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Ich weiß nicht, wie es historisch zu begründen ist, daß wir Juden für die Mahlzeit am Freitagabend, als am »Eingang des Sabbaths«, ein Fischgericht für unerläßlich halten. Die Bibel zählt unter den nationalen Lieblingsspeisen nur die Zwiebeln und den Knoblauch auf. Ob sich das angestammte Fischgericht durch Petri Fischfang oder das Wunder mit den Fischen auf seine historische Quelle zurückleiten lasse, das mögen die Archäologen entscheiden. So viel aber weiß ich, daß in meiner Vaterstadt, die eine überwiegend protestantische, eine kleine katholische und eine ziemlich beträchtliche jüdische Bevölkerung besaß, fast ausschließlich für die letztere jeden Freitag die Bauern der Umgegend am sogenannten »Fischstein« ihren Markt hielten und jüdische Köchinnen in mehr oder weniger reinen Netzen, jüdische Hausväter in mehr oder weniger reinen Schnupftüchern ihr Kontingent an »Schabbesfischen« nach Hause trugen.
Das Gericht hatte einen solennen Anstrich. Für die Größe des Festes zeugte die Qualität der Fische; den drei hohen Festtagen gehörte der Lachs, den minderen der Karpfen in der spartanischen Sauce; die gewöhnlichen Sabbathe mußten sich mit Barben und Weißfischen begnügen. Doch ohne Unterschied der Rangstufen wurden die Fische stets von meiner Mutter eigenhändig zubereitet, denn mein Vater behauptete, daß Niemand auf Erden eine Fischsauce »à la Mutter« bereiten könne. Mit gerechtem Stolz heftete die Mutter jeden Freitag Vormittag sich die weiße Schürze um, an deren beide Zipfel ich und meine kleinere Schwester uns klammern durften, um Zeugen bei diesem Wunder der Kochkunst zu sein. So oft nun die in Stücke zertheilten Fische aus dem blanken Messingkessel genommen und symmetrisch auf die lange Schüssel geordnet wurden (das Gericht wurde Abends kalt kredenzt), legte die Mutter das kräftigste Kopfstück auf einen besondern Teller, bekränzte es mit Zwiebeln und Citronenscheiben, übergoß es mit der gewürzig duftenden Sauce und stellte es auf den weißgescheuerten Anrichtetisch mit den Worten: »Für Tante Guttraud.«
Allwöchentlich sahen wir Kinder diesen neidenswerthen Tribut hinwegtragen, ohne uns von der Zwangspflicht, die uns kopflose Fische auferlegte, Rechenschaft geben zu können. Tante Guttraud war eine Mutterschwester unserer Mutter, die mit einem kranken Mann und zwei ältlichen Töchtern in einem Gäßchen nahe der alten »Schul«, dem Bethaus der Strenggläubigen, ihre ärmliche Wohnung hatte, aus der sie nie den Fuß setzte. So oft aber die Mutter nur ihren Namen nannte, geschah es mit einem Ausdruck frommer Verehrung, zu der auch wir Kinder mit angehalten wurden, ohne sie zu begreifen oder je nach ihrem Grunde zu fragen. Ja unsere heilige Scheu gewann einen Anstrich von Furcht, wenn wir mit der Mutter Freitag Abends nach der »Schul« (Gottesdienst) die alte hölzerne Treppe, die einen Strick statt des Geländers hatte, zur Wohnung der Tante Guttraud hinaufkletterten, um uns, wie es die Mutter nun einmal eingeführt hatte, von ihr »benschen« (segnen) zu lassen.
Noch heute lebt in meiner Erinnerung das Bild, ja der Geruch des Zimmers, in das wir nicht ohne inneres Widerstreben eintraten. Der Geruchssinn hat ein merkwürdig treues Gedächtniß. Indem ich dieses niederschreibe, athme ich fast wieder jene Atmosphäre von Kohlendampf, Lampendunst und Kampherduft, die mir vor fünfzig Jahren auf die Brust fiel und die, wo ich sie jemals in den Wohnungen der Armuth wiederfand, mir unwillkürlich das Bild der Tante Guttraud in die Seele rief. Das Zimmer war tief und niedrig; von dem geschwärzten Querbalken der Decke herab hing eine siebenzackige Messinglampe; aus zweien ihrer Schnäbel dampfte eine Ölflamme und warf ein grelles Licht auf den darunterstehenden, mit weißem Tuch gedeckten runden Tisch, während der übrige Theil des wüsten Gemachs in dämmerndem Halbdunkel lag. Der wurmstichige Fußboden war mit weißem Sand bestreut, der unheimlich unter unseren Sohlen knisterte. In einer Ecke der Tiefe lohte ein eiserner Steinkohlenofen, aus dessen Aschenthür die Windstöße qualmende Wölkchen trieben; in der andern stand ein Bett mit roth und blau gewürfelten Kattunvorhängen, in welchem der Mann der Tante, den wir nie Onkel nannten, gichtkrank lag, die Hände und Füße in Kampherkissen eingebunden. Auf einem ledernen Lehnstuhl, unfern dem Bette, saß die Tante. Eine dicke, in schwarzes Leder gebundene Tfille (Gebetbuch) haltend und die Lippen noch stumm bewegend, erhob sie sich, uns zu begrüßen. Die Mutter reichte ihr die Hand mit einer Bewegung, als verneigte sie sich vor der Greisin, die das Haupt der Mutter sanft an ihre Schulter lehnte und ihr mit der flachen Hand wiederholt über die Stirn strich. »Benschen Sie meine Kinder, Tante Guttraud!« sagte sie jedesmal, denn die demüthige Greisin schien auf diese Bitte zu warten. Nun folgte sie und trat ein paar Schritte näher in den lichtern Raum auf uns zu, die wir uns scheu an die Ecke des Tisches geklammert hatten.
Tante Guttraud war von mittlerem Wuchs und schmächtiger Gestalt, die ein wenig gekrümmt oder vielmehr gebrochen schien, und die ein Kleid von dunklem Druckkattun eng umschloß. Über die Brust war ein weißes Tuch ohne jeglichen Zierat gekreuzt, das ihr bleiches Antlitz fast wachsgelb erscheinen ließ. Über der Stirn schloß ein schwarzes Band die Haare sorgfältig ein; eine weiße Tüllhaube umrahmte das strenge, vornehme Gesicht. Die Nase war so fein gezogen, daß sie wie durchscheinendes Elfenbein erschien, die schmalen Lippen ließen, geöffnet, wohlerhaltene Zähne sehen; unter stolz gewölbten dunklen Augenbrauen leuchteten rehbraune Augen in feuchtem Glanz wie unter Thränen hervor. Zwei magere wachsgelbe Hände legten sich auf unser Haupt. Innig und seelenvoll hoben sich die Augen zum Himmel empor; die Lippen bewegten sich zur Segensformel so leise, daß wir nur das Summen der Fliegen hörten, die um die Flamme der Ampel schwirrten, und das leise Stöhnen aus dem Bette, dessen Vorhänge den Kranken verhüllten. Dann küßte sie uns auf die Stirne, und wir zogen zaghaft ihre dürre Hand an die Lippen. Mit kaum hörbarem Schritt bewegte sich die Greisin zu einem Glasschrank, aus dessen trüben Scheiben ein paar bemalte Kaffeetassen hervorlugten, und nahm aus einer Schublade zwei Borsdorferäpfel, mit welchen wir uns unterhielten, während die Mutter, zum Sitzen genöthigt, eine halblaute Konversation mit ihr begann.
»Wie geht es Ihnen, liebe Tante?«
»Gott sei Dank! nicht schlechter. Die böse Gicht ist hartnäckig, zumal im Herbst, aber Gott wird helfen.«
»Haben Sie heut Nacht ein wenig geschlafen?«
»Ein wenig; alte Leut' brauchen nicht viel Schlaf. Er schläft auch wenig, aber Appetit hat Er, Gott sei Dank, und die Fisch' haben ihn delektirt. Es kocht sie auch Keine so, wie meine Betty.«
»Wollen Sie nicht einmal bei uns speisen, liebe Tante? Sie haben mir's längst versprochen.«
»Einmal, wenn ich von Ihm fortkommen kann. Ich schicke Dir lieber eins von den Mädchen; sie nähen sich die Augen aus. – Brave Kinder. Gott segne sie!«
»Und wie fühlen Sie sich, Tante Guttraud ?«
»Ich? Gott sei Dank, daß es Ihm nicht schlechter geht; gelobt sei der Arzt der Kranken und gesegnet, wer die Kranken labt und die Wankenden stützt!« – und die magere Hand erhob sich über das Haupt unserer Mutter, die vor dem tiefen, thränenfeuchten Blick der Greisin beschämt die Augen niederschlug.
Es klopft an die Thür; die Mutter erhebt sich; die Äpfel sind verzehrt; wir athmen auf, als wir durch das enge Thor in das enge Gäßchen treten. »Kinder,« sagt die Mutter, »Tante Guttraud ist eine Heilige in Israel.«
Wir glaubten ihr. Verehrt man doch die Heiligen, ohne nach dem Grunde zu fragen. Kinder verlangen nicht nach Beweisen. Die Großtante stand unseren kindischen Interessen fern; sie ragte nur um eines Fischkopfs Länge und eines Apfels Schwere in unser Leben hinein. Und diese verhältnißmäßige Verkürzung war bald vergessen, so oft wir Abends, wenn nicht an dem durch seine Gräten gefährlichen Fisch, so doch an der Sauce »à la Mutter« gehörig betheiligt wurden.
Wohl zwanzig Jahre später kehrte ich von der Universität in meine Heimat zurück. Wie fand ich Alles verändert und mir entfremdet! Der Tod hatte, von seiner eifrigsten Dienerin Cholera unterstützt, seine ergiebige Ernte eingeheimst. Mein geliebter Vater lag draußen am »guten Ort«; für die vielen Anderen, deren Hinscheiden mir gelegentlich berichtet wurde, hatte mein Herz kaum eine Erinnerung bewahrt. Das Vaterhaus war einsam geworden; die Brüder waren in der Fremde zerstreut, die Schwester war verheirathet; an verwaister Stätte schaltete die Mutter nicht »liebeleer«, denn ihr Herz umfaßte die ganze Menschheit; sie war der Brennpunkt für die zerstreuten Strahlen der Familie, die Vorsehung der Bedrückten und Nothleidenden der ganzen Gemeinde geworden. Es war ein schweres Wiedersehen. Wir umarmten uns schweigend. Jedes schonte die Wunden des Andern. Das Schweigen machte die gedrückte Stimmung in dem öden Hause nur schwüler und erstickender.
»Gehen wir hinaus zu den Unseren!« sagte die Mutter. Ich wollte ihre Begleitung zurückweisen, sie lächelte.
»Das ist mein gewöhnlicher Spaziergang,« sagte sie, »der ›gute Ort‹ ist mein Garten, mein Persepolis.«
Eine Stunde Weges von der Stadt liegt der jüdische Friedhof auf einem Hügel am Saum eines Eichenwäldchens. Wenn man nicht durch das schmutzige Dorf fahren will, nimmt man den Weg durch den »Forst«, eine Wiese mit alten Pappeln umsäumt. Die grüne Wiese war mit unzähligen Herbstzeitlosen durchsät; zur Pforte des Friedhofes hatte die Mutter den Schlüssel wie zu ihrem Garten. Wir wandelten unter Bekannten; von allen Grabsteinen grüßten vertraute Namen. Wir hatten uns am Grabe meines Vaters ausgeweint und schritten erleichterten Herzens durch die Gräberreihen, hie und da ein Steinchen auflesend, um es als Denkzeichen auf die Grabstätte eines Verwandten, eines Freundes zu legen. Bei einem liegenden Stein, dessen hebräische Inschrift mir schwer zu entziffern fiel, blieb die Mutter stehen, und gleich als ob sie mir einen theuren Bekannten vorstellen wollte, sagte sie mit gerührter Stimme: »Tante Guttraud!«
Die Erinnerung aus meiner Kindheit tauchte plötzlich vor mir auf, das Bild der Greisin in ihrem geheimnisvollen Schleier. Gegenüber dem unauflöslichen Räthsel des Todes empfand mein Herz zum ersten Mal den Drang, nach dem Grund der mysteriösen Verehrung dieser »Heiligen in Israel« zu forschen. Ich setzte mich am Rand ihres Grabsteins nieder und zog die Mutter in den Schatten einer Trauerweide, die sie selbst dort gepflanzt hatte. »Was ist's mit Tante Guttraud und Deiner frommen Verehrung für sie bis über das Grab hinaus? Wie groß muß dieses Weib gewesen sein, wenn eine Seele wie die Deinige sich in Ehrfurcht vor ihr verneigt!«
Fast erschreckt wehrte die Mutter diesen Vergleich von sich ab. »Wie kannst Du mich, Kind, mit dieser Martyrin vergleichen! Mir hat Gottes Gnade in meinen Kindern der Freuden so seltene gegeben und mein Schmerz war immer nur das allgemeine Menschenloos. Sie war die heiligste Dulderin, die Heldin der Demuth, die Martyrin der Treue. Ein Opfer, das die Liebe bringt, begreifen wir leicht, weil wir selbst uns dessen fähig halten; Tante Guttraud steht einzig da; sie hat sich selbst ihrer Treue geopfert. Ich habe euch Kindern nie von ihren Schicksalen erzählt, weil ihr Heiligenschein einen Schandfleck unserer Familie deckt; ein Kindergemüth soll man nicht trüben durch die Schilderung menschlicher Irrthümer und Verbrechen. Aber du kennst jetzt das Leben mit seinem Licht und seinen Schatten. Jetzt kann ich Dir ruhig ihre Geschichte erzählen.
Tante Guttraud war eine ältere Schwester meiner Mutter, Deiner verklärten Großmutter. Segen ihrem Angedenken! Sie war in einem Landstädtchen unweit der Hauptstadt verheirathet und wir hörten wenig von ihr, bis ihr Mann starb und sie mit ihren beiden Töchtern herüberzog. Sie besaß so viel, als sie zum bescheidenen Leben brauchte; sie war eine geübte Perlenstickerin und die Mädchen nähten für andere Leute. Trotz ihrer vierzig Jahre war sie noch eine schöne Frau; ihr vornehmer Gang ist mir noch immer im Gedächtniß geblieben.
Das war in den französischen Zeiten, als König Jerôme bei uns Hof hielt und aus Frankreich und Elsaß eine Menge abenteuerlicher Leute sich bei uns ansiedelten. Da war Alles ›lustik‹ und schwindelhaft, und in der Neustadt sah man Kaufläden entstehen, so groß und prächtig wie auf der frankfurter Zeil. Zwei Brüder, elsaßer Juden, hatten das schönste Geschäft aufgemacht, und es war eine Neuigkeit, die Aufsehen in der Gemeinde erregte, als der ältere von ihnen sich mit Tante Guttraud verlobte. Es war ihm wohl hauptsächlich darum zu thun, in unsere Familie zu kommen, die nicht zu den reichsten, aber zu den geehrtesten der ganzen Gemeinde zählte. Auch war Tante Guttraud mit der weißen Hochzeitshaube wirklich eine schöne, fürstliche Frau. Ich tanzte, als Mädchen noch, auf der Hochzeit, die im Stadtbausaal gehalten wurde; meine Mutter, gesegneten Andenkens, kam traurig und kopfschüttelnd von der Sude (Hochzeitsmahl) nach Haus; das Schwindelhafte des Festes hatte sie verstimmt, das Wesen des Bräutigams sie abgestoßen. ›Bei Dem hat die Windel nicht gerauscht,‹ sagte sie, um den Emporkömmling zu bezeichnen. Und sie hatte leider nur zu recht gesehen. Die Ehe der Tante war keine glückliche. Ihr zartes, vornehmes Herz litt unter seiner Rohheit, ja man sagte, obwohl sie selbst es beharrlich leugnete, daß er sie thatsächlich mißhandle. Die Stieftöchter trösteten sich mit ihren besseren Kleidern und mit dem Bewußtsein, nicht mehr für andere Leute arbeiten zu müssen; die Tante blieb einfach wie zuvor, wir aber zogen uns mehr und mehr von ihrem Hause zurück; ein tiefer Widerwille ließ uns den neuen Onkel stets als einen Fremden betrachten.
Die ›französische Zeit‹ ging vorüber; der Kurfürst wurde von den drei Alliirten wieder eingesetzt; ich war unter den ›weißen Mädchen‹, die ihn am Weserthor empfingen. Aber die Zeiten waren, wie man damals allgemein sagte, nur schlechter geworden. Der westphälische Hof hatte viel Geld unter die Leute gebracht; mit dem Luxus hörte der Wohlstand auf; die deutsche Tugend kokettirte mit nüchterner Einfachheit; die großen Kaufleute sperrten einer nach dem andern ihre Läden zu. So ging es auch den beiden Elsaßern; der Eine ging durch, der Andere verarmte immer mehr, und mit dem Verfalle seines Reichthums wuchs nur seine Rohheit, aber mit ihr die Demuth der frommen Dulderin. Sie strickte wieder Rosenguirlanden aus Perlen in grüne Geldbeutelchen, die sie selbst zum Verkaufe trug, und die Mädchen errichteten eine Nähschule und verfertigten wieder Hemden für andere Leute. Doch wenn einer der Anverwandten der armen Tante eine Unterstützung bot, so wies sie diese stets entschieden und vornehm zurück: ›Er sorge schon hinlänglich für die Seinen.‹
Ich war seit einem Jahr verheirathet und Dein guter Vater hätte mir gern gestattet, etwas für die arme Tante zu thun. Wenn Er abwesend war, was jetzt halbe Wochen lang vorkam, besuchte ich die arme Tante, deren volles Gesicht der innere Gram abzehrte und bleichte, aber nie kam ein Wort der Klage über ihre Lippen. Nur heimlich durfte ich in der Küche die kleinen Vorräthe von Kaffee und Zucker, die ich mitbrachte, den Töchtern zustecken, in deren warmen Unterröcken ich die Kleider der Mutter erkannte; deßhalb trug sie wohl im kalten Winter ein dünnes Kattunkleid. Von dem Manne sagte sie, er sei ›über Land‹, um Geschäfte zu machen. Das glaubte sie gewiß, aber mit dem ›Überlandsein‹ hatte es eine eigene Bewandtniß, und man flüsterte in der Gemeinde darüber, daß er mit Geld in der Tasche und mit einer Uhrkette mit goldenem Petschaft zurückkam. Du weißt, mein Kind, daß damals noch jedes deutsche Ländchen seine eigenen Zollschranken hatte; wir waren, gegen Hannover wie gegen Frankfurt zu, abgesperrt, und die Waaren, die zumal von Hamburg reichlich zu uns herüberkamen, mußten an der Grenze, in Landwehrhagen, theuer verzollt werden. Da bildeten sich denn allerlei Schlupfwinkel, wohin die Schwärzer nächtlich ihren Vorrath trugen und in unterirdischen Magazinen anhäuften, von wo sie auf Schleichwegen in die Stadt gebracht wurden. Die Grenzjäger streiften nun bei Tag und bei Nacht, solche Spelunken zu entdecken und aufzuheben, um so mehr, als allerlei Diebsgesindel für gestohlene Güter dort guten Absatz fand; die Strafen wider solche Schwärzer und Hehler wurden stets verschärft und es gab keine Gnade für die Ertappten.
Da hieß es eines Tages, es war in der Woche vor den großen Festtagen, es sei bei Landwehrhagen ein solcher Diebs- und Schmugglerkeller entdeckt und aufgehoben worden und die Rädelsführer würden in Eisen hereingebracht. Ich hörte das ziemlich gleichgültig erzählen, und weil ein häusliches Weib nicht viel auf die Gasse hinausgehen kann, so wäre mir, hätte ich nicht gerade selbst die Fensterscheiben geputzt, der ganze Spektakel entgangen, als sie auf einem Leiterwagen, der auf beiden Seiten mit Grenzjägern eskortirt war, die Gefangenen über den Markt nach den Kasematten führten. Aber so ließ mich das Geschrei des Pöbels und das Gejohle der Gassenjungen, aus dem ich den Ausruf ›Jidde, Jidde!‹ (Jude) vernahm, den Kopf hinauslehnen, und hätte ich mich nicht an das Fensterkreuz gehalten, so wäre ich vor Schrecken zusammengestürzt; denn auf der vordersten Bank des Leiterwagens, die Hände kreuzweis mit Stricken gebunden, saß Er, der unglückliche Mann meiner armen Tante Guttraud.
Was soll ich Dir sagen, Kind? Der Schreck hatte mir fast die Füße gelähmt. Es war ein Alarm in der Stadt, ärger als bei einer Feuersbrunst. Vor den Thüren und aus den Fenstern schrieen die Nachbarsleute Schimpfwörter auf ihn und auf die Juden; ich ließ nur geschwind die Fensterrouleaux herab. Dein Vater kam vom Comptoir nach Hause, todtenbleich. Die ganze Gemeinde war von dem Schlage getroffen, denn wenn bei uns ein Jude etwas angestellt hat, so läßt man's gleich die ganze Gemeinde entgelten. Ich dachte nicht an die Gemeinde, als Dein Vater mir erzählte, der Unglückliche sei seit langer Zeit das Haupt der Hehler und Schwärzer gewesen. ›Arme Tante Guttraud!‹ war Alles, was ich hervorbringen konnte.
›Geh' hinüber!‹ sagte Dein Vater in seiner Güte.
Ich ging. Ich glaube, es war das erste Mal, daß ich in bloßem Kopf über die Gasse ging. Unterwegs wollte ich mir's zurechtlegen, was ich ihr zum Troste sagen sollte. aber mir fiel nichts ein als: Arme Tante Guttraud!
Als ich hinaufkam, fand ich die Mädchen in thränenloser wilder Verzweiflung; ihre bitteren Worte und Flüche widerten mich an. Die Mutter sei fort, wohin, wüßten sie nicht, zur Polizei, oder in's Gefangenhaus, oder zum Vorsteher der Gemeinde. Sie hätten es längst geahnt, obwohl Er das Sündengeld allein verschlemmt und nichts davon heimgebracht habe; sie hätten Ihn stets gehaßt. Aber die Mutter sei blind; sie dulde kein Wort über Ihn, nicht als ob sie Ihn liebe oder für besser halte als Er sei; nur die Unterwürfigkeit und die Treue sei bei ihr zur albernen Leidenschaft geworden. Nun seien sie Alle entehrt. Sie wollten lieber gleich in die Fulda springen. Mit Mühe bändigte ich ihr unheimliches Geschrei, als die Thür aufging und die Tante hereintrat.
Ich war erstaunt, sie so aufrecht und fast unverändert zu sehen; nur noch bleicher war ihr Gesicht; unter die großen braunen Augen hatten sich tiefe blaue Ringe gelegt und ihre Wimpern zuckten fortwährend wie von sichtbaren Pulsschlägen. Ich fiel ihr laut weinend um den Hals; die Mädchen verstummten.
›Meine gute Betty,‹ sagte sie mit ruhiger Stimme, ›es ist eine schwere Prüfung von Gott, aber was Gott thut, das ist wohlgethan.‹
›Das hat Gott gethan?‹ schrie die Älteste mit krampfhaftem, herzzerreißendem Lachen.
Die Mutter richtete sich mächtig auf; ihr großer Blick fiel vernichtend auf die Tochter. ›Verdammst du Ihn,‹ sprach sie, ›ehe Ihn unsere Saunim (Feinde) verdammen? Ist's ausgemacht, was Er gethan haben soll? Und hat Er's gethan, für wen hat Er's gethan? Um uns bessere Tage zu machen; weil Ihn eure wundgenähten Finger gedauert haben, hat Er die seinen – Ich will's nicht aussprechen. Gott hab' Erbarmen mit Ihm! Aber wenn's die Menschen nicht haben, wenn die Anderen Ihn, Gott soll M'schomer und mazil sein (Gott verhüte es), verdammen und im Stich lassen, ich bin sein Weib und hab' Ihm unter der Chuppe (Trauhimmel) Treue geschworen. Kein Wort will ich hören über ihn, oder so wahr ein Gott lebt, ich laß mich einsperren zu Ihm in die Kasematten.‹
›Tante Guttraud!‹ rief ich und mit Thränen der Bewunderung wollte ich ihre Hand fassen, aber sie zog dieselbe zurück.
›Was wunderst Du Dich,‹ sagte sie befremdet, ›als wäre da weiter was dabei? Sind wir Gojim (Helden), wo Einer auf sein eigen Blut einen Stein werfen kann? Ich bin, Gott sei Dank, ein jüdisch Weib und weiß, was geschrieben steht. Wie ich denke, denkt jede, die nicht newajisch haschem (Gotteslästerin) ist. – Red' mit Deinem Manne, Bettyleben. Er ist takif (beliebt) beim Bürgermeister. Beim Parneß (Gemeindevorsteher) bin ich umsonst gewesen; er sagt, sie dürfen sich nicht hineinmischen, sie sind froh, wenn man sie nicht hineinmischt, aber der Kommissär vom Gefangenhaus, den sie für den größten Rosche (Judenfeind) ausgeschrieen haben, hat mich angehört und hat mir erlaubt, daß ich Ihm eine Supp' bringen darf, so lang Er sitzt; so braucht Er wenigstens nichts treifes (Verbotenes) zu essen. Und nun sei mauchel (verzeih'), Betty! Ich will in die Küch', damit Er seine Supp' kriegt.‹
So ging sie hinaus. Ich verwies die Mädchen mit stummem Blick auf die fromme Dulderin, und als ich ging, sah ich sie in der dunklen Küche den Topf zusetzen, so sorgfältig, als bereite sie die Suppe für ein krankes Kind.«
Die Mutter hielt eine Weile in ihrer Erzählung inne und fuhr dann fort: »Du mußt nicht glauben, Kind, daß es aus ist; das Schrecklichste, das Herrlichste kommt erst jetzt.
Der Prozeß dauerte wochenlang; da ließ sich nichts machen gegen die Beweise und das eigene Geständniß. Es sind schlimme Dinge da aufgekommen, die böse Menschen gleich verbreiteten und noch vergrößerten, so daß sie der armen Frau nicht verheimlicht blieben. Doch alles das änderte nichts an ihrem Benehmen. Sie trug Ihm Tag für Tag das Essen in's Gefangenhaus, erhielt von dem Kommissär sogar die Erlaubniß, Ihn zu sehen und in Gegenwart von Zeugen mit Ihm zu sprechen. Da sprach sie denn mit Ihm, aber nur Worte des Trostes, der Milde, der Begütigung, und hätte auch ohne Gegenwart der Zeugen gewiß nicht anders zu Ihm gesprochen. Sonst wich sie nicht von ihrem Hause, empfing keinen Besuch und trug selbst die Stickereien, die so viel Thränen wie Perlen in sich schlossen, nicht mehr selbst zum Verkaufe. Nur am Abend von Roschhaschonu (Neujahrstag) ging sie wie sonst in die ›Schule‹. Die frommen, geputzten Weiber wichen ihr freilich aus, aber sie bemerkte es nicht und stand, wie sie immer pflegte, auf ihrer ›Stätte‹, ohne vom Gebetbuch aufzusehen. Nur bei den Owinu-Malkeinu's (Bitt- und Bußlitanei) bei den Worten: ›Gedenke, daß wir nur Staub sind!‹ hob sie den Blick so inbrünstig und durchdringend zum Himmel, als wolle sie die Barmherzigkeit Gottes für alle Staubgeborenen herunter holen.
Kurz nach Sukkos (Laubhüttenfest) wurde das Urtheil gefällt. Die Meisten kamen als ›Verführte‹ mit leichteren Strafen davon; der Rädelsführer wurde zu zehn Jahren in Eisen verurtheilt und, mich schaudert's jetzt noch, wenn ich es aussprechen soll, zur drei Stunden langen öffentlichen Ausstellung am ›Pranger‹.
Dieses Urtheil war ein Schreckensschlag für die ganze Gemeinde. Wäre Er kein Jude gewesen, sagte man allgemein, so wäre die Schande, die man seit zehn Jahren bei uns nicht erlebt hatte, gewiß nicht über Ihn verhängt worden. Aber die Regierung war damals zum Danke für die errungene ›deutsche Freiheit‹ sehr fromm und feierte den 18. Oktober nicht nur durch ein Freudenfeuer am ›Kratzenberg‹, sondern sie hätte auch gern auf dem Holzstoße dort alle Juden verbrannt. Dein guter Vater lief wieder zu dem Bürgermeister Schomburg, der ein freisinniger Mann war, nahm noch zwei Deputirte aus der Gemeinde mit, und sie beschworen den Bürgermeister, diese Schande von der Gemeinde abzuwenden; der Pöbel könnte sie zu einem Krawall ausbeuten und bei allen Juden die Fenster einschlagen. Der Bürgermeister zuckte die Achseln; er wußte zu gut, woher der Wind blies; ›da sei nichts zu machen; für die Sicherheit der Anderen werde schon Sorge getragen werden.‹ Nun brachte man unter den Verwandten hundert Thaler zusammen und gab sie dem Leibkammerdiener des Kurfürsten, der bei ihm sehr einflußreich war, damit er ein gutes Wort einlege; die hundert Thaler blieben bei ihm, aber es blieb auch bei dem entsetzlichen Richtspruche.
Was ich in jener schrecklichen Zeit gelitten habe, kann ich Dir nicht schildern. Stundenlang saß ich Nachts weinend im Bett auf, und nur ein Blick auf meinen Mann und meine Kinder gab mir die Ruhe, wieder einzuschlafen. Die Tante Guttraud staunte ich nur an, wenn es mir gelang, sie auf ihrem Gang in die Kasematten zu sehen und zu sprechen. Sie war so ruhig und gottergeben, als wäre es ein Blitzstrahl oder ein Todesfall, den der Allmächtige ohne menschliches Zuthun über sie verhängt hätte, und dem man sich schweigend beugen müßte. Die Mädchen verkrochen sich in ihre Kammer und ließen sich vor keinem Menschen sehen. Wir schickten täglich der Reihe nach das Essen hinüber, es kam aber fast immer unberührt in den Einsatzschüsseln wieder zurück.
Am nächsten Freitag Nachmittag sollte das furchtbare Schauspiel vor sich gehen. Damals stand das alte Rathhaus noch auf dem Markt, an der Ecke der Fischgasse, mit seinem hohen Schieferdach und seinen spitzen Thürmchen. Unter der Uhr stand der schöne Spruch: › Eins Manns Red' keins Manns Red', du sollst die Part hören beed'.‹ Ich weiß nicht, ob Du Dich noch daran erinnern kannst? Gerade gegenüber, wo die seligen Großeltern wohnten. Und gerade an der Ecke war ein Erkerthürmchen, zu gleicher Erde auf den Gassenstein stoßend, von außen vergittert, von innen mit einer drehbaren Wand versehen, an die gefesselt der arme Sünder mit entblößter Brust herausgeschoben ward, um den Schimpfwörtern der Menge und den Steinwürfen des Pöbels preisgegeben zu sein. Diese scheußliche Prozedur, die das menschliche Gefühl empört und die thierischen Leidenschaften aufstachelt, hatte die fromme evangelische Regierung wieder eingeführt, nachdem die gottlosen Franzosen sie bei uns abgeschafft hatten. Und da sollte nun Der ausgestellt werden, der, leider Gottes! zu unserer Familie gehörte, auf der kein Unthätelchen eines Makels jemals gehaftet hatte. Den Tag vergess' ich nie. Er war für die ganze Gemeinde ärger als Tischi-b'af (Zerstörung Jerusalems). Die Läden der Juden blieben alle geschlossen; auf der Straße war keiner zu sehen; selbst die Kinder behielt man aus der Schule zu Hause, damit ihnen die Gassenjungen kein Leid anthäten.
Ich muß Dir sagen, Kind, daß ich mir feig und elend vorkam, zu Hause zu bleiben und an mich zu denken, wo die arme Tante Guttraud in Kummer und Herzeleid vergehen mußte. Ist es ein gottgefälliges Werk, zu Sterbenden zu gehen, wie darf man da Eine allein lassen, deren Seele eines hundertfältigen Todes stirbt? Ich sagte es Deinem Vater. ›Thu', was Du willst!‹ sagte er, ›ich geb' schon auf die Kinder Obacht.‹ Ich nahm mein Tuch und lief hinüber, ohne mich umzusehen, aber ich fand die Thür verschlossen und rüttelte vergebens. Die Nachbarin, die Schneiderin Engelbrecht, kam auf die Stiege und sagte mir, die Mädchen hätten sich von innen eingeriegelt und die arme Madame sei fort. – Fort! fort! Wohin? ›Weiß man's denn,‹ sagte die Engelbrechtin achselzuckend, ›der Mensch in der Verzweiflung weiß nicht, was er thut. Herrje, die arme Frau dauert mich.‹ Ich schlich davon mit noch schwererem Herzen. Solltest Du's glauben, Kind, ich war im Stande, das, was die Frau gedacht, der Heiligen zuzutrauen. Ja wohl! Sie hat sich was angethan. Aber wie schämte ich mich, als ich erfuhr, was sie sich angethan hatte!
Die Stunde war gekommen; eine unzählige Volksmenge füllte den Markt; die brutale Masse freute sich auf das brutale Schauspiel und johlte Schimpflieder auf die Juden. Man hatte Polizeidiener und Militär aufgestellt und die nächsten Zugänge zum Rathhaus abgesperrt. Vom großen Fenster herab verlas ein Gerichtsschöffe das Urtheil, dem die Menge schallend zujubelte, und nun drehte sich die verhängnisvolle Wand und mit entblößter Brust, das Antlitz gesenkt, das der im Kerker verwilderte Bart noch mehr entstellte, ward der Unglückliche sichtbar. Ein neues, noch wilderes Geheul. Schon bückten sich Einzelne nach Kieselsteinen, die den Verbrecher treffen sollten, da – (Alles, was ich Dir hier erzähle, war im Wochenblättchen genau beschrieben), da öffnete sich die kleine Thür des Rathhauses in der Fischgasse und sie trat heraus, Tante Guttraud, in den von den Soldaten abgesperrten Raum und statt hindurch zu gehen, blieb sie am Eckstein vor dem Pranger stehen, hob sich am Eisengitter mit der dürren, nackten Hand empor und stand, frei und Allen sichtbar, dicht neben dem Mann auf der Schandbühne, dem Manne, dem sie unter der ›Chuppe‹ Treue geschworen hatte. So stand sie stundenlang, und nicht mit der Verzweiflungsmiene, wie man die Mutter unter dem Kreuz abgemalt sieht, nein, ruhig, als ob sich das von selbst verstünde, mit den Lippen nur leise zuckend, als ob sie innerlich bete, und die Augen auf Ihn geheftet, der zu ihr hinabsah, während dicke Thränen in seinen Bart fielen, die er sich nicht abtrocknen konnte.
Das war, wie wenn ein Blitz, nein, wie wenn ein Lichtstrahl von Gott auf die Menge gefallen wäre. Die Schimpfworte und das Geheul waren verstummt. ›Sein Weib! Sein Weib! Sein unschuldiges Weib!‹ rief eine Stimme gedämpft der andern zu, und so Viele schlichen sich davon, daß die Soldaten kein Gedränge mehr abzuwehren hatten. Der Pfarrer Matthias, der zum Abendsegen in die ›Brüderkirche‹ gehen wollte und der das Vorgefallene in der Marktgasse erfuhr, trat nahe heran und zog den Hut ab.
Wie ein Lauffeuer war's durch die ganze Gemeinde geflogen und nach und nach war Alles auf den Markt geströmt. Das Gefühl der Schande war aus allen Herzen gewichen und hatte dem des Stolzes Platz gemacht. Das Verbrechen war überall und zu allen Zeiten erhört; unerhört war nur das Martyrthum der ehelichen Treue. Das war ein stilles Bewundern, ein Kopfschütteln, ein Zunicken, ein Schluchzen der Rührung, und der alte Raf (Rabbiner) hob die Hände empor und rief laut: ›Gott, verzeih' mir's, so alt ich bin, weiß ich doch nicht, was man darüber für eine Broche (Segensspruch) machen soll.‹
Ich glaube immer, es war auf des Bürgermeisters Schomburg Einschreiten, daß die Zeit abgekürzt wurde und der Arme bald darauf den Blicken entschwand. Nun wollte die Menge das Spalier durchbrechen; sie hätten vielleicht auf den Händen die Tante Guttraud nach Hause getragen, aber sie war durch dasselbe Thürlein verschwunden, durch das sie eingetreten war. Man hat sie auch vergebens besuchen wollen, obwohl der Parneß und die ganze Gemeinde jetzt auf einmal den Weg zu ihr fanden. Sie war bei Ihm in seiner Zelle oder schloß sich mit den Ihrigen ein. Einmal fand ich sie nach vielen fruchtlosen Versuchen, und es zog mir die Kniee herab, als wenn man Kaurim fällt (der Fußfall am Versöhnungstag), aber sie sah mich mit strafenden Blicken an und sagte: ›Betty, was thust Du für eine Ewere (Sünde)! Was würde Deine Mutter, der Friede sei mit ihr! denken; sie war zehnmal besser als ich.‹
Als die Kurprinzessin auf die Welt kam, wurden Viele begnadigt und Vielen die Strafzeit abgekürzt. Da ist ›Er‹ auch herausgekommen. Aber in den feuchten Kasematten waren seine Hände und Füße gichtbrüchig geworden, und so lag Er den Rest seines Lebens darnieder, wie Du ihn noch gesehen hast, eingewickelt in Kampherkissen und von seinem treuen Weibe gepflegt wie ein krankes Kind. Die Familie steuerte eine bescheidene Jahresrente zusammen, die durch Vermittlung der Mädchen dem kleinen Haushalte zu gut kam.
Kurz nachdem Du unsere Stadt verlassen hattest, ward Er von seinen Leiden erlöst. Die Lebensaufgabe der Dulderin war vollendet; da sie nichts mehr auf Erden zu thun hatte, rief sie Gott bald darauf in seinen Vaterschooß zurück. Die älteste Tochter ist Lehrerin in einer Arbeitsschule geworden, die jüngere hat einen Landlehrer geheirathet.
Das ist die Geschichte der Heiligen, die unter diesem Steine ruht.«
Die Mutter erhob sich; hinter dem Eichenwäldchen sank die Sonne und sendete einen letzten Strahl, der sich in dem thränenfeuchten Auge der Mutter spiegelte. »Gibt es noch solche Weiber in Israel?« fragte sie.
Ich sah sie schweigend an und drückte ihr die geliebten Hände.