutend erquickt.

»Gott sei Dank!« sagte Tobiah und verzog das Gesicht. Er trat in's Krankenzimmer; der Vetter streckte ihm die Hand entgegen, er sah gar nicht so übel aus.

»Seid mauchel, Tobiah,« sagte er, »daß ich Euch hab' herkommen lassen. So ein Schlaganfall ist immer erev Tod (Vorabend), da hab' ich doch wen von meiner Familie bei mir haben wollen und hab' Euch hinter dem Rücken von der alten Reike schreiben lassen.«

»Es ist doch gar nicht so arg,« entgegnete Tobiah, aufrichtig betrübt.

»Ja, es ist merkwürdig,« fuhr Schmul Chajim fort, »wie mir Gott geholfen hat; hätt' ich's gewußt, so hätt' ich Euch die Müh' gespart, aber wenn ich davonkomm', so werd' ich Euch Eure Freundschaft nicht vergessen.« Er wollte noch mehr reden vom Dableiben, Sichsbequemmachen, da trat die alte Reike brummend herein. Der Doktor hab' befohlen, daß Niemand lang mit ihm rede, er würde sich wieder verderben und sie noch einmal den Schreck und die Qual haben, und so knurrend schob sie Tobiah zur Thür hinaus. Draußen stand der dicke Landdoktor und bestätigte das Verbot. »Sie können übrigens ganz beruhigt nach Hause reisen,« fügte er hinzu; »der Patient ist jetzt außer aller Gefahr!«

Tobiah stand allein im Hausflur. »Da wird's wohl am besten sein,« murmelte er, »ich schau', daß ich vor Schabbes noch nach Haus komm'!«

Enttäuscht, verbittert und gekränkt stand er vor dem Haus, das ihm gestern Abend so lockend erschienen. Der Nebel hatte sich zu schweren, drohenden Wolken geballt. Sollte er zu Fuß heimwandern, fünf Stunden? Sollte er die Post abwarten, die bis in die Nähe seines Dorfes fuhr? Das würde die größere Hälfte von alle dem verschlingen, was ihm von dem erträumten Reichthum übrig geblieben war. Er belastete den Fünfthalerschein und beschloß, zu Fuß zu gehen: dabei wünschte er im Stillen den Vetter und Wolf Breitenbach in's Gehenom (Hölle).

Ein heißer Wind hatte sich erhoben und wirbelte den Straßenstaub auf; die Ebereschen an der Chaussée bogen und schüttelten sich und die abgerissenen rothen Beerenbüschel flogen durch den Staub; man sah den Weg zu seinen Füßen nicht mehr. »Und fünf Stunden Weges! Um Gottes willen!« rief Tobiah aus, »es kann ein Gewitter kommen und mich todtschlagen, dann hat Wolf Breitenbach erst eine rechte Nekome (Schadenfreude)!«

In diesem Augenblick rasselte ein Wägelchen, es war das Postkärrnchen. Die Briefpost wurde dazumal noch in einem zweirädrigen Kasten befördert, den ein alter Postklepper zog. Man nannte ihn das ›Kärrnchen‹. Hinter dem Briefkasten befand sich ein Raum für das Heu und den Hafersack.

»Halt! Postillon!« rief Tobiah, »was muß ich zahlen, wenn ich hinten aufsitzen darf bis gegen Hof?«

»Nanu, ein Thaler wird gerade recht sein bei dem Staub und Wetter.«

»Bist Du meschugge (verrückt)!« rief Tobiah, »Einen halben Thaler geh' ich Dir und oser kein'n Heller mehr!«

»Weißt Du Jud',« entgegnete der Postknecht, »wir haben nicht miteinander die Schweine gehütet, daß Du ›Du‹ zu mir sagst! Und wenn Du den Thaler nicht hergeben willst, so lauf' zu Fuß! Hü!« Er trieb das Pferd mit der Peitsche an; ein furchtbarer Windstoß verhüllte das Fuhrwerk in Staub.

»Halt!« schrie Tobiah, »halten Sie ein, Herr Postknecht! Ich geb' Ihnen in Gott's Namen den Thaler!« Und mühsam kletterte er über das Rad hinauf und warf sich verzweifelt in das Stroh hinter dem Kasten. Keuchend holperte das Kärrnchen weiter durch Staub und Sturm. Nach und nach beruhigte sich Tobiah ein wenig, und da er sein Morgengebet noch nicht verrichtet hatte, zog er die Tfillim hervor, legte sie um Kopf und Arm und begann mit murmelndem Singsang zu oren (beten).

Der Postknecht drehte den Kopf um und sagte, indem er lachend in seine Pfeife biß: »Hast Recht, Jud'; bet' nur Dein hebräisch Vaterunser! Wenn uns das Wetter in der Schwalmschlucht erwischt, kann's an den Hals gehen!«

Tobiah schüttelte sich heftiger und begann noch inbrünstiger zu oren.

Die Wolken hatten sich zu schwarzen Klumpen geballt, ein Gewitter, wie sie an der Grenze der Jahreszeiten am ungestümsten toben, grollte näher und näher, tiefe Finsterniß brach herein, der Wind heulte und bog die Bäume an der Heerstraße, eine alte Pappel krachte dicht vor dem Fuhrwerk auf dem Weg zusammen. Das Pferd wich scheuend zurück, in Tobiah's Antlitz war kein Blutstropfen mehr. Jetzt platzte ein Hagelschlag über ihren Häuptern, der Postillon zog fluchend seinen Mantel über den Kopf, Tobiah verkroch sich unter das Stroh, zitternd pochte sein Herz gegen den rumpelnden Boden des Kärrnchens. Nun war die Schwalmschlucht erreicht. In der Felsenkluft war es völlig Nacht, unheimlich rauschte das vom Gewitterguß angeschwollene Wasser, Blitze zuckten, der Donner hallte an den Felswänden in brüllendem Echo wieder.

»Postillon!« flüsterte Tobiah zitternd, »sind wir durch?«

»Wenn's den Steg abgerissen hat,« brummte der Postknecht unter dem Mantelkragen heraus, »so müssen wir durch's Wasser! Kreuzsakerment, warum hab' ich mir auch einen Juden aufgeladen!«

Tobiah fühlte seine Todesstunde gekommen. Er begann die Widde (Sündenbekenntniß) zu sagen und schlug sich bei jeder Sünde verzweifelnd an die Brust. Die Todesgefahr hatte ihn aufrichtig gegen sich selbst gemacht. Bei jeder Sünde fragte er sich im Herzen, ob er sie auch wirklich begangen habe! Bei den »Versündigungen im Handel und Wandel« blickten ihn seine aufgeblasenen Gänse mit gebrochenen, vorwurfsvollen Augen an. Als er aber an den »Hochmuth, die Halsstarrigkeit, die Gehässigkeit gegen den Nächsten« kam, da stand Wolf Breitenbach vor seiner Seele, der Mann, den er am meisten haßte, der Mann, der ihn unterstützt hatte, der seinem armen Kind die Hand geboten, das vielleicht heute noch zur hülflosen Waise würde! Und er klopfte noch inbrünstiger an die Brust und bat den alten Freund aufrichtig um Verzeihung. »Wenn ich lebendig davonkomm'...« rief er aus.

»Donnerwetter!« schrie der Postknecht dazwischen, »da hat's richtig den Steg abgerissen, jetzt heißt's mit dem Karren durch's Wasser gehn!« Unheimlich toste die Schwalm.

Tobiah hatte sich in Todesangst halb aufgerichtet und mit beiden Händen an die Räder des Kärrnchens geklammert. »Gott der Allmächtige! – stammelte er, »wenn ich lebendig durchkomm', so bin ich mich menadder (gelobe ich), daß ich Wolf Breitenbach mein Kind geb' und es ihm anbiet' und ihn um Verzeihung bitt'.« Mit hervorquellenden Augen wartete er die Wirkung seines Gelübdes ab. Er hatte gethan, was er zu thun nur vermochte; wie die Verlobten im Tempel hatte er dem Herrn ein Täubchen geopfert.

Schwankend keuchte das Kärrnchen durch den Fluß und erreichte glücklich das jenseitige Ufer. Dann erweiterte sich die Schlucht und drüben lag blauer Himmel über der Ebene von Hof und Breitenbach. Der Postillon schlug den Mantel zurück. »Du kannst von Glück sagen, Jud',« sagte er. Schweigend gab Tobiah ihm den Thaler, nachdem er vorsichtig in der Station den Tresorschein gewechselt hatte, und langte noch vor Schabbes in seiner Heimat an.

Am Morgen des Sabbaths trat er mit feierlicher Miene in die Betstube. Er schritt auf Wolf Breitenbach zu und sagte zu dem Erstaunten: »Laßt mich aufrufen, Rebb Wolf, ich will Gaumel berschen (das Gebet für Rettung aus Todesgefahr verrichten)! Aber zuvor bitte ich Euch tausendmal um Verzeihung, wenn ich Euch je beleidigt hab'.«

Wolf Breitenbach fühlte die ganze Genugthuung über diese öffentliche Abbitte. Die Demuth gilt, merkwürdigerweise, für eine jüdische Kardinaltugend, denn die Bibel nennt den Gesetzgeber Moses »sehr demüthig«.

Als Tobiah dann vor die Thora aufgerufen wurde und nach der Vorlesung eines Abschnitts den Segen über die Thora gesprochen hatte, fügte er mit lauter Stimme das Gebet für Rettung aus Todesgefahr hinzu und schloß zum Befremden des Auditoriums mit den Worten des Psalms: »Meine Gelübde bezahl' ich meinem Gotte im Angesicht seines ganzen Volkes!«

Nach der Schule umdrängte Alles neugierig den Geretteten; er aber bat Wolf um ein Wort unter vier Augen. »Rebb Wolf,« sagte er feierlichst, »Ihr habt um mein Täubchen angehalten; ich geb' sie Euch, wenn Ihr sie noch wollt.«

»Ob ich sie noch will?« rief Wolf mit blitzenden Augen, »aber sagt mir Rebb Tobiah – –«

»Fragt mich nichts,« unterbrach ihn dieser. »Ich bin gegen Euch undankbar gewesen und bin mich menadder gewesen, daß ich Alles gut machen will; und jetzt ist mir ein Stein vom Herzen, daß wir wieder gut Freund sind.«

Wolf reichte ihm gerührt die Hand. »Es ist mir hart genug angegangen,« antwortete er, »daß ich mit einem alten Freund hab' brauches sein müssen! Ich hab's doch gut gemeint. Also ist Alles wieder richtig und nach Sukkes (Laubhüttenfest) kann die Hochzeit sein!« – Er lud Tobiah zum Essen ein und ganz Hof war voll Freude und Jubel über die Verlobung.

Ahnungslos hatte das kleine Täubchen indeß fortgearbeitet und fortgelacht, auch zuweilen an der Thüre gelauscht und sich der musikalischen Fortschritte ihres Freundes gefreut. Wenn dieser auf der Tonleiter immer höher hinaufstieg, so riß sie Mund und Augen immer weiter auf, und langte er bei dem gerühmten hohen C an, so schlug sie gar die Hände über dem Kopf zusammen. Meyer hatte sich aus dem mütterlichen Depot Civilkleider kommen lassen und sie in den musikalischen Intervallen selbst adjustirt, und da die militärische Laufbahn seiner früher so saloppen Haltung etwas Strammes und Würdevolles hinterlassen hatte, so war er wirklich ein recht annehmbarer junger Mann. Und in wenig Monaten sollte seine Stimme vom Chor herab klingen und vierhundert Thaler jährlicher Gage in seiner Tasche. Das erwog Täubchen eben im Stillen und zog mit der Haarnadel den Docht der Öllampe hervor, daß das Licht ihre frohen Hoffnungen noch glänzender beleuchtete, als sie durch den zu dieser Stunde ungewöhnlichen Besuch ihres Vaters überrascht wurde.

Tobiah hatte etwas Feierliches, als er sich am Herd niederließ und die Geschichte seiner Fahrt mit allem Aufgebot seiner schauerlichen Phantasie erzählte, wie er, ein zweiter Robinson, nur durch ein Wunder dem Schiffbruch entkommen sei.

Täubchen lauschte mit kindlicher Theilnahme und auch über die Krankheit des Vetters Schmul Chajim äußerte sie ihr aufrichtiges Bedauern. Nun glaubte sie die Mittheilungen beendet und wollte ihre unterbrochene Küchenarbeit wieder aufnehmen, als Tobiah sich erhob und mit aller väterlichen Autorität sagte: »Täubchen, mein Kind, zum nächsten Aufsagtermin gehst Du aus dem Dienst. Sag's nur gleich der Madame Hornstein, damit sie sich nach wem Andern umsieht.«

Täubchen starrte ihn an.

»Und weißt Du, warum?« fuhr der Vater fort. »Ich hab' Wolf Breitenbach gesagt, wenn er Dich wirklich nehmen will, so geb' ich Dich ihm, es ist Alles richtig und nach Sukkes ist die Hochzeit.«

»Vaterleb! seid Ihr meschugge!« rief Täubchen aus und zwang sich zum Lachen, »Wolf Breitenbach kann doch mein Großvater sein! Ihr wollt mich zum Narren halten, nicht wahr?«

»Kind!« erwiederte der Alte, »so soll Gott mir helfen, es ist mein Ernst. Du weißt, wie er damals um Dich angehalten hat, hab' ich nicht gleich Ja gesagt und war brauches mit ihm, aber wie ich in der großen Todesgefahr war, ist mir eingefallen, wie Unrecht ich hab', und ich bin mich menadder gewesen, daß ich Dich ihm geb'. Und Du weißt, Kind, wenn ein frommer Mann was auf sich genommen hat, so muß er's halten.«

Täubchen stand wie vom Donner gerührt, alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen, in ihrem Herzen hämmerte es, daß sie kaum mehr athmen konnte.

»Sei gescheidt, Kind!« fuhr Tobiah fort, »und denk' nach. Ich hab' nichts und Du hast nichts und Wolf Breitenbach ist ein gemachter Mann. Bild' Dir ein, er sei jung! Was liegt Dir dran? Er hat Dich gern und Du mußt Dich an ihn gewöhnen, denn mein aulom habo (Seelenheil) hängt daran, daß ich thu', was ich auf mich genommen hab'. Und Du bist doch ein braves Kind und wirst Deinen alten Vater nicht um sein Seelenheil bringen wollen!«

Da brach Täubchen in krampfhaftes Schluchzen aus, es schüttelte sie am ganzen Körper und sie sank auf den Herd und verbarg ihre Augen in den Händen.

Meyer mußte das Schluchzen drin gehört haben, er stürzte heraus und als Täubchen ihn erblickte, vergaß sie den Vater und warf sich an Meyer's Brust und schlang ihre Arme um seinen Hals.

»Meyer! Meyer!« rief sie schluchzend, »ich soll Wolf Breitenbach heirathen, mein Vater ist sich menadder gewesen! Abwehrend hielt Meyer die Hand über den Kopf des zitternden Täubchens.

»Hast Du vielleicht was drein zu reden?« schrie Tobiah gereizt.

Aber Meyer suchte vor Allem das Mädchen zu beschwichtigen. »Sei ruhig,« sagte er, »Dein Vater hat Dich lieb und wird Dich nicht zwingen, wenn Du nicht willst. Wenn er vorschnell ein Gelübde gethan hat, so kann er sich's madder sein (lösen) lassen vor drei Zeugen; so viel versteh' ich auch vom Gesetz.«

»Nichts verstehst Du!« schrie Tobiah; »heißt das vorschnell, wenn man mitten durch's Meer durch muß, wo Einem das Wasser bis an den Kopf geht und es donnert und blitzt wie an I'me hamabul (zur Zeit der Sintflut)? Vor der Thora hab' ich Gott dem Allmächtigen gedankt, daß er mich errettet hat, und vor der Thora hab' ich geschworen, daß ich Wolf Breitenbach mein Kind geb'. Und Du redest ihr ab, Du, der selber am Altar zu Gott dem Allmächtigen vorbeten will, Du sollst Dich schämen!« Dann wandte er sich wieder zu Täubchen. »Du bist immer ein gutes, frommes Kind gewesen,« sagte er und legte alle ihm zu Gebote stehende Rührung in seinen Ton, »bedenk', daß ich ein alter Mann bin und morgen sterben kann. Und wie soll ich vor Gott und Deine Mutter olewescholem treten, mit so einer Sünde auf mir? Nicht wahr, Täubchenleb, Du siehst's ein, und wenn Wolf Breitenbach kommt, so wirst Du wissen, was Du zu thun hast!«

Täubchen nickte stumm mit dem Kopf, der Alte ging beruhigt fort.

Meyer wollte noch bleiben, aber sie winkte ihm, fortzugehen. Mechanisch ordnete sie Alles, was noch in der Küche zu thun war, sah nach dem Kind, ob es ruhig schlafe und warf sich unausgekleidet auf ihr Bett, das Kopfkissen über ihr Gesicht drückend. Fieberträume flogen an ihren Sinnen vorbei. Sie sah Meyer im Bräutigamsanzug mit dem silbernen Hochzeitsgürtel neben sich stehen; sein langes Gesicht lächelte ihr freundlich zu. Aber unter dem Lachen wurde es breiter und breiter, die ganze Gestalt schwoll an, der Gürtel wurde zu der alten ledernen Geldkatze, die Wolf Breitenbach um den Leib trug, und die grauen Augen des feisten Alten zwinkerten ihr lüstern zu. Sie drückte das Kopfkissen fester über ihre Augen; aber nun klang in ihre Ohren deutlich die Melodie des neuen lecho daudi, dazwischen kreischte die Stimme ihres Vaters: »Bring' mich nicht um mein aulom habo!«

Als Frau Dinchen am andern Morgen die Küche leer sah, trat sie in Täubchens Kammer und fand das Mädchen fieberglühend und verstört. Sie fragte, was vorgegangen sei, aber Täubchen schüttelte nur mit dem Kopf: »sie wolle aufstehn und an die Arbeit gehen.«

»Das litte sie nicht,« sagte die gute Chassente, »Täubchen müsse im Bett bleiben und Kamillenthee trinken, sonst könne eine hitzige Krankheit draus werden; die Küche besorge sie heute schon selbst und das Kind bringe sie zu Raaf's Mine, da könnte es ein paar Stunden spielen.«

Täubchen gehorchte; es war ihr, als wären ihr alle Gelenke gebrochen; sie schlief ein. Gegen Mittag kam Wolf Breitenbach, frisch rasirt, die silberne Uhrkette mit dem Petschaft über den breiten Bauch gespannt und fragte nach Täubchen. »Sie sei krank,« berichtete Frau Hornstein, »hoffentlich nicht bedenklich; ihr Vater sei gestern Abend dagewesen und das arme Kind müsse einen großen Schiwerlef (Herzeleid) gehabt haben.« Da ging Herr Breitenbach mit einem sehr langen Gesicht davon.

Gegen Abend stand Täubchen auf. Seit Frau Hornstein den Namen von Raaf's Mine genannt hatte, dämmerte ein Gedanke in der Seele des Mädchens, der zum festen Entschluß wurde. Sie bat, ob sie ein bischen an die Luft gehen dürfe, dann würde ihr gleich besser werden, nahm ihr gestricktes Wolltuch über den Kopf und ging. Das war der rechte Weg, die Einzige, die sie um Rath fragen konnte.

Obwohl Mine seit dem Tode des alten Raaf nur noch eingezogener lebte, hatte sie doch stets ihrem Pflegling die treueste Theilnahme bewahrt. »Das ist ein Mädchen, eine gute Tochter, eine fromme Seel'!« sagte Täubchen vor sich hin, »der will ich Alles sagen, was ich auf den Herzen hab' und was die mir rathen wird, weiß Gott! das will ich auch thun.«

Eine Stunde lang saß sie bei der alten Freundin und schüttete vor ihr ihr ganzes Herz aus. Auch daß sie den langen Meyer so gern habe, verhehlte sie nicht; ihre Backen brannten nur noch röther bei diesem ersten Geständniß. Und als sie die letzten Worte ihres Vaters und die Mahnung an dessen Sterbestunde wiederholte, brach sie in heiße Thränen aus. »Ich will kein schlechtes Kind sein!« rief sie wiederholt und warf sich an die Brust der tief bewegten Freundin.

»Mein gutes Täubchen!« sagte diese schmeichelnd, »wie glücklich wäre ich, wenn ich Dir helfen könnte! Wenn mein guter Vater noch da wäre, der könnte uns sagen, ob solch' ein feierliches Gelübde und wie es zu lösen wäre. Aber Du weißt ja, wir haben jetzt keinen Raaf, und die vom Lande hereinkommen, halten sich an den todten Buchstaben des Gesetzes und fragen nicht viel nach den Empfindungen des Herzens. Mein eigener schlichter Verstand aber zeigt mir einen Ausweg. Wenn Dein Vater zu Herrn Breitenbach ginge – oder Du selbst, um ihn zu bitten, daß er freiwillig verzichte und ihn seines Gelübdes entbände –«

»Das thut mein Vater nicht,« rief Täubchen, »nie, nie! dazu ist er zu stolz, und darf ich meinen Vater demüthigen vor Wolf Breitenbach? Können Sie mir das rathen?«

»Nein, mein gutes Täubchen!« rief Mine und küßte sie, »besser ist dulden, als kränken. Aber sag' mir eins: ist Dir Wolf Breitenbach wirklich so sehr verhaßt?«

»Gott soll mich bewahren,« sprach Täubchen und dann senkte sie die Augen; »wenn ich nur den Meyer nicht gar so gern hätt'!« flüsterte sie erröthend.

»Hast Du Dich ihm versprochen?«

Täubchen schüttelte den Kopf. »Wir haben nie von so 'was geredet,« sagte sie, »aber ich weiß es doch, wie gern er mich hat!«

Da trat eine Thräne in Mine's Auge und sie sagte: »Gutes Kind, Du bist die Einzige nicht, die nie erreichen kann, was ihr Herz sich erträumt hat. Weißt Du nicht, daß wir Frauen zum Entsagen geboren sind? In der Erfüllung dieser Pflicht liegt auch eine Seligkeit. Kennst Du die Geschichte von Jephtha's Tochter?«

Täubchen schüttelte den Kopf.

»Ihr Vater gelobte in der Schlacht, wenn er siegen würde, das Erste, was ihm begegnen würde, zu opfern. Da begegnete ihm zuerst sein einziges Kind. Und sie murrte nicht und gab sich freudig zum Opfer hin. Wer hätte sie gekannt, wenn sie glücklich gewesen wäre? Ihr Opfer allein hat sie heilig gesprochen und noch nach Jahrtausenden weint man ihr eine Thräne nach!«

»Wie hat sie geheißen?« fragte Täubchen, unter Thränen lächelnd.

»Ihren Namen kennt man nicht,« antwortete Mine, »nur ihren Gehorsam.«

»Und hat sie ihren Vater glücklich gemacht?«

»Sie hat es wenigstens gewollt. Ob solche Gelübde Gott wohlgefällig sind? Wer darf darüber nachklügeln! Es steht ja in der heiligen Schrift!«

Da stand Täubchen auf, es war, als wäre sie um einen Kopf größer geworden. »Ich danke Ihnen, liebes Fräulein,« sagte sie, »ich hab's gewußt, daß ich bei Ihnen Trost fände, und ich bitte Sie, seien Sie mir nicht böse.«

Mine küßte sie und Täubchen ging beruhigt nach Hause.

Mit Meyer sprach sie lang und eindringlich; der gute Mensch billigte Alles, was sie vorhatte. Ihrem Vater sagte sie, er möge sie bei Wolf Breitenbach entschuldigen, daß sie neulich krank gewesen sei, sie komme noch vor den Feiertagen selbst hinüber. Bei Frau Dinchen erbat sie sich zwei Tage Urlaub, sie habe zu Haus eine wichtige Familienangelegenheit zu ordnen.

An einem milden Herbstmorgen ging sie, das gestrickte, weißwollene Tuch über den Schultern, die schwarzgarnirte Kapuze auf dem Köpfchen und einen großen rothen Regenschirm in der Hand, zum frankfurter Thor hinaus. Am Schlagbaum beim Chausséehäuschen stand Meyer. Täubchen war nicht überrascht, obwohl kein Wort verabredet war. »Ich laß Dich nicht allein gehn,« sagte er, in gleichem Schritt sich anschließend.

»Glaubst Du, der Hans Ludwig kommt?« sagte Täubchen lächelnd.

»Gott weiß, wo der Rosche (Bösewicht) jetzt exerziert!« antwortete er und zwang sich auch zum Lächeln. Sie marschirten weiter. Täubchen holte mit ihren kleinen Füßen weit aus, um Schritt zu halten.

»Denkst Du noch an damals?« sagte sie, »da hab' ich zum ersten Mal gesehn, daß Du Muth hast!«

Meyer seufzte. »Was nützt der Muth,« sagte er wehmüthig, »wenn man keine Macht zum Helfen hat?«

Täubchen antwortete nicht und schritt rasch weiter. Eine Stunde Wegs gingen sie schweigend nebeneinander. Als sie an einem Apfelbaum vorbeikamen, der schwer beladen über einen Gartenzaun auf die Straße hinausragte, fiel ein reifer Apfel zu ihren Füßen nieder. Meyer hob ihn auf. »Ich bin Dir noch von damals einen Apfel schuldig,« sagte er.

»Du mußt erst hineinbeißen wie ich,« antwortete sie lächelnd.

Er schüttelte den Kopf und steckte den Apfel ein. Sie gingen weiter und erreichten die Hutweide vor ihrem Dorf. Eine Heerde Gänse schnupperte in dem dürren Weidegras und stob auseinander, als die Wanderer sich nahten. Täubchen lockte sie. »Sollen wir den Schirhamalaus singen?« frug sie.

»Mir ist nicht singerig zu Muth,« antwortete Meyer. Er blieb stehen, die Gänse beruhigten sich, Täubchen trat zu ihm, er hatte die Augen voll Thränen. »Wenn ich an damals denk',« sagte er – Täubchen legte ihm die Hand auf die Schulter. »Deßhalb bleiben wir doch gut Freund, nicht wahr, Meyer?« Und sie blickte ihn mit ihren dunklen Augen wie bittend an.

»So lang uns Gott das Leben schenkt!« sagte er und eine Thräne rollte über seine Backen.

Täubchens Auge verschleierte sich. »Ich bitt' Dich, lieber Meyer,« sagte sie, »mach' mir das Herz nicht schwer. Du hast mir's ja versprochen und ich hab' ohnehin einen schweren Gang vor mir!«

»Du hast Recht, Täubchenleb,« sagte er und sie gingen weiter. Sie erreichten das Dorf, Täubchen blieb stehen.

»Geh' Du jetzt heim zu Deiner Mutter,« sprach sie, »und sag meinen Vater, ich komm' bald nach. Ich gehe erst zu meinem – zu Wolf Breitenbach und will ihm sagen, daß ich da bin.«

Meyer reichte ihr die Hand und ging weiter, ohne sich umzusehen.

An der Thüre des Hauses hielt Täubchen einen Augenblick inne, um Athem zu schöpfen; sie knüpfte die Bänder der Kapuze, die mit ihrer schwarzen Krause wie ein Kranz ihr rundes Köpfchen umschloß, unter dem Kinn zu einer Schleife zusammen, lehnte den Regenschirm in eine Ecke des Hausflurs und klopfte leise an die Stubenthüre.

»Herein!« tönte eine speckige Stimme. Wolf Breitenbach saß im Dämmerlicht vor dem alten hölzernen Tisch und sortirte kupferne und silberne Scheidemünzen in zwei hölzerne Schüsselchen. Als er Täubchen erblickte, hob er überrascht seinen schweren Körper in die Höhe. »Godelkum (willkomm) Täubchen,« rief er aus, »wo kommst Du daher?«

»Aus der Stadt,« antwortete sie, ohne ihn anzublicken, »ich wollt' Ihnen selber sagen, daß ich wieder ganz gesund bin!«

»Das seh' ich unbeschrieen!« rief er, mit Wohlgefallen das blühende Gesichtchen musternd, auf das die Herbstluft ihren frischen Thau gehaucht hatte, daß es wie eine reife Pflaume zu duften schien.

»Was hat Dir denn eigentlich gefehlt?« fragte er.

»Es war nicht der Müh' werth,« antwortete sie, »und meine Madame war übertrieben, daß sie meinem Vater und Ihnen Angst gemacht hat. Und weil ich Sie seit der Zeit nicht gesehen hab', so komm' ich, Ihnen zu sagen, daß ich mit Allem einverstanden bin, was mein Vater mit Ihnen abgemacht hat.«

»Hat Dich Dein Vater gezwungen?« fragte er rasch und sah sie durchdringend an.

Sie hob die großen Augen zu ihm auf. »Ich laß mich nicht zwingen,« sagte sie ruhig, »ich thu' nur, was mir mein Herz eingibt.«

Breitenbach schüttelte den Kopf. »Ich glaub's nicht, Täubchen,« sagte er, »so ein alter Narr bin ich doch nicht; red' ehrlich, Täubchen, nicht wahr, ich bin Dir zuwider?«

»Gott soll bewahren,« rief Täubchen mit herzlichem Ton; »ich weiß, was Sie von jeher für uns gethan haben und ich hab' Sie immer gern gehabt; gleich nach meinem Vater sind Sie gekommen, und wenn ich Abends vor Einschlafen mein Schmajisrol gesagt hab', so hab' ich immer dazu gesagt: ›Lieber Gott, laß meinen Vater gesund und Wolf Breitenbach und – –‹«

Sie stockte, das Blut schoß ihr in's Gesicht.

»Ist das wahr, Täubchenleb?« rief Wolf mit gerührter Stimme.

»Warum soll's nicht wahr sein?« fuhr sie treuherzig fort; »es hat mich nur so gewaltig überrascht, daß Sie mich nehmen wollen, es war mir zu Muth, als wenn ich meinen Vater heirathen sollt'.« Sie lächelte.

Wolf schwieg betroffen. »Also das ist es gewesen,« sagte er nach einer Pause, »und weiter nichts?«

Täubchen schöpfte tief Athem. »Es war noch 'was,« sagte sie, »und deshalb bin ich gekommen, um mit Ihnen zu sprechen, wie ich mit mir selber sprech', denn ich kann nicht mit Ihnen unter die Chuppe (Trauhimmel) gehen, ehe ich Ihnen das sag', ich mein', es wär' eine große Sünde. Wissen Sie,« fuhr sie zögernd fort, »der lange Meyer, der Bule ihr Sohn, ist von jeher ein guter Freund zu mir gewesen, und wie er als Soldat in der Stadt war, ist er immer zu uns gekommen und hat bei meinem Herrn das Singen gelernt; er kann's so schön, daß sie ihn angestellt haben im neuen Tempel als Chassen, und ich hab' mich so an ihn gewöhnt, daß ich alsfort an ihn denken muß. Wenn ich nun Ihr Weib werd', so können Sie sich darauf verlassen, ich werd' brav und gut sein, ich will Sie pflegen in Ihren alten Tagen, wie Sie Ihre Frau olewescholem gepflegt hat in Ihren jungen. Ich versprech' Ihnen auch, wenn Sie wollen, daß ich den Meyer nicht mehr sehen will und kein Wort mit ihm sprechen. Aber daß ich nicht mehr an ihn denken will, das kann ich Ihnen nicht versprechen, denn das geht über mein Jechaules (Kraft).« Thränen erstickten ihre Stimme. »So!« sagte sie und wischte sich die Augen aus, »jetzt ist mir ein Stein vom Herzen, wenn Sie jetzt wollen, kann die Hochzeit sein.«

Wolf hatte ihr zugehört, es arbeitete sichtbar in seiner breiten Brust. »Du bist ein brav's Mädchen,« sagte er mit bewegter Stimme, »so soll mir Gott helfen! Du bist ein merkwürdig Kind!«

»Was ist da merkwürdig dran?« erwiederte Täubchen und lächelte unter Thränen.

»So!« rief Wolf, immer heftiger aufbrausend, um seine Rührung zu verstecken, »Du bringst mir doch nur ein Opfer, weil sich Dein Vater menadder gewesen ist. Wer hat's ihn geheißen!«

»Sein dankbares Herz,« erwiederte Täubchen, »und er bringt mich ja nicht um, wie Jephtha seine Tochter, er gibt mich ja an einen braven Mann!«

Da verlor Wolf Breitenbach seine letzte Fassung; die Mahnung an Jephtha's Opfer hatte sein Herz getroffen, er ward purpurroth. »So!« schrie er, »er gibt Dich mir, wie man Einen todt macht! Und warum? Weil ihm das Wasser an den Hals gegangen ist, sonst wär's nicht seine Ehre gewesen, sich mit Wolf Breitenbach zu verschwägern! O, ich kenn Tobiah Hof nur zu gut!«

»Nein, Sie kennen ihn nicht,« rief Täubchen, mit kindlicher Wärme für ihren Vater eintretend, »er weiß Alles, er weiß aber auch, was er Ihnen und Gott dem Allmächtigen schuldig ist, und er will sich sein Gelübde nicht madder sein lassen, was er doch könnte, weil er sein Seelenheil zu verlieren glaubt, wenn er seinen alten Freund und Wohlthäter kränkt!«

Breitenbach richtete sich hoch auf. Sein ganzer Stolz reckte sich mit seinem breiten Nacken empor. Ihn wollte Tobiah Hof an Großmuth beschämen! »'s ist recht,« sagte er ruhig. »Er hat geschworen, daß er Dich mir gibt und ich nehm' Dich.« Er warf einen Blick auf Täubchen; sie sah ihn fest und ruhig an. Er schob die Geldschalen in die Tischschublade, steckte den Schlüssel ein und griff nach seiner Mütze. »Komm'!« sagte er kurz.

»Wohin?«

»Zu Deinem Vater; wir müssen ihm doch sagen, daß Alles in Richtigkeit ist.«

Sie gingen schweigend nebeneinander durch das lange Dorf. Als sie sich dem Häuschen Tobiah's näherten, drang der Klang einer hellen Stimme mächtig durch die dunkelnde Nacht.

»Was ist das?« fragte Wolf.

Täubchen lächelte. »Das ist dem Meyer sein Kol,« sagte sie, »er singt seiner alten Mutter den neuen lecho daudi vor.« Und deutlich klangen jetzt die Worte: »Komm', o Freund, die Braut zu empfangen!« Da lächelte auch Wolf Breitenbach und brummte: »Merkwürdig!«

Als sie anklopften, verstummte der Gesang; als sie eintraten, erhob sich Meyer verlegen, um wegzuschleichen, die alte Bule saß zusammengekauert am Tisch und hustete.

»Godelkum, Rebb Wolf,« rief Tobiah aufstehend, und als er Täubchen sah, wollte er sie begrüßen, aber Wolf hielt den Arm vor das Mädchen gestreckt und sagte: »Was wollt Ihr? Die gehört mir, es ist Alles in Richtigkeit!« Einen Augenblick weidete er sich an dem allgemeinen Verstummen.

»Ist es nicht so?« fuhr er dann fort. »Ihr habt Euch menadder gewesen, Rebb Tobiah, mir Euer Kind zu geben, und ich nehm' sie!« rief er mit gehobener Stimme, »und Ihr seid jauze (frei), nicht wahr?«

Tobiah nickte zustimmend.

»Aber weil sie jetzt mir gehört,« rief Wolf, »kann ich doch machen mit ihr, was ich will? Und ich geb' sie da dem langen Chassen! Was sperrst Du das Maul auf?« fuhr er lachend fort, als Meyer ihn entgeistert anstarrte, »willst Du sie nicht, weil sie nichts hat? Ich geb' meinem Kind da gleich fünfhundert Thaler mit, und wenn ich sterb', kriegt sie den Rest! Wolf Breitenbach lumpt sich nicht.« Er stand ganz viereckig da, im Vollgefühl seiner Größe, und da sie Alle ihn noch anschauten, als scherze er nur, nahm er Täubchen und legte sie dem trunkenen Geliebten an die Brust. »Gott ist mein Zeuge,« rief er gerührt, »was ich sag', ist Taures Mausche (heilige Wahrheit).«


»Ich geb' sie dem langen Chassen!«
Holzstich nach einer Zeichnung von Moritz Daniel Oppenheim

Da löste sich die allgemeine Erstarrung, es war ein Durcheinander von Reden und Schluchzen und Jauchzen und Umarmen, und selbst Tobiah vergab die Großmuth seines Freundes und stieß Zischlaute der Bewunderung hervor. Als aber Meyer nun eine Dankesrede zu stammeln begann, sagte Wolf lachend: »Chassenleb, was Ihr mir sagen wollt, singt mir!« Das nahm der Verwirrte buchstäblich und fing an das: »Komm', o Freund, die Braut zu empfangen!« so laut zu schmettern, daß die Wände des Kämmerchens bebten wie die Mauern von Jericho.

Täubchen lachte vor Jubel, bis ihr die Thränen kamen.

»Ist Dir nun ein Stein vom Herzen?« fragte Wolf heimlich, und heimlich antwortete sie: »Von heut an bet' ich zuerst für Sie und dann erst für meinen Vater und für ihn!«

Zum Spätherbst ward der Tempel eröffnet und der neue Kantor, Herr Bettenhausen, debütirte zu allgemeinem Wohlgefallen. Kurz darauf war die Hochzeit, die erste im neuen Tempel. Frau Dinchen war die Unterführerin, da die alte Bule bettlägerig war. Sie hatte dem Brautpaar einen offenen Stadtwagen spendirt. Als sie durch die Mittelgasse fuhren, lud am Bierhaus »Stockholm« ein schmutziger, vertrunkener Knecht Fässer auf den Leiterwagen. Er blickte auf, das schmucke Brautpaar zu bewundern. Ob er sie wohl erkannt hat? Es war Hans Ludwig!

Täubchen lud den alten Vater ein, zu ihnen zu ziehen, da Frau Bule zur großen Betrübniß ihres Sohnes kurz darauf das Zeitliche segnete. Der Alte verweigerte es; er wolle seinen Kindern nicht zur Last fallen. Als aber ein Jahr darauf der Vetter Schmul Chajim in Hersfeld wirklich starb und ihm ein kleines Kapital vermachte, fühlte er sich berechtigt, in die Stadt zu ziehen. Dort lebt er nun als Rentier bei seinen Kindern und schnitzt »Trendelchen« für seinen pausbäckigen Enkel.


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