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Rede zur Feier des Geburtstages Friedrich des Großen

21. Januar 1886. Sitzungsberichte d. K. P. Akademie d. Wissenschaften 1886 S. 39-46.

Der große Herrscher, dessen Gedächtnis nicht bloß in unserem akademischen Kreise und seiner statutenmäßigen Feier, sondern in der lebendigen Empfindung der deutschen Nation fortlebt und leben wird, mochte wohl sich selbst und seinen Zeitgenossen eher gekommen scheinen, um Deutschlands einheitliche Entwickelung zu zerstören als um sie zu erfüllen. Im schärfsten Gegensatz trennte der Teil sich vom Ganzen, der gekrönte Markgraf vom heiligen Reiche; der ständischen Libertät, der strengen Abgrenzung der Einzelrechte gegenüber entwickelte sich schroff und herrisch die autonome Fürstengewalt, die keine Schranke kennt als das eigene Pflichtgefühl; die konfessionelle Orthodoxie, bis dahin das Fundament der katholischen wie der protestantischen Staatsentwickelung, wich der indifferenten Toleranz; in Handel und Wandel, in Literatur und Kunst bewegte auf neuen Wegen sich eine junge Welt, mehr bestimmt durch die Einwirkung der französischen und der englischen Zeitgenossen und durch die Nachwirkung der römischen und der griechischen Kultur als durch die Vergangenheit der eigenen Nation, und der herrlichen Leistungen der Vorfahren beinahe vergessend. Berlin entstand, nicht auf den Spuren Nürnbergs; so notwendig jenes die Residenz seiner Fürsten wie dieses freie Reichsstadt, und doch nicht minder wie dieses durch die Selbständigkeit und die Eigenart seiner Bürger getragen, die im Unglück zuverlässigste, die treueste, die freieste und die mächtigste Bürgergemeinde der Nation.

Aber diesmal wurde mit der gerade laufenden Entwickelung nur gebrochen, um sie, die als solche unmöglich geworden war, in anderer Weise wiederaufzunehmen. Das achtzehnte Jahrhundert sah die Umwandlung des Markgrafen von Brandenburg in den König von Preußen, das unsrige die des Königs von Preußen in den Kaiser von Deutschland. Berlin ist geworden, was das alte Deutsche Reich nie gehabt hat und nicht haben konnte, des neuen Reiches Hauptstadt. Das durch selten günstige Fügung unserem Herrscher und seinem Volke beschiedene Fest, welches wir vor wenigen Tagen gefeiert haben, war es ein preußisches oder ein deutsches? wer hat die fünfundzwanzigjährige Regierung des Königs von Preußen anders feiern können als in dem Gedanken, daß eben er der erste Kaiser von Deutschland ist, daß, was in der Zeit der Ottonen und der Zeit Luthers nur halb gelang, jetzt sich so weit erfüllt hat oder erfüllen wird, als es nach dem Wechsel der Jahrhunderte noch erfüllt werden kann? Ahnungsvoll fand sich einst das deutsche Gemeingefühl wieder zusammen in dem Stolz auf den Helden des Siebenjährigen Krieges; jetzt gehört er ganz der deutschen Nation und ist ein bester Teil ihrer Vergangenheit geworden.

König Friedrich schließt die Memoiren seines Hauses mit dem Hinweis darauf, daß wer unter dem Eichbaum Schatten findet, auch die Eichel ehren möge; in diesem Sinne wird es gestattet sein, eben an dem heutigen Tage zurückzublicken auf unseres Volkes Anfang. Unter die wenigen Glücksfälle, die unserer historischen Überlieferung beschieden waren, zählt es, daß wir besitzen, was kein anderes Volk besitzt, eine lange vor dem Beginn unserer eigenen literarischen Civilisation verfaßte, aus einem älteren Kulturkreise übrig gebliebene Aufzeichnung über die Eigenart der damaligen Germanen; eine Arbeit, etwa wie wenn ein Phönikier uns Hellas beschrieben hätte zu der Zeit, wo das Königsschloß von Tirynth gebaut ward oder ein Grieche aus Kyme uns berichtete über das Rom der zwölf Tafeln. Es ist kaum zu tadeln, daß die Germania des Tacitus von unseren Forschern nicht mit der gleichen kühlen Unbefangenheit betrachtet wird wie andere Überlieferungen; nicht gern gestehen wir es uns ein, daß auch an diesem unschätzbaren Kleinod recht schwere, dem Gefühl ebenso störende wie die Brauchbarkeit beeinträchtigende Mängel haften. Indes nicht bei diesen will ich heute verweilen, sondern nur mit einigen Worten den Platz bezeichnen, welcher diesem Schriftwerke in der Literatur seiner Zeit zukommt.

Die Frage, was Tacitus mit der Germania gewollt hat, kann nicht beantwortet werden, ohne daß man vorher sich vergegenwärtigt, was seine Schriftstellerei überhaupt bezweckt; und darüber laufen meist nur halb richtige Vorstellungen um. Nichts ist evidenter, als daß sein Motto sine ira et studio wohl in individueller Beziehung wahr ist, denn er war ein ehrlicher Mann, aber diejenige Liebe und derjenige Haß, die aus der sittlichen Empfindung entspringen, die rechten Musen dieses antiken Schlosser sind und eben bei ihm nicht etwa auf Klassen oder Parteien, sondern durchaus auf Personen sich richten. Die Sympathie der vielen Leser und die Antipathie der wenigen Forscher für und gegen seine Eigenart ruhen eben auf diesem Grunde. Aber ein Tendenzschriftsteller ist er nicht, wenigstens nicht in dem Sinne, daß er einer einzelnen Staatsform oder einer politischen Partei besondere Gunst zuwendet oder gar Gedanken praktischer Reform zwischen seinen Zeilen zu finden sind.

Sehr mit Unrecht hat man ihn wohl einen aristokratischen Oppositionsmann genannt. Wer ihn aufmerksam liest, inbesondere die Rückblicke auf die Vergangenheit Roms erwägt, wird vielmehr finden, daß er für Marius wie für Sulla gleichmäßigen Tadel hat und seine beste Staatsform vielmehr beruht auf der Durchdringung des demokratischen, des aristokratischen und des monarchischen Staatswesens und der dadurch herbeigeführten Vereinigung der guten und Niederhaltung der üblen Elemente eines jeden einzeln genommen. Aber wenn diese Anschauung nichts ist als das schon von Polybios ausgeführte und in den römischen Kreisen ein für allemal vorwaltende konstitutionelle Ideal, so ist es Tacitus eigen, oder sagen wir vielmehr der leidige Vorzug der durch den Zusammenbruch der Republik erzogenen Generationen, dies Ideal als solches zu erkennen in seiner praktischen Undurchführbarkeit. ›Die also geordnete und zusammengegliederte Verfassungsform‹, sagt er selbst, ›ist es leichter zu preisen als tatsächlich herzustellen, oder, wenn sie ja hergestellt wird, ist sie nicht von Dauer.‹ Von diesem Grundgedanken entfernt der Historiker auch in der Darstellung sich nirgends: ein langsames Aufblühen, ein kurzer Moment der Blüte, ein langes und schwer zu tragendes Verwelken – das ist seine Anschauung von der Geschichte seines Landes. Hat er für die Massen und ihre Aspirationen nur die exklusive Verachtung der höheren, vornehmlich auf ihre geistige Bildung stolzen Kreise, so findet sich ebensowenig eine Hindeutung auch nur darauf, daß er die nominelle Mitherrschaft des damaligen Senats politisch ernsthaft genommen hat. Als praktisch möglich erscheint ihm nichts als die Monarchie, und eine andere Schranke gegen deren Mißbrauch, als die durch die Individualität des Herrschers gegebene, gibt es für Tacitus nicht. Insofern ist er schlechterdings und unbedingt ein Monarchist; und es ist nur ein Ausfluß seiner ernsten monarchischen Gesinnung, daß er über den schlechten Monarchen mehr als über jede andere Persönlichkeit die volle Schale seines sittlichen Zornes ausgießt.

Aber Liebe und Neigung kommen bei Tacitus' monarchischer Gesinnung nicht ins Spiel. Die Legitimitätsempfindung, welche dem Julischen Hause gegenüber eine Rolle in der Geschichte gespielt hat, hat sich auf die folgenden Dynastien wenig oder gar nicht übertragen und Tacitus wenigstens ist sie völlig fremd; die Katastrophen unter Nero und Domitian erscheinen ihm als der Bankerott des Systems der monarchischen Erbfolge. Selbst die – durch die seltsame Ordnung des römischen Prinzipats allerdings in sich selbst untergrabene – Legitimität des zeitigen Herrschers für seine Lebensdauer ist für diesen Monarchisten viel mehr eine Macht- als eine Rechtsfrage. Die Behauptung, daß die Anhänger von zwei gleich schlechten kaiserlichen Rivalen daran gedacht hätten beide durch Übereinkunft gleichzeitig zu beseitigen, erklärt er deshalb für wenig wahrscheinlich, weil die Zeiten für einen solchen tapferen Entschluß zu weit heruntergekommen seien; und indem er von dem Herrscher Rechtschaffenheit und Tüchtigkeit fordert, zieht er daraus ziemlich unverhohlen die bedenkliche Konsequenz, daß derjenige Kaiser zu beseitigen sei, der das Erforderliche nicht leistet. Damit im Einklang erkennt er die einzig mögliche Garantie der persönlichen Tüchtigkeit des Herrschers in dem Aufgeben der Erbfolge und in der Bestellung des Nachfolgers durch den zeitigen Herrscher nach freier Wahl, eben in dem System, welches in der Tat mit Kaiser Nerva zur Herrschaft kam und dem römischen Staat beinahe ein Jahrhundert der Stabilität verschafft hat. Tacitus ist Monarchist, aber aus Not, man könnte sagen aus Verzweiflung. Mit erschreckender Klarheit erkennt er nicht bloß den Verfall des Reiches, sondern auch dessen Unabwendbarkeit. Es geht zu Ende mit Rom oder vielmehr mit Italien; dem Anschwellen des hauptstädtischen Pöbels geht die Entvölkerung des Landes zur Seite; für die Entwickelung der Provinzen hat er kein Auge oder, vielleicht richtiger gesagt, kein Herz. Nirgends ist dies deutlicher ausgesprochen als eben in der Germania; ›möchten‹, ruft er aus, ›die Germanen fortfahren sich untereinander zu befehden; denn das Verhängnis unseres Staates naht heran und besseres kann uns das Schicksal nicht gewähren als dauernde Zwietracht unserer Feinde.‹ In jener merkwürdigen Auslassung über sich und seine Zeit und über die Stellung des Geschichtschreibers früher und jetzt weist er hin einerseits auf die gewaltigen Völkerkämpfe und die mächtigen ständischen Konflikte der Republik, andererseits auf die durchaus mit den alten Lorbeeren sich bescheidende Gegenwart, die geringen Kriege, die geringeren städtischen Händel, und wenn er die Geschichte auch der Kaiserzeit der Darstellung nicht unwert erklärt, so nennt er sie doch mit bitteren Worten eine enge und ruhmlose Aufgabe. Für diese Zeit des äußeren und inneren Verfalles ist der Ausdruck die Monarchie, nicht minder unabwendbar wie der Verfall und nicht minder unerfreulich. Sie ist der Gegenwart unentbehrlich wie die Krücke dem Greise; aber mit der schmerzlichen Sehnsucht nach der unwiederbringlich verlorenen Jugend trägt dies Geschlecht die Bürde seines Alters und grollt dem Stabe, der es stützt.

Eine der Konsequenzen dieser Zustände, und nicht die am wenigsten leidige, ist die Gleichgültigkeit gegen die politischen Verhältnisse der Gegenwart, welche die gesamte Kaiserliteratur beherrscht. Unter der Republik finden wir das Gegenteil. Von dem älteren Cato und den Gracchen an bis hinab auf Cicero und Cäsar, Catull und Sallust ist die Politik das Lebenselement der römischen Schriftstellerei. Aber mit einem Schlage wird es dann anders, sicher nicht durch äußeren Druck, sondern durch den schlimmen Ekel, den die Bürgerkriege hinterließen, und die schlimmere Teilnahmlosigkeit an den öffentlichen Dingen, welche das Kaiserregiment erzeugte und begünstigte. Gelegentlich fanden wohl noch, wenigstens unter der ersten Dynastie, Reminiscenzen aus der republikanischen Epoche literarische Vertretung, und zu keiner Zeit fehlte es besonders in der griechischen Reichshälfte an Übungen im schlechten Stil, wie sie zum Beispiel der armenische Krieg des Verus massenhaft hervorrief. Aber ernstlich sich um die Dinge zu kümmern wie sie waren, war nicht mehr zeitgemäß; nicht die Diskretion allein schloß den Freunden des Mäcenas und dem Minister Neros darüber den Mund; das politische Lied und nicht minder die politische Prosa fanden kein Publikum mehr. Dies gilt auch von Tacitus, obwohl er die Geschichte seiner Zeit schreibt. Er verachtet selber seine enge und ruhmlose Arbeit; der Inhalt seines Werkes ist ihm gleichgültig oder widerwärtig. Es gab Fragen genug selbst in der greifbareren äußeren Politik, zu denen der Historiker Stellung nehmen mußte; Tacitus hat es weder in Britannien noch in Armenien getan. Tat er es in der Germania? Der Moment, in dem er schrieb, legte dies nahe genug. Ebendamals befand sich der neue Kaiser Traianus, der wenigstens als Offizier seine Proben abgelegt hatte, am Rhein und war beschäftigt, die von Domitianus begonnene Organisation des rechtsrheinischen Landes zu vollenden; mochte man auch in Rom, als die Germania erschien, über seine Tätigkeit am Rhein noch wenig wissen, nichts lag näher als auf diese selbst hinzuweisen. Es ist denn auch kürzlich die Hypothese aufgestellt worden, daß die Germania zur Empfehlung dieser kaiserlichen Arbeit abgefaßt sei. In der Tat kann nichts falscher sein. Eine Schrift mit dieser Richtung müßte über den militärischen Stand der Dinge, die Truppenlager, die Grenzbefestigungen, die Machtstellung der freien Germanen doch einiges berichten; mochten Domitians Veranstaltungen in Schatten gestellt werden, so war es geradezu unvermeidlich des Nachfolgers und der an ihn geknüpften Hoffnungen zu erwähnen. Nichts von alledem geschieht. Traianus wird nur beiläufig bei einer chronologischen Berechnung erwähnt und selbst von seinem Verweilen am Rhein ist mit keiner Silbe die Rede. Die freien und die unterworfenen Germanen werden in wesentlich gleicher Art abgehandelt; die an die Cimbern geknüpfte kurze Übersicht der zweihundertjährigen germanischen Kriege findet mit dem gegenwärtigen Zustand sich mittelst einer Phrase ab; die ganze Schrift macht den Eindruck einer rein geographischen Abhandlung. Natürlich hebt der Verfasser, wie jeder, der ein unentwickeltes Volk schildert, die Differenzpunkte dieser ursprünglichen Sitten und der civilisierten Lebensformen oftmals hervor, und wenn solche Darstellungen überhaupt den Hinweis auf die Nachteile und die Mißbildungen der Kultur nahe legen, so werden bei Tacitus' pessimistischer Weltanschauung diese ausgesprochenen oder stummen Parallelen besonders häufig zu Kritiken des römischen Wesens und Unwesens. Aber lieben tut der Italiener keineswegs das rauhe, kalte, unwirtliche, nur für den Einheimischen erträgliche nordische Land mit seinem elenden Feldbau ohne Wiesenbewässerung und Oliven- und Rebenzucht, mit seinen kleinen Rindern, seinen schlechten Kleppern, seinem entsetzlichen Gerstenwein; und mit dem vollen Selbstgefühl der überlegenen Civilisation steht der Hauptstädter diesen Barbaren gegenüber, die entweder schlafen oder raufen, die je ernster die Beratung ist, desto tieferen Trunk tun, von denen höchstens die Chatten ›für Germanen‹ verständig und geschickt genannt werden dürfen und Disziplin und Offiziere kennen. Wie oft auch Tacitus, die Germanen lobend, die eigenen Landsleute tadelt, keineswegs hat er, wie man gesagt hat, seinen Landsleuten in den Germanen das Ideal der Sittenstrenge oder gar das Ideal der Freiheit schildern wollen. Sittenstrenge im allgemeinen den Germanen beizulegen hat Tacitus sich mit gutem Grunde gehütet; und was er von der Freiheit der Germanen berichtet, erscheint ihm vielmehr als Zuchtlosigkeit und wird keineswegs belobt. Warmes Lob der Barbaren und, was damit zusammenfällt, bitterer Tadel des römischen Wesens tritt nur in nicht eigentlich politischen Fragen hervor: am schärfsten, sehr bezeichnend für Tacitus, in der Behandlung der würdigen Stellung der Frauen und der innigen Ehegemeinschaft, aber auch in Betreff des Kindersegens, der Götterverehrung ohne Bilderdienst, der Niederhaltung der freigelassenen Leute, der Einfachheit der Bestattung und sonst. Wer die Germania im Zusammenhang der Literatur der Kaiserzeit überhaupt und der Schriftstellern des Tacitus insbesondere betrachtet, wird ihr eine bestimmte politische Tendenz nicht beilegen können und eine moralische nur in dem Sinne, wie sie allen Werken des bedeutenden Mannes zukommt.

Wohl aber möchte nach einer anderen Seite hin die literarische Stellung dieser Schrift einer näheren Bestimmung fähig sein. Ich meine das Verhältnis der geographischen zu der historischen Schriftstellern, welches im Altertum ein anderes war, als es heute besteht. Die römische Annalistik schließt allerdings zusammenhängende geographische Darlegungen aus; diesem Gesetz ist Livius gefolgt, sowie in den Annalen Tacitus selbst, und Abweichungen davon sind überhaupt meines Wissens nicht erweislich. Daneben aber finden wir den historischen Schriften der Griechen und auf ihren Spuren auch der Römer häufig große geographische Abschnitte eingelegt, die mit der eigentlichen Erzählung nur lose oder gar nicht verknüpft sind. So hat Polybios, indem er diejenigen Vorgänger tadelt, die durch solche Auseinandersetzung den Faden der Erzählung unterbrechen, eines seiner vierzig Geschichtsbücher, das vierunddreißigste, geradezu als Chorographie gearbeitet. In der von Polybios getadelten Weise muß Sallustius seine Historien geschrieben haben; und Ammians Geschichtswerk umfaßte in seiner Vollständigkeit die gesamte Reichsgeographie abschnittsweise verteilt. Tacitus selbst hat zwar, wie gesagt, das annalistische Schema festgehalten. Aber daß die antike Geschichtschreibung, anders als die heutige, die Erdbeschreibung in sich aufzunehmen hatte, erkennt in der Theorie auch er an: da, wo er die Vorzüge der republikanischen Historiographie vor der der Kaiserzeit schildert, rühmt er an jener, daß sie ›die Lage der Länder, die Wechselfälle der Schlachten, das ruhmvolle Ende der Feldherren‹ berichte. Ist hier nicht die Brücke geschlagen zwischen seinem eigentlich historischen Werk und der Germania? Seine Historien sind, wie die Geschichtsbücher des Altertums überhaupt zu sein pflegen und für dieses der erhaltene Anfang insbesondere beweist, gedacht als Fortsetzung der älteren gleichartigen Werke. Für die Chorographie kamen demnach vor allem die neuen Kriegsschauplätze in Betracht, insonderheit also Germanien; und vom Standpunkt der Komposition aus konnte Tacitus wohl, ähnlich wie Polybios, es vorziehen, diese Chorographie, statt sie zerstückelt einzuschalten, lieber zu sondern und die Beschreibung Germaniens als abgesonderte Schrift den Historien voraufzuschicken, von denen ein beträchtlicher Teil auf deutschem Boden spielt. Damit steht es nicht im Widerspruch, daß in denselben Historien der Erzählung des Jüdischen Krieges eine kurze historisch-geographische Einleitung voraufgeht und daß, soweit nach dem Agricola sich urteilen läßt, der Bericht über dessen Unterwerfung Britanniens durch eine ähnliche Einleitung eingeführt ward; was über Palästina und Britannien zu sagen war, ließ sich leichter in die Erzählung einlegen als die mannigfaltige und an sehr verschiedenen Punkten eingreifende Schilderung von Land und Leuten Germaniens.

Mag nun aber diese bescheidene, übrigens keineswegs ganz neue Auffassung des merkwürdigen Buches von der Herkunft und den Sitten der Germanen das Richtige treffen oder eine der zahlreichen sonstigen Annahmen, mit denen diese weder an Tiefe noch an Glanz sich messen kann, immer werden wir Deutschen uns in der Freude und in dem Stolze vereinigen, daß einer der besten Römer, als er seiner Nation Sonne niedergehen sah, eine Schilderung der unsrigen entworfen hat, die, wenn nicht im heiligen römischen, so in dem neuen deutschen Reich sich nach Jahrtausenden zu großem Schaffen hat zusammenfinden dürfen und deren Zukunft auf lange hinaus die Geschicke der Welt noch mehr bedingen wird, als ihre zweitausendjährige Vergangenheit es getan hat.



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