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Der 6. August 1930 brach das große weiße Schweigen. Zwei norwegische Walroß- und Seehundsjäger fanden im Eise den Ort, wo Andrée, Strindberg und Fränkel den Todeskampf ausgekämpft. Die beiden schlichten Männer begriffen sofort, was sie gefunden. Ob sie und ihre eismeererprobten Jagdgenossen verstanden haben würden, den Fund sachgemäß zu bergen, ohne die vermoderten Reste vollends zu vernichten, kann bezweifelt werden. Doch das Schicksal hatte es gefügt, daß an Bord des Fangfahrzeuges, dem sie angehörten, sich wissenschaftlich gebildete Forscher befanden, die Kenntnis und Erfahrung darin besaßen, wie mit solchen Funden umzugehen ist. Das Schicksal selber hat dafür gesorgt, daß die Reste der kühnen Ballonfahrer nicht nur gefunden, sondern auch erhalten wurden und daß uns Überlebenden kund ward, welch heldenmütiges Ende die drei mutigen Pioniere der Polarforschung fanden.
Seit das Königreich Norwegen mit Zustimmung des Völkerbundes im August 1925 sich Spitzbergen und die benachbarten Inseln einverleibte, unterhält es ein staatliches Forschungsinstitut für »Svalbard- und Eismeerforschungen« (die neuen Gebiete erhielten zusammengefaßt den alten, schon in der Edda erscheinenden Namen Svalbard, der auf deutsch etwa »kühles Ufer« bedeutet). Dieses Institut regte im Herbst 1928 eine wissenschaftliche Expedition nach Franz-Josephs-Land und den angrenzenden Gebieten an. Der Staat bewilligte hierfür einen Betrag von 12 000 Kronen, ein norwegischer Mäzen stiftete seinerseits 3000 Kronen. Da man mit 15 000 Kronen kein eigenes Forschungsschiff chartern kann, suchte das Institut seine Wissenschaftler auf einem der vielen Fangfahrzeuge unterzubringen, die alljährlich von Norwegen zum Norden auf Walroß- und Seehundsjagd gehen. Eine Anzahl Schiffseigner war bereit, sich auf diese Ordnung einzulassen. Die Wahl fiel auf das in Aalesund beheimatete Schiff »Bratvaag«. Die »Bratvaag« sollte ihrem gewöhnlichen Erwerbe nachgehen, zugleich aber den Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, die beabsichtigten Untersuchungen anzustellen. Der Reeder erhielt eine Entschädigung von 7000 Kronen. Sie stellte in der Hauptsache eine Schadloshaltung dar für den Fangausfall, den die Besatzung durch die Dispositionen der Wissenschaftler voraussichtlich erleiden würde. Mit Hinblick auf später entstandenen Streit muß erwähnt werden, daß der Besatzung Schweigepflicht auferlegt wurde bezüglich alles dessen, was sie von der Arbeit der Wissenschaftler sehen würde.
Die »Bratvaag« verließ Aalesund am 23. Juli. Schon am 4. August war König-Karls-Land erreicht. Es hätte nun eigentlich direkt auf Franz-Josephs-Land Kurs genommen werden sollen. Doch erwiesen sich die Eisverhältnisse dieses unnatürlich warmen Polarsommers so günstig, daß die Wissenschaftler den Umweg über Storöya und Hvitöya beschlossen. Beide Inseln waren sonst im allgemeinen so stark von Eis blockiert und eine Landung auf ihnen so schwierig, daß sie bis dahin für unerforscht gelten konnten. Den guten Sommer 1930 hoffte man jetzt ausnutzen zu können. Diese Zuversicht trog auch nicht. Sowohl die Storöya erwies sich als zugänglich wie auch die am 5. August erreichte Hvitöya. Die Wissenschaftler gingen an Land und fanden alles mögliche, was sie sehr befriedigte, was aber im Zusammenhange dieses Buches nicht weiter erheblich ist.
Nach Rückkehr der Wissenschaftler hätte die »Bratvaag« nun eigentlich weitergehen können, aber sie blieb noch, weil sich in der Bucht, in der man lag, Walrosse zeigten. Nun wollte selbstverständlich auch die Fangmannschaft zu ihrem Rechte kommen. Am Morgen des 6. August wurden die Fangboote ausgesetzt, und die Jagd begann. Von dem guten Ergebnis braucht hier nur erwähnt zu werden, daß das eine Fangboot, besetzt mit fünf Mann, vormittags zwei Walrosse erlegt und an Land geschleppt hatte, wo die Beute in üblicher Weise zerlegt wurde. So eine Walroßjagd ist eine aufregende und auch ermüdende Angelegenheit. Auch in kälteren Sommern, als 1930 einer war, rinnt dem Jäger bald der Schweiß von Stirn und Körper; und bekommt der Körper wieder Ruhe, so meldet sich der Durst. So ging es auch hier. Und da man nichts Trinkbares bei sich hatte, wurden zwei von den fünfen beauftragt, nach Trinkwasser zu suchen. Wo Eis ist und die Sonne scheint, gibt es ja immer Schmelzwasser. Dies ist salzfrei und frisch, also trinkbar.
Man befand sich hier an einer niedrigen, flachen, wenngleich felsigen und steinigen Landzunge. In den Vertiefungen zwischen den Steinblöcken lag fast überall noch Schnee. Die beiden Männer – Salen und Tasvik mit Namen – gingen etwas landeinwärts, dem Rande des Eises zu, das nicht bis hierher reichte. Dort hofften sie am ehesten Schmelzwasser zu finden.
Als sie sich etwa einhundertfünfzig Meter vom Ufer befanden, bemerkte Salen etwas aus dem Schnee herausgucken, was kein Stein sein konnte. Beide gingen näher und erkannten nun, daß dort ein Boot im Schnee vergraben lag, schief, mit der Backbordseite oben, die eben ein klein wenig aus dem zusammengeschmolzenen Schnee herausragte und sichtbar war. Spuren von Menschen in jenen völlig einsamen, öden Gegenden erregen stets die Aufmerksamkeit. Als Salen und Tasvik den Fund genauer betrachteten, sahen sie einen Bootshaken herausragen. Sie zogen ihn heraus. Und der Bootshaken redete zu ihnen! Redete laut und deutlich, denn er trug die eingravierte Inschrift: »Andrées Polarexpedition 1896«!
Das war ein Fund! Vergessen waren Durst und Wasser. Über Stock und Stein sprangen die beiden zum Boote zurück und wiesen dessen Führer, dem Schützen Severin Skjelten, den mitgenommenen Bootshaken. Skjelten ließ sich sogleich zur Fundstelle führen. Dort fanden sie jetzt sogar ein Buch. Eingefroren zwar, ein Eisklumpen, aber immerhin ein Buch! Auch Bücher reden! Können erzählen von Dingen, die weit, weit zurückliegen! Und wie ein Blitz kam den dreien die Erkenntnis: Hier enthüllt sich ein Geheimnis des großen weißen Schweigens!
Sie kehrten zum Strande zurück, nahmen das Buch mit. Buch und Bootshaken konnten sie ihrem Vorgesetzten sogleich vorzeigen, denn Kapitän Eliasson kam gerade mit der Dampfpinasse, um die erlegten Walrosse abzuschleppen. Nur ein Blick auf den Fund, dann sauste auch er zum Fundort hinüber. Die Walrosse fortzuschaffen, überließ er der Mannschaft allein.
War in diesen Minuten der Schnee abermals und so schnell zusammengeschmolzen, daß schon wieder vorher nicht sichtbar Gewesenes ans Tageslicht gekommen? Oder besaß Kapitän Eliasson soviel schärfere Augen als Schütze Skjelten oder die Matrosen Salen und Tasvik? Genug – der Kapitän erblickt einen Toten! Dick eingemummelt, im Schnee liegend, mit dem Rücken gegen eine glatte Felswand gelehnt, die Beine zum Teil vom Schnee begraben.
Hier liegen nicht nur Spuren von der Andrée-Expedition – hier liegen die Toten selber! Und Kapitän Eliasson, als wissenschaftlich gebildeter Mann, ist sich sofort klar darüber: Hier darf keine Laienhand zupacken! Hier steht das »Svalbard- und Eismeerforschungs-Detachement«, das er an Bord hat, plötzlich vor einer gänzlich unvermuteten neuen Aufgabe! Vor einer Aufgabe, für deren Lösung den drei Wissenschaftlern eine Welt danken wird!
Dr. Gunnar Horn, der Leiter der kleinen Expedition, dem man an Bord das gefundene Buch zeigt, erkennt in ihm auf den ersten Blick das Observationsbuch der Andrée-Expedition. Nun entfällt jeder Zweifel. Geologe, Botaniker und Zoologe müssen sich plötzlich als Archäologen betätigen. Die Mannschaft bekommt Werkzeuge aller Art in die Hand gedrückt – Spaten, Schaufel, Hacke, Beil, Hammer, Brecheisen, und was sonst noch dienlich erscheinen kann. Dann begibt sich alles an Land. Schweigend werden die einhundertundfünfzig Meter zurückgelegt, schweigend steht alles vor den stummen Zeugen einer gewaltigen Polartragödie. »Sie wissen ja«, hat Horn später einem Zeitungsmanne gegenüber ausgesprochen, »wenn man dort oben im Eis liegt, so macht es das Milieu, daß man alles ziemlich ruhig nimmt. Es bemächtigte sich unser eine feierliche Stimmung. Wir hatten ja nicht erwartet, etwas Derartiges zu finden.«
Der Tote war unschwer aus dem Schnee zu befreien. Aber es war ein Leichnam ohne Kopf! Die Kleidung war gut erhalten bis auf die Schneestiefel, die stark abgenutzt waren, auf denen also offensichtlich lange Märsche ausgeführt waren. In der Jacke fand man ein kleines eingesticktes Monogramm: den Buchstaben A. Hieraus schloß man, Andrées Leiche vor sich zu haben; eine Annahme, die sich später bestätigte. Weiter fand man in einer inneren Tasche ein Tagebuch, in dem jedoch nur wenige Seiten beschrieben waren, einen Bleistift und einen Schrittmesser. Rings um den Toten lagen eine Menge Gebrauchsgegenstände. Dicht bei ihm seine treue Flinte mit einem noch uneröffneten Kasten Munition, der Primuskochapparat und ein Topf mit Speiseresten. Der Primuskocher hat die dreiunddreißig Jahre, die er in Schnee und Eis gelegen hat, ohne Schaden überlebt. Sogar das Petroleum, das er enthielt, war nicht verdunstet und auch nicht verdorben. Dr. Horn setzte die kleine Zuführungspumpe in Gang, und sofort entsprang dem Brenner ein dünner Strahl Petroleum! Und beim Öffnen des Ventils entwich vergastes Petroleum in beträchtlicher Menge.
Als die Leiche geborgen war und die vielen Einzelgegenstände aufgelesen waren, fiel einem der Männer auf, daß etwas abseits in einer Kluft im Gestein Felsstücke auf einem Haufen lagen, die offensichtlich zusammengetragen und nicht von der Natur so geschichtet waren. Man hob die Steine vorsichtig auf. Da kam ein zweiter Toter ans Tageslicht! Bekleidet, nur noch Skelett. So fand man Strindberg, den Andrée so sorgsam bestattet hatte.
Die Bergung dieses Skeletts war schwierig. Es war ganz ins Eis versunken. Man mußte es geradezu heraushauen. Beide Toten wurden nun zum Boot geschafft.
Dann kam die mühsamste Arbeit: das Ausgraben des Bootes. Auch dieses war eingefroren und festgefroren. Nach stundenlanger Arbeit war es vom Eise befreit, aber nur äußerlich. Eis hatte sich auch in seinem Innern festgefroren. Hätte man es herausmeißeln wollen, wäre das schon schwer beschädigte Boot vollends zerbrochen. Auch erblickte man, eingefroren ins Eis, nicht nur eine Menge Gerät, sondern auch Knochenreste. Nichts davon durfte beschädigt werden – am wenigsten die Knochenreste, denn in ihnen vermutete man die letzten Reste des toten Fränkel. Daß Fränkel ein Stück abseits unter Eis und Schnee lag, ahnten Horn und seine Gefährten ja nicht, wie auch nicht das Geringste davon zu sehen war. Das Eis im Boot ließ man also unangerührt. Auftauen würde es ja sowieso von allein. Es machte das Boot freilich unendlich schwer. Die Männer mußten sich gewaltig plagen, bis sie es am Ufer hatten und in ihrem eigenen Boot unterbringen konnten, und das Boot der »Bratvaag« sank durch all diese Last so tief ins Wasser ein, daß sein Bord nur wenige Zoll herausragte.
Am Todeslager errichteten Horn und die Männer der »Bratvaag« eine »Warte«: so nennt der Norweger eine aus zusammengetragenen Steinen aufgeschichtete Pyramide. Um sie von weit her sichtbar zu machen, wurde inmitten der Warte eine hohe Segelstange aufgepflanzt. Unter die Steine der Warte war, geschützt in einer Flasche verwahrt, eine Urkunde gelegt worden, die in englischer Sprache folgenden Wortlaut hat:
An dieser Stelle fand die norwegische Franz-Josephs-Land-Expedition, an Bord der »Bratvaag« von Aalesund, Schiffer Eliasson, die Reste der schwedischen Andrée-Expedition.
Hvitöya, 6. August 1930.
Gunnar Horn.
Für Dr. Horn entstand nun die Frage, ob die »Bratvaag« mit den Toten an Bord die Fahrt nach Franz-Josephs-Land fortsetzen oder erst umdrehen und die Funde nach Hammerfest oder Tromsö bringen sollte. Umkehr hätte bedeutet, auf Jagdbeute zu verzichten, Reeder und Mannschaft des Schiffes also um Gewinn und Verdienst zu bringen, wofür diese – mit Recht – Schadenersatz gefordert hätten: so »beiläufig 40 000 Kronen«! Doch wäre Horn gern aus dem Grunde umgekehrt, weil die »Bratvaag« keine drahtlose Telegraphie an Bord hatte, während Horn aus besten sachlichen Gründen seine Regierung und die Welt gern möglichst schnell von dem Funde unterrichtet hätte. Die unliebsame Verzögerung abzukürzen, blieb aber die Möglichkeit, einen heimfahrenden Eismeerfischer oder -jäger anzutreffen und diesem die große Neuigkeit mitzugeben. Die »Bratvaag« setzte ihre Reise also mit östlichem Kurs fort.
In der Tat kam zwei Tage später ein Eismeerfahrer in Sicht. Kapitän Eliasson musterte ihn mit dem Kicker. »Paßt gut«, dachte er, »ist ›Terningen‹ von Tromsö mit Schiffer Jensen. Jensen kenne ich ja gut!« Und nahm Kurs auf die »Terningen« zu.
Gustav Jensen auf dem Tromsö-Boot sah das Manöver natürlich. »Aha«, dachte er, »jetzt kommt Eliasson und will mich mithaben auf Jagd! Wird sich wundern, der alte Knabe, daß ›Terningen‹ den Bauch schon voll hat.«
Um so erstaunter war er, als von der »Bratvaag« sich ein Boot losmachte und herüberkam, Eliasson an Bord. Als der Kapitän übergeklettert war, war sein erstes Wort an Jensen: »Du, Jensen, für dich habe ich eine höchst eigentümliche Mitteilung!« Jensen erschrak: »Doch kein Unglück, Eliasson?« Aber der andere schüttelte den Kopf und erwiderte in seinem Dialekt: »Den Andrée – den haben wir gefunden! Kannst mitkommen und mit deinen eigenen Augen sehen. Und dann erzähle das in Tromsö. Wir gehen nämlich erst zu Franz-Josephen und kommen erst Mitte September wieder zu Menschen.«
Und so folgte Gustav Jensen an Bord der »Bratvaag«, sah dort die roh zusammengehauenen Kisten, in die man die Gebeine der Toten gelegt, sah all die gefundenen Gerätschaften, das Boot mit dem noch immer vereisten Inhalt und sprach eine volle Stunde mit Eliasson und Horn über das Ganze. Die Toten selber zu sehen, lehnte er ab; er könne keine Leichen sehen. Wie er hinterher erzählt hat, waren ihm die Tränen sowieso nahe. Denn bei dem Anblicke der Reste kam ihm die Erinnerung an einen schönen Sommertag des Jahres 1897. Da schickte ihn sein Vater mit zwei Schafen hinab zum Hafen in Tromsö, um die Tiere auf dem schwedischen Kanonenboot »Svensksund« abzuliefern. Als er mit den Schafen an Bord war, kam auch ein stattlicher Mann mit Adlernase und einem merkwürdig zitternden und zuckenden Schnurrbart an Bord, und das war Andrée, von dem alle Welt sprach und der mit dem »Svensksund« hinaufwollte nach Spitzbergen, um dann im Ballon zum Nordpol zu fliegen. Auf den Jungen machte diese kurze und zufällige Begegnung tiefsten Eindruck; so tief, daß ihm die Szene deutlich vor Augen trat, nun er hier als Mann vor den Resten jenes unerschrockenen Menschen und seiner zunichte gewordenen Expedition stand! Diese Begegnung hatte für den wetterharten Eismeermann etwas so Rührendes, daß er Not hatte, sich der Tränen zu erwehren.
Gustav Jensen nahm die Kunde von der aufgefundenen Expedition mit nach Tromsö. Durch ihn erfuhr die aufhorchende, überraschte Welt am 22. August von dem unerhörten Ereignis. Aber Gustav Jensen, Eismeerfahrer und nicht Mann der Feder, nicht Herr der Rede und des treffsicheren Ausdruckes, berichtete in Worten, die mißverstanden werden konnten und mißverstanden wurden und die ganze Welt zu der Meinung brachten, man stünde hier vor einer unerhörten Sensation. Jensens erster Bericht klang – ohne daß dieser solchen Eindruck beabsichtigt oder auch nur geahnt hätte – so, als sei Andrées Leiche vollständig und wohlerhalten; als sei sie kurz nach dem Tode in Eis luftdicht eingefroren und so – man sehe hier den unzarten Ausdruck nach – »lebendfrisch« dreiunddreißig Jahre hindurch konserviert worden. Die ganze Welt war beherrscht von einem toten Andrée »in kristallnem Natursarge«. Erwartete ein Wiedersehen mit dem Toten wie etwa mit einem Schneewittchen im Glassarge.
So etwas wäre eine Sensation ohnegleichen gewesen. Diese Erwartung trug dazu bei, daß plötzlich die ganze Welt – auch die, der der lebende wie der tote Andrée gleichgültig gewesen war und gleichgültig geblieben wäre – von dem unerschrockenen Forscher und seinen tapferen Leidensgefährten sprach. War auch Grund dafür, daß die, die von der Sensation leben, sich auf diesen »Fall« stürzten. Für Bilder, Photographien dieses vermuteten einzigartigen Fundes wurden plötzlich von einer sensationslüsternen Presse Riesensummen geboten. Ebenso für den ersten Bericht, der von Dr. Horn zu erlangen sein würde, und vor allem für die Erstveröffentlichung des aufgefundenen Andréeschen Tagebuches. Der Reeder der »Bratvaag« erhielt von einer amerikanischen Zeitung in Verkennung der Rechtslage ein Vermögen geboten für die Erlaubnis, ihren Berichterstatter das Schiff als ersten betreten zu lassen. Eine andere amerikanische Zeitung gab dem Institut für Svalbard- und Eismeerforschung zu verstehen, daß sie es sich eine halbe Million kosten lassen würde, als erste den Inhalt des Tagebuches veröffentlichen zu dürfen. Andere Zeitungen, die erkannten, daß sie diesen Wettlauf an Angeboten nicht mitmachen konnten, schickten Schiffe aus, die die »Bratvaag« finden sollten, um auf diesem Wege erste zuverlässige Meldungen über das große Ereignis bringen zu können. Ein großes schwedisches Blatt rüstete ein solches Schiff sogar mit Flugzeug und Piloten aus – bloß um der Welt etliche Stunden früher verkünden zu können, was man ja doch bald erfahren mußte! Den Gipfel in der Hasche nach Sensation erklomm aber wohl eine dänische Zeitung, indem sie die ganze Sache von der entgegengesetzten Seite anpackte und in die Welt hinaustrompetete, an der Meldung sei überhaupt kein wahres Wort! Schiffer Jensen habe sich dies alles aus den Fingern gesogen. Daß auch diese Verdrehung gläubige Leser fand, hatte die Zeitung zwei Umständen zu verdanken: Jensen gab als nachträgliche Ergänzung seines Berichtes zu, die Leichen an Bord der »Bratvaag« nicht selber gesehen zu haben, und mehrere gelehrte Kenner der arktischen Natur sprachen öffentlich als ihre Meinung aus, es sei undenkbar, daß Leichen, auch wenn sie eingefroren wären, sich so lange Zeit hindurch sozusagen unverändert erhalten könnten; man könne höchstens Skelette gefunden haben – wie sich ja hinterher auch als tatsächlich herausstellte.
So war das weiße Schweigen um die toten Helden der Polarforschung nicht nur gebrochen, sondern plötzlich in lauten Presselärm umgewandelt, in einen Lärm voll häßlicher Töne, in ein Gezänk nicht nur zwischen Zeitungen, sondern auch zwischen Beteiligten. Wie ein urplötzlich losgelassener Hexensabbath erklang es. Schiffer Jensen belangte die Zeitung, die ihn Lügner genannt, gerichtlich wegen Beleidigung. Und auch die Mannschaft der »Bratvaag« meldete sich mit Beschwerden, als das durch Radiosprüche vorzeitig zurückgerufene Schiff still und würdig in Tromsö eingelaufen war. Es muß hier nachgetragen werden, daß von norwegischer amtlicher wie privat beteiligter Seite zwar ohne Verzug erklärt worden war, alles Gefundene solle selbstverständlich an Schweden ausgehändigt werden, daß die Leitung des Institutes für Svalbard- und Eismeerforschung jedoch der Versuchung nicht hatte widerstehen können, die von seinem Beamten Gunnar Horn aufgenommenen Photographien und dessen Bericht bevorzugt an einzelne Zeitungen zu verkaufen. Hört man die gezahlte Summe, nämlich 40 000 Kronen, und die Absicht, diesen Betrag wissenschaftlichen Forschungen zugute kommen zu lassen, so wird man Verständnis dafür haben, daß dieses geldlich knapp gestellte Institut die Gelegenheit benutzen wollte, im Interesse seiner Forschungen zu Geld zu kommen. Das Institut ging jedoch mangels besserer Nachricht von der Annahme aus, die Funde seien von seinen Wissenschaftlern gemacht. Als die »Bratvaag« nun in Tromsö anlangte und die Mannschaft – lauter arme Schlucker – von den gezahlten 40 000 Kronen hörte, trat sie mit dem begreiflichen Verlangen hervor, als eigentliche Finder und an der Bergung stark Beteiligte ihren Anteil an dieser Einnahme zu erhalten. Dies gab nun wieder Anlaß zu heftigen Erörterungen in der Presse, zum Teil gehässiger Art, bis die norwegische Regierung eine Entscheidung in dieser Sache verkündete, die alle Beteiligten zufriedenstellte. Kurz, wo feierliche Ergriffenheit hätte walten sollen, erhoben sich Gezänk und Geschrei, Unfriede und Presselärm. Sogar die Männer der »Bratvaag« wurden von mehreren Seiten öffentlich verdächtigt, als sich herausstellte, daß die »wohlerhaltenen« Leichen in Wahrheit Skelette waren und daß dem einen sogar der Kopf fehlte. In diesem Falle wurde nun einmal dem braven Gustav Jensen geglaubt: es hieß, wenn er – mit Grund – habe von guterhaltenen Leichen sprechen können und hinterher nur Skelette angebracht würden, so deute dies darauf hin, daß man auf der »Bratvaag« nicht sorgsam und pietätvoll mit den Funden umgegangen sei. Dieser Lärm legte sich erst, als Dr. Horns Photographien veröffentlicht wurden und den Beweis erbrachten, daß die Toten wirklich nur als Skelette aufgefunden worden waren.
Was die toten Helden zu diesem Lärm wohl gesagt haben würden, wenn sie noch einmal hätten sprechen können!
Waren auch die Formen dieses Lärmens nicht schön, so muß doch gesagt werden, daß es das Ergebnis einer Anteilnahme war, von der die ganze Welt fast leidenschaftlich erfüllt wurde. Die Form war häßlich, doch der Kern ehrte die Toten. Wäre die Anteilnahme der Welt weniger stark, weniger heftig gewesen, so ruhte wohl Fränkel noch heute im ewigen Eise. Sie war der starke Antrieb, der nicht Kosten, noch Mühen, noch mögliche Gefahr scheuen ließ, noch einmal zur »Weißen Insel« hinaufzufahren und die Fundstelle noch einmal abzusuchen.
Noch einmal? Das war schon Dr. Horns Wille gewesen, nämlich auf der Rückreise von Franz-Josephs-Land, die ja sowieso wieder in die Nähe der Hvitöya führte. Horn ahnte, daß dort noch mehr zu finden sein würde, wenn Eis und Schnee noch weiter abgetaut sein würden. Doch die Wetterlage hatte sich verschlechtert. Auf Hvitöya nochmals an Land zu gehen, erwies sich als unmöglich; man hätte das eigene Leben ebenso wie die bisher geborgenen Funde nur in Gefahr gebracht. Aber in Tromsö sprach Horn dann offen aus, eine zweite Untersuchung des Fundortes würde sich unzweifelhaft gelohnt haben.
Diese Worte riefen den Tromsöer Reeder einer bekannten Eismeerschute, des »Isbjörn«, auf den Plan. Die Schute war soeben von Fangreise heimgekehrt und löschte weiter im Süden. Der Reeder vermochte einige große Presseunternehmen für eine zweite Expedition nach der Hvitöya zu interessieren. Als Leiter der neuen Suche wählte man den Stockholmer »Journalisten« Knut Stubbendorf, der sofort zusagte und bereits fünf Stunden später im Lappland-Expreß dem hohen Norden zueilte.
Es darf hier vielleicht ein wenig genauer auseinandergesetzt werden, daß es in Skandinavien »Journalisten« gibt, die etwas anderes vorstellen als das, was man bei uns unter diesem Namen versteht. Verwegene Kerls sind sie, in allen Erdteilen zu Hause und, wenn es sein muß, von D-Zügen und 40 000-Tonnen-Schiffen durchaus unabhängig. Mit einem von ihnen reiste Schreiber dieser Zeilen im Winter 1928 die norwegische Küste hinauf nach Lappland. Von dort war der nordische Kollege erst fünf (!) Tage zuvor nach Oslo gerast. Höchste Eile war für ihn geboten gewesen. Da er mit Schiff zu spät gekommen wäre, hatte er sich kurz entschlossen in einen Rentierschlitten gesetzt und war drei Tage und drei Nächte durch die Schneewüsten gejagt, um Schwedens nördlichste Bahn zu erreichen. Auf diese Weise hatte er 24 Stunden gespart. Von Oslo kehrte er dann – mit Schiff, also etwas gemächlicher – zum winterlichen Norden zurück, um einen begonnenen Roman dort oben zu Ende zu schreiben. Der Roman spielt in China, wo er noch zwei Monate zuvor als »Kriegsberichterstatter« gewirkt hatte.
Solche Kerls kann man im Norden antreffen. Zu ihnen gehört auch Knut Stubbendorf. In Pressekreisen hatte er sich hervorgetan als Berichterstatter auf Spitzbergen nach der Italiakatastrophe. Nun rief ihn die neue Aufgabe nach Tromsö. Auch er hatte es über die Maßen eilig. Ging daher in Narvik, wo die Lapplandbahn an der Ozeanküste endet, nicht auf das langsamere Schiff, sondern mietete ein Auto, jagte in 15 Stunden durch die nordnorwegische Gebirgswelt und holte auf diese Weise das am Tage zuvor von Narvik nach Tromsö abgegangene Schiff ein. So hatte auch er, wie jener andere, 24 Stunden gewonnen.
Zu beneiden um die übernommene Aufgabe war er nicht. Ein Journalist mit solcher Aufgabe soll sich bezahlt machen, muß also Erfolge aufweisen. Menschliche Widerstände wie Tücke des Objektes machen sie ihm oft genug streitig. Als Stubbendorf nach Tromsö kam, war die »Isbjörn« noch gar nicht da. Kam erst zwei Tage später. Zum Verzweifeln! Denn man schrieb September, und um diese Jahreszeit kann jeder Tag den arktischen Winter bringen, und dieser hätte das ganze Unternehmen scheitern lassen. Als die »Isbjörn« endlich anlangte, sah Stubbendorf sich einer höchst mißvergnügten Besatzung gegenüber. Den Seeleuten war nicht zu verdenken, daß die neue Fahrt sie nicht begeisterte. Sechs Monate waren sie von Hause fortgewesen, sollten nur ein paar Stunden haben, um Weib und Kind zu sehen, und dann wieder hinauf in die Eiswüsten. Das macht gewiß keine Laune. Kurzum, die »Isbjörn-Expedition« schien unter keinem guten Stern zu stehen, als sie zum Start kam. Und hinter dem Unternehmen stand das große Fragezeichen: Wird überhaupt noch etwas zu finden sein? Hat Horn nicht etwa schon alles fortgeschafft?
Mit den weiteren Einzelheiten der Expedition mag dieses Buch unbelastet bleiben. Es genügt zu erfahren, daß die »Isbjörn« unbeschadet zur Hvitöya gelangte, daß ihre Besatzung jedoch einen recht unfreundlichen Empfang dort fand. Fünfzehn Eisbären tummelten sich dort, wo man an Land gehen wollte! Sie dachten nicht daran, etwa das Feld zu räumen, sondern griffen die sich nähernden Menschen an. Erst mußten drei von ihnen abgeschossen werden, bis die übrigen das bessere Teil erwählten und sich davontrollten.
Als Abenteuer war diese Begegnung mit den Eisbären wenig erfreulich. Andererseits weckte ihre Anwesenheit gewisse Hoffnungen. Fünfzehn Bären sammeln sich an einem Fleck nur dann, wenn es dort irgend etwas Freßbares gibt. Und da sie sich am Lagerplatz der Andrée-Expedition gesammelt hatten, konnte man vermuten, daß das Abtauen von Schnee und Eis in der Zwischenzeit noch fortgeschritten war und weitere menschliche Reste ans Tageslicht gekommen waren.
Diese Vermutung bestätigte sich sehr bald. Knut Stubbendorf fand jetzt die Hütte, die sich Andrée, Fränkel und Strindberg erbaut hatten. Sie lag unmittelbar an der kleinen Erhöhung, auf der Dr. Horn seine Warte errichtet hatte. Horn und seine Leute haben das eigentliche Lager mit Füßen getreten, ohne sehen oder auch nur ahnen zu können, was der Schnee unter ihnen barg.
In der Hütte fand Stubbendorf einen menschlichen Schädel. Es war der des heldenhaften Salomon August Andrée. Und an der Südwand, also an der Felswand, lag der tote Fränkel. Seine vergänglichen Reste mußte man aus dem Eise buchstäblich heraushauen. Als dies mit unsäglicher Mühe geglückt war, zeigte es sich, daß der Leiche der Unterkörper fehlte. Das fehlende Gebein wurde von Stubbendorf später außerhalb der Hütte in wenigen Metern Abstand gefunden.
Durch Stubbendorfs Expedition war das Todeslager der drei vom Schicksal besiegten Ballonhelden dem großen weißen Schweigen entrissen.
Wie es sich den Augen der Männer von der »Isbjörn« bot, mag die hier wiedergegebene Lageskizze anschaulich machen.
Sehr schwierig war es für die Leute der »Isbjörn«, die an Bord genommenen neuen Funde wohlbehalten nach Tromsö zu schaffen. Kaum war man von der Hvitöya abgegangen, so setzte Winterwetter ein mit Sturm und Seegang. Die Hunderte von Gegenständen, an sich schon durch die vergangenen dreiunddreißig Jahre stark mitgenommen, so zu verstauen, daß nichts durch die rollenden Bewegungen des winzigen Schiffes beschädigt wurde, dies erforderte unendlich viel Mühe und Aufmerksamkeit Tag und Nacht.
In Tromsö war unterdessen für die zuerst zurückgebrachten sterblichen Reste Andrées und Strindbergs eine erhebende Totenfeier gehalten worden. Als Stubbendorf anlangte, wurde auch Fränkels Resten die letzte Ehre zuteil. Neben diesem dem menschlichen Gefühl gebrachten Zoll hatten die herbeigerufenen Wissenschaftler wichtige praktische Arbeit mit der Sichtung und Konservierung alles Gefundenen. Berichte, die über diese Arbeit veröffentlicht wurden, lassen erkennen, daß man dabei vorgehen mußte wie bei einer archäologischen Ausgrabung. Die Kunst der Gelehrten hat verstanden, alles zu konservieren und vom Untergang zu retten. In zwei wichtigen Dingen jedoch hat ihre Kunst versagt – wenigstens bis zu dem Zeitpunkte, da dieses Buch in Druck geht. Es wird nicht möglich sein, die von den toten Helden aufgenommenen photographischen Filme so zu entwickeln, daß Bilder erkennbar werden; die Filme haben zu sehr gelitten, zum Teil hatte sich die lichtempfindliche Haut durch Nässe überhaupt von dem Zelluloid gelöst. Und weiterhin wird – dies muß wohl am meisten beklagt werden – das von Andrée geschriebene Notizbuch nicht wieder lesbar werden. Zwar enthält es nur fünfundeinehalbe Seite geschriebenen Text, aber es steht zu vermuten, daß gerade dieser Text den Schlüssel zu den letzten Geheimnissen enthält. Die übrigen, lesbaren Bücher enthalten Beobachtungsmaterial, Zahlen, sachliche Notizen, kurze Randbemerkungen zu gewissen Tagesereignissen auf Ballonreise und Eiswanderung. Das sogenannte zweite Tagebuch jedoch enthält offenbar einen zwar kurzen, aber zusammenhängenden Text. Welche Bedeutung kann diesem Text zukommen? Jede Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß auf diesen wenigen Seiten, mit Bleistift geschrieben (oder hat man zu sagen: geschrieben gewesen?), Andrées letzter Wille verzeichnet steht! Vielleicht auch ein kurz zusammenfassender letzter Bericht an die Nachwelt, ähnlich jener letzten ergreifenden Kundgebung, die fünfzehn Jahre später Kapitän Scott im Todeszelte am Südpol schrieb, damit die Nachwelt erfahren sollte, welch heldenhaften Untergang das Schicksal den Forschern beschieden.
Ob wir je ein »letztes Wort« Andrées an die Überlebenden hören werden? Da diese Zeilen geschrieben werden, läßt so gut wie nichts uns dies hoffen. Aber es wäre ein Geschenk an die ganze Menschheit, wenn es der Wissenschaft gelänge, dieses letzte Wort doch noch lesbar zu machen. –
Am 28. September 1930 kehrten die toten Helden in ihr Vaterland zurück. An diesem Tage lief das Kanonenboot »Svensksund« mit ihren Gebeinen in den Hafen von Göteborg ein, von wo sie 1897 zu ihrer ruhmreichen, todgeweihten Ballonreise in See gegangen waren.
Der ihnen in heimatlicher Sprache auf heimatlichem Boden den ersten wehmütigen Willkomm bot, war Oberstleutnant G. V. E. Svedenborg, der unser Buch mit seinen schönen Gedenkworten eröffnet.