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Freund und Feind

Drei Vierteljahre seit der nächtlichen Aussprache mit Nordenskiöld brauchte Andrée, um das Projekt so auszuarbeiten, daß es der Öffentlichkeit vorgelegt werden konnte.

Als es soweit war, schien es im Anfange, daß Salomon August Andrée wohl ein rechtes Kind des Glückes sein mußte. Alle die Schwierigkeiten, mit denen vor ihm – und auch nach ihm – jeder zu kämpfen hatte, der neue Bahnen der Forschung einschlagen will, blieben ihm erspart. Die größte Schwierigkeit ist ja stets die Beschaffung der erforderlichen Geldmittel. Forschungsreisen sind kostbare Angelegenheiten – und kaum je ist ein Forschungsreisender wohlhabend genug gestellt gewesen, die Kosten selber bestreiten zu können. Geldgeber müssen also gefunden werden. Mäzene hat es, gottlob, von jeher gegeben – doch noch nie solche, die ihr Geld bloß zum Fenster hinauszuwerfen gewillt waren. Ein jeder, der den Mäzen spielt, will zum wenigsten die Überzeugung haben, etwas Gescheites, Vernünftiges, Wertvolles zu fördern. Der Forschungsreisende muß seinen Mäzenen Wichtigkeit und Durchführbarkeit seiner Absichten glaubhaft machen. Ohne diese Voraussetzung gibt es kein Geld in dieser Welt. Nun ist es, dies sei ohne Gehässigkeit gesagt, eine hervorstechende Eigenschaft der meisten Mäzene, von den Dingen, die sie fördern sollen, nichts zu verstehen. Da sie dies fühlen und folglich ihrem eigenen Urteil über die zu fördernden Dinge mißtrauen, so muß der Forschungsreisende zu seiner Unterstützung die Zustimmung fachlicher Autoritäten zu seinen Plänen ins Feld führen können. Und mit den »Autoritäten« hebt meist das große Leiden an. Was die alles auszusetzen haben, wenn es sich um Neues handelt – was also nicht im »Staatsexamen« hat behandelt werden können – das muß man hinterher nachlesen, um die ganze Schönheit aller ihrer Einwände würdigen zu können. Es ist dieser Kampf gegen die geistige Schwerfälligkeit solcher an sich selber wie ans Evangelium glaubenden »Autoritäten« wohl keinem großen Forscher und Erfinder erspart geblieben. Daß es immer so gewesen ist, zeigt die Geschichte vom Ei des Kolumbus: sie ist nicht historisch, aber sie hätte nicht erfunden werden und sich nicht bis in unsere Tage lebendig erhalten können, spräche sich in ihr nicht eine allgemein-menschliche Erfahrung aus. Alle – ob Shackleton, Scott, Nansen, Amundsen, Graf Zeppelin – sind sie von den Autoritäten erst einmal zerrupft worden, ehe sie das Glück hatten, den Gegenbeweis durch große Tat zu führen. Das Verdikt der Autoritäten aber, und in ihrem Gefolge das »Gemecker« superkluger Zeitungsschreiber, pflegt dem Geberwillen des Mäzens den Todesstoß zu versetzen.

siehe Bildunterschrift

Dem Glückskinde Andrée blieben solche Kämpfe, zunächst, erspart.

In den Kreisen der Wissenschaftler in Stockholm, zu denen Andrée enge Verbindung unterhielt, ahnte man bald, daß dieser »etwas Großes« als Luftschiffer im Sinne führte. Niemand freilich verfiel auf den Gedanken einer Polarexpedition. Um so größer war daher die Überraschung, als Andrée am 13. Februar 1895 der Akademie der Wissenschaften zu Stockhohn sein Projekt vorlegte. Namen von Klang zählte die Akademie damals; Svanto Arrhenius gehörte ihr an und der Norweger Bjerknes, der Vater des modernen Wetterwarnungsdienstes. Bei ihnen fand Andrée sofort Zustimmung und Überzeugung von der Durchführbarkeit seiner Pläne.

Die günstige Meinung der Wissenschaftler riß sogleich die öffentliche Meinung in Schweden mit: Eine Nationalspende wurde angeregt. Sie brachte binnen wenigen Tagen Hunderttausende ein. An der Spitze der Geldgeber standen König Oscar II. mit 30 000 Kronen, der »Dynamit-König« Nobel, nachmals Stifter der Nobel-Preise, mit 65 000 Kronen und Baron Dickson mit 30 000 Kronen. Andrée hatte, volkstümlich ausgedrückt, nur den Mund aufzutun brauchen, und seine Expedition war geldlich gesichert! So leicht war es noch keinem Entdecker vor ihm gemacht worden.

Auch zwei wissenschaftliche Begleiter, die Andrée mitzunehmen wünschte, waren sofort gefunden. Der eine von ihnen ein Mann von Ruf, Professor Nils Ekholm, Sekretär der Physikalischen Gesellschaft in Stockholm, vormals Leiter der Spitzbergenexpedition von 1882-1883, an der, wie erzählt, auch Andrée teilgenommen hatte.

Die Vorbereitungen wurden sofort in Angriff genommen, der Start der Ballonfahrt auf das nächste Jahr, 1896, festgesetzt. Der Bau eines entsprechend großen Ballons wurde der Firma Lachambre in Paris übertragen, die den größten Ruf auf diesem Gebiete hatte. Viele Pariser haben den Ballon nach seiner Fertigstellung damals bewundern können, denn er war lange Zeit auf dem Marsfeld zu besichtigen. Dort meldete sich die erste abmahnende Stimme. Spelterini, der namhafteste Freiballonführer seiner Zeit – ältere Leser des Buches werden sich seiner entsinnen – gehörte zu denen, die den Ballon in Augenschein nahmen. Er schüttelte den Kopf und meinte: »Wenn Andrée mit dem Ballon aufsteigt, wird man zwölf, bestenfalls vierundzwanzig Stunden, später nichts mehr von ihm hören!«

Heute wissen wir, daß dieser Veteran der Luftschiffahrt viel zu schwarz gesehen hat. Übrigens fand er mit seinem Pessimismus keinen Anklang bei den Franzosen. Als Andrée nach Paris kam, um den Ballon zu besichtigen, und Vortrag auch vor der französischen Akademie der Wissenschaften hielt, zollten ihm die Gelehrten dieselbe begeisterte Zustimmung wie die in Stockholm.

Andrée hat von Anfang an zwar mit der nachher wirklich notwendig gewordenen Möglichkeit gerechnet, auf dem Eise landen und einen langen Fußmarsch über das Eis zurücklegen zu müssen, doch für wahrscheinlich hat er diesen Ausgang der Ballonfahrt nicht gehalten. Er war überzeugt, bis nach Alaska oder bis nach Nordost-Sibirien zu gelangen. Und in diesem Gedanken rechnete er viel eher mit der Gefahr, daß die dortigen Eingeborenen die Luftfahrer für überirdische, teuflische Wesen halten, angreifen und morden könnten. Über diese Sorge mag mancher heute lächeln. Es darf eben nicht vergessen werden: Luftfahrt war damals etwas so Neues, daß abseits wohnende Bevölkerung selbst in Europa noch nicht darüber aufgeklärt war. Andrée hielt es daher für unerläßlich, die »Wilden« an den arktischen Küsten, in erster Linie die Eskimos auf Alaska und Kamtschatka, über die Möglichkeit, daß Menschen flogen, aufzuklären und sie auf das Erscheinen eines Luftballons vorzubereiten. In diesem Bestreben wurde er vor allem durch ein großes amerikanisches Walfangunternehmen unterstützt: die Pacific Steam Whaling Company wies den Befehlshaber ihrer Fangflotte an, jeden Eskimo, der angetroffen werden würde, über die Möglichkeit der Luftfahrt zu unterrichten. Um diesen Unterricht recht anschaulich zu gestalten, wurden nicht nur eine Masse Bilder von Luftballons mitgenommen, sondern sogar Tausende von Kinderluftballons! Mit deren Hilfe ließ sich die Sache den Eskimos in der Tat »ad oculos« demonstrieren.

Außerdem ließ Andrée ein Flugblatt drucken mit einer Abbildung seines Ballons und einer kurzen Beschreibung der von den drei Teilnehmern beabsichtigten Ballonreise, das in die Schlußmahnung auslief: wer eines solchen Ballons ansichtig würde, solle sich nicht fürchten und solle sich nicht feindlich gegen die Insassen stellen, sondern ihnen in jeder Weise behilflich sein; die Insassen seien friedliche Menschen und stünden zudem unter mächtigem Schutze, so daß jeder, der ihnen helfen würde, auf gute Belohnung rechnen könne; eine solche wurde auch demjenigen gelobt, der den Ballon sehen und das Gesehene in brauchbarer Weise weitermelden würde. Dieses Flugblatt wurde mit Unterstützung der verschiedenen geographischen Gesellschaften und einer Anzahl Einzelpersonen, die die Möglichkeit dazu hatten, in allen Küstenländern rund um die Arktis ausgeteilt, also in Norwegen, Island, Grönland, Kanada, Alaska, Sibirien, Nordrußland und Finnland. Gedruckt war es in den Sprachen: Deutsch, Englisch, Russisch, Norwegisch, Dänisch, Isländisch, Finnisch und Grönländisch.

Im Frühjahr 1895 war der Ballon fertig. Französische Sachverständige, die Andrée mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hatte, bestanden darauf, den Ballon vor Übernahme durch eine Probefüllung zu untersuchen. Es kam jedoch, im Einverständnis Andrées mit den beiden Teilnehmern Ekholm und Strindberg, nicht hierzu, da keine kostbare Zeit verloren werden sollte. Die Firma Lachambre erfreute sich eines so gefestigten Rufes, daß man ihr ohne weiteres zutraute, den Ballon so vollendet wie eben möglich gearbeitet zu haben.

Am 7. Juni 1896 ging die Expedition an Bord des kleinen Dampfers »Virgo« von Göteborg nach Spitzbergen ab. Zehntausende waren beim Abschied zur Stelle. Schweden war stolz auf diese seine Söhne. Sprach doch die ganze Welt von dem überaus kühnen Unternehmen. Die Expedition zählte rund vierzig Köpfe. Svante Arrhenius, der berühmte Gelehrte, hatte sich ihr angeschlossen.

siehe Bildunterschrift

Das Ziel war die zu Spitzbergen gehörende, der Hauptinsel nördlich vorgelagerte kleine Dänen-Insel (Dansköya). Es war schnelles Vorankommen. Eismeerschiffer versicherten, so günstige Eisverhältnisse seit dreißig Jahren nicht angetroffen zu haben. So währte die Reise wenig über zehn Tage. Etwa an der Mitte der Nordküste von Dansköya, vor sich die Dänen-Straße, angesichts des bekannten Smerenberg-Gletschers, wählte Andrée den Ort der Expedition im Schutze von hohen Steilhängen. Im Handumdrehen war ein Unterkunftshaus errichtet. Dicht neben ihm montierte Ingenieur Stake eine Gasanstalt; das zur Füllung benötigte viele Wasserstoffgas mußte nämlich an Ort und Stelle fabriziert werden. Oberingenieur Dr. Ivar Svedberg erbaute inzwischen unweit des Hauses die unumgänglich nötige Ballonhalle. Wegen dieser kam es zu einem kleinen Meinungsstreit zwischen Andrée und Ekholm. Letzterer erachtete ein Dach für unbedingt notwendig, Andrée hingegen verzichtete darauf; ihm genügte es, wenn sein Ballon gegen seitliche Winde geschützt war. Diese dachlose Ballonhalle des Dr. Svedberg – das erste Ballonhaus der Arktis – läßt den, der sich eben dieser Dinge erinnert, an Nobiles gleichfalls dachlose Ballonhalle auf Spitzbergen denken. Es ist so gut wie sicher, daß der Mangel eines Daches der »Italia« zum Verderben geworden ist. Als das Luftschiff in der Halle lag, trat heftiger Schneefall ein. In kürzester Zeit sammelte sich auf ihm eine solche Schneelast an, daß die Gefahr drohte, dieses Gewicht würde das Luftschiff eindrücken und zerstören. Schleunigst mußte die Mannschaft hinauf und den Schnee in aller Hast und Eile beseitigen. Dies geschah mit allen möglichen Instrumenten – Besen, Schaufel, Schippe – und da die Säuberung sehr schnell vor sich gehen mußte, griffen die Leute nicht mit Glacéhandschuhen zu. Zweifellos ist die Ballonhaut dabei beschädigt worden und ist bei dem zweiten Fluge der »Italia« geplatzt. Andrée hatte eine ähnliche Gefahr für seinen Ballon vorausgesehen – hatte auch schon damals mit der neuerdings soviel erörterten Gefahr der Vereisung gerechnet, von der jedes Luftschiff in der Arktis bedroht ist (Niederschlag von Rauhreif). Für seinen verhältnismäßig kleinen Ballon von nur zwanzig Metern Durchmesser hatte er einen Schutz ersonnen, der ein Dach unnötig machte, übrigens auch auf der Fahrt wirken sollte: er hatte dem Ballon selber eine Art Schutzdach aufgesetzt oder, wenn man so will, einen großen Hut aus gefirnißter Seide. Dieser Hut beschützte Ballon und Netzwerk gegen Nässe, und da er glatt war und seine Fläche ziemlich schräg, sollten Regen und sogar Schnee an ihm abgleiten – zum wenigsten, wenn der Ballon in Fahrt war und das Arbeiten der schleppenden Seile ihn erschütterte und erzittern ließ.

Am 27. Juli war der Ballon gefüllt. Andrée gab Befehl, sich klar zum Start zu halten. Es fehlte bloß noch günstiger Wind. Und auf diesen wartete und wartete man Woche um Woche.

Die Wissenschaftler – Arrhenius, Ekholm und Strindberg – vertrieben sich die Zeit mit dem Versuche festzustellen, inwieweit die Gasdichte des Ballons zu wünschen übrigließ. Dies war in der Tat eine wichtige, um nicht zu sagen entscheidende Frage. Andrée rechnete zwar nur mit einer Flugdauer von sechs Tagen, hatte aber selber das Fünffache als »Sicherheits-Koeffizienten« für erwünscht erachtet, also eine mögliche Flugdauer von dreißig Tagen. Gasverlust durch unnötiges Steigen und Fallen konnte, wie bereits berichtet, durch die Schleppseile vermieden werden. Aber die Frage war noch, ob der Ballon selber gasdicht genug war, um dreißig Tage hindurch tragfähig zu bleiben. Zwar hatte man den Ballonstoff vor Auftragserteilung auf das genaueste untersucht und für, praktisch genommen, fast ganz gasdicht befunden; aber der Ballon bestand ja nicht aus einem Stück, sondern war aus vielen Tausenden kleiner Stücke zusammengenäht. Die Nähte waren selbstverständlich gedichtet, ob sie aber nicht dennoch Gas durchließen, war nicht untersucht und konnte daher mit einem gewissen Recht geargwöhnt werden. Es war daher begreiflich und verständlich, daß Ekholm eine Untersuchung anregte. Da das Ergebnis dieser Untersuchung hinterher zum Ausgangspunkt heftigster Angriffe und Anfeindungen gegen Andrée wurde, so mag hier hervorgehoben werden, was er Ekholm, dessen eigener Angabe zufolge, erwidert hat: »er wisse nicht recht, wie eine brauchbare Untersuchung vorgenommen werden solle«. Er überließ sie dann seinen »Wissenschaftlern«. Auf deren Untersuchungsergebnis hat er seinerseits keinen Wert gelegt. Antwort wie Verhalten sind in höchstem Maße auffällig. Andrée war – dies wird niemand in Zweifel ziehen wollen – in erster Linie ein Mann, der »sich in jeder Lage zu helfen wußte«, war neben all seinen theoretischen Kenntnissen ein genialer Praktiker. Und dieser Mann sollte nicht imstande gewesen sein, eine Methode auszudenken, um Gasschwund eines gefüllten Ballons zuverlässig zu bestimmen? Nur eine Erklärung gibt es hierfür: er muß überzeugt gewesen sein, daß ein Ballon in Fahrt sich bezüglich des Gasschwundes anders verhält als ein durch Sandsäcke in der Halle festgehaltener. Daß ein solcher Unterschied besteht, ergibt schon die ganz theoretische Erwägung, daß Zugrichtung und Zugwirkung des Netzwerkes am schwebenden Ballon mit belastetem Korb zentripetal sind, nicht aber beim Ballon in der Halle. Was nützten da also Messungen in der Halle! Höchstens verwirren konnten sie – wie sie es auch wirklich getan haben. Zu diesem Standpunkt mag Andrée um so leichter gelangt sein, als er überhaupt dazu neigte, Leuten Vertrauen zu schenken, die sich in der Praxis bewährt hatten. So vertraute er auch dem Ballonerbauer Lachambre und dessen vielhundertfältiger Erfahrung. In diesem Punkte besaß Andrée eine Großzügigkeit, wie sie nur solchen Menschen eigen zu sein pflegt, auf die man Häuser bauen kann. Es mag hier vorweggenommen sein: nichts an dem unglücklichen Ausgange der Expedition rechtfertigt den Argwohn, daß der Ballon (in unbeschädigtem Zustande) nicht dicht genug gehalten habe. –

Diese erste Expedition wurde für Andrée eine bittere Enttäuschung. Der günstige Wind, das ruhigere Wetter wollten nicht kommen. Der Juli verging mit Warten. Die erste Augusthälfte ebenso. Ende August kann dort oben im Norden schon der Winter eintreten. So spät die Ballonfahrt antreten zu wollen, wäre unverantwortlich gewesen. Es blieb nichts übrig, als unverrichteter Sache heimzureisen. Der Ballon wurde entleert und wieder in seine Kiste gepackt. Das Ballonhaus ließ man stehen. Hoffte, es werde den Winter überstehen und im nächsten Jahre noch brauchbar sein.

Es muß ein bitterer Entschluß für Andrée gewesen sein. Sicherlich hat er geahnt, welchen Anfeindungen er nun ausgesetzt sein würde. Mit großem, wenngleich keineswegs von ihm heraufbeschworenem Tamtam war die Expedition in Szene gesetzt worden. Außerhalb Schwedens war sie vielfach für Irrsinn erklärt worden. Seine Umkehr gab den übelwollenden Beurteilern Oberwasser. Freilich, das hat er wohl nicht geahnt, daß der heftigste Widersacher ihm unter den eigenen Vertrauten erstehen sollte!

Zunächst jedoch trat ein anderes Ereignis ein, das geeignet war, seinen Mut neu zu beleben: die von Kapitän Otto Sverdrup geführte »Fram« kam wohlbehalten von dreijähriger Eisfahrt quer über das Polarbecken hinweg zurück. Und fast am selben Tage fanden auch Nansen und sein Gefährte Johansen sich wieder wohlbehalten ein, die die »Fram« unterwegs verlassen hatten und die man schon verloren geglaubt hatte. Dieses Ereignis war neuer Ansporn für Andrée. Noch war der Nordpol nicht erreicht, noch war der Ruhm, ihn zu entdecken, nicht vergeben! Und Nansens Marsch über das Eis und Überwinterung auf Franz-Josephs-Land hatten bewiesen, daß eisgewohnte Männer in der Eiswüste, abgeschnitten von der übrigen Menschheit, sehr wohl bestehen konnten! »Nun erst recht!« Dies war Andrées neuer Wahlspruch.

Nansens ungeheurer Erfolg wurde in Schweden genau so anerkannt und gefeiert wie in der übrigen Kulturwelt. Er trug jedoch dazu bei, Andrées vorläufigen Mißerfolg in um so grelleres Licht zu stellen. Für manchen war Andrée jetzt der Abenteurer, nicht mehr der ernste Forscher. Diese üble Meinung setzte sich zumal in Deutschland fest, wo man, unbekannt mit der Natur der Arktis, nicht den richtigen Maßstab anzulegen verstand. Und sie ist bis in unsere Tage geblieben. Deshalb ist es deutsche Ehrenpflicht, dem Andenken des kühnen Schweden wenigstens nach seinem Heldentode gerecht zu werden.

Eine kräftige Stütze fand die absprechende Beurteilung Andrées in heftigen Angriffen, die dessen Mitarbeiter, der mehrfach genannte Professor Nils Ekholm – bestimmt gewesen, die Ballonfahrt mitzumachen – gegen Andrée richtete. Sie sind wohl das Schmerzlichste gewesen, was Andrée zu ertragen hatte. Nicht hinsichtlich ihres sachlichen Inhaltes: sie waren die Bedenken des typischen Stubengelehrten. Doch verletzend in der Art, wie sie vorgebracht wurden. Diese Art war, nach deutschem Empfinden, geschmacklos – war »schofel«. Der Herr Professor hielt es nämlich für richtig und taktvoll, die Mängel, die er an Andrées Plan und Ausrüstung gefunden zu haben glaubte, den Hauptgeldgebern der Expedition in langen Briefen vorzutragen und sie so gegen seinen bisherigen Freund Andrée einzunehmen. Dieses Vorgehen ist unbegreiflich. Professor Ekholm war nicht die Expedition; er war ein willkommener, doch nicht etwa unersetzlicher Mitarbeiter. Die Nationalspende war nicht ihm gegeben, sondern Andrée. Und er war nicht Vertrauensmann der Geldgeber und hatte diesen gegenüber weder Pflichten noch Rechte.

Es soll dem Herrn Professor nicht nachträglich abgestritten werden, das Recht gehabt zu haben, Plan und Organisation der Expedition öffentlich zu bemängeln. Er war bereit gewesen, die Ballonreise mitzumachen, trat nach der Rückkehr von Spitzbergen als Teilnehmer der Expedition öffentlich zurück und hatte gewiß das Recht, für diesen Rücktritt sachliche Gründe anzugeben; man hätte sonst als Grund persönliche Feigheit annehmen können, und solchen Verdacht braucht kein Mann aufkommen zu lassen. Die bisherige Freundschaft mit Andrée, das ihm von diesem geschenkte Vertrauen hätten ihn veranlassen sollen, seine Gründe nicht allzusehr zu spezialisieren. Es hätte genügt zu erklären: Wissenschaftliche Untersuchung hat ergeben, daß der Ballon nicht leisten kann, was er leisten muß, wenn Menschen sich ihm auf solcher Fahrt anvertrauen sollen. Derartige Erklärung hätte um so eher ausgereicht, als Herrn Ekholm die Autorität eines Svante Arrhenius zur Seite gestanden hätte. Doch Herr Ekholm ging weit über eine Begründung seines Rücktrittes hinaus. Er eröffnete geradezu einen Feldzug gegen Andrée und versuchte, dessen Expedition überhaupt zum Scheitern zu bringen.

Hätten sich diese Dinge in einem großen Volke zugetragen, etwa in Deutschland, so würde Andrée den Widersacher vermutlich abgeschüttelt haben mit einer Begründung dieser Art: »Sie sind ausgeschieden und haben nichts mehr mit meiner Expedition zu tun; wie wir unser Leben aufs Spiel setzen wollen, dies überlassen Sie gefälligst uns selber!« Doch in Skandinavien sind die Verhältnisse kleiner. Menschen, die dort etwas zu bedeuten haben, treffen gesellschaftlich oder beruflich immer wieder aufeinander. Treten Spannungen ein, so kann man nicht einfach das Tischtuch zwischen sich und dem anderen zerschneiden. So mußte auch Andrée sich in öffentliche Auseinandersetzungen einlassen. Sie mögen ihm, dem Manne der Praxis, nicht leicht geworden sein, denn von der anderen Seite wurden sie geführt wie Professorengezänk.

siehe Bildunterschrift

Ekholms Angriffe gipfelten in folgenden Bemängelungen: 1. der Ballon ist nicht gasdicht genug; die Messungen haben ergeben, daß er sich höchstens sechzehn Tage in der Luft halten kann, nicht aber dreißig Tage, wie vorausgesetzt; 2. diese kürzere Lebensdauer des Ballons ist um so bedenklicher, weil die Schleppleinen, Messungen zufolge, die Geschwindigkeit des Ballons so stark herabsetzen, daß seine mittlere Geschwindigkeit nur noch die Hälfte der von Andrée angenommenen beträgt. Demzufolge forderte Ekholm, den Ballon entsprechend größer zu machen, von 4500 cbm auf 6000 cbm, und für die Schleppleinen ein Material zu benutzen, dessen Reibung im Wasser wie über Eis geringer war als Hanf und Kokosfaser, die Andrée gewählt hatte.

Wie Baron Dickson sich zu Ekholms Bemängelungen gestellt hat, ließ sich nicht ohne weiteres ermitteln, ist auch wenig erheblich, da Andrées anderer Mäzen, der Dynamit-König Nobel, seinem Namen Ehre machte und sich wiederum und vorbehaltslos vollendet »nobel« zeigte. Er erklärte Andrée: Sollte es wirklich nötig sein, einen größeren Ballon zu bauen, so solle das Geld dafür zur Verfügung stehen!

War es Eigensinn, daß Andrée dieses Anerbieten ablehnte? War es Rechthaberei gegenüber den Ekholmschen Beanstandungen? Sicherlich nicht. Andrée war zu großzügig, um kleinlich denken oder handeln zu können. Er hatte sachliche Gründe, einen kleineren Ballon für praktischer zu halten als einen großen. Hat diese Gründe auch ausgesprochen; der durchschlagendste war: Je kleiner der Ballon, desto leichter mit ihm zu hantieren, sowohl beim Füllen wie beim Start, unterwegs und vor allem bei der Landung! In diesem Zusammenhange wird interessieren, daß norwegische Sachverständige noch heutigestags der Meinung sind, ein kleineres Luftschiff, etwa von der Größe der verunglückten »Italia«, sei für arktische Flüge weit geeigneter als ein dreimal so großes. Daß ein größerer Ballon sich volle dreißig Tage würde in der Luft halten können oder müssen, war ja im übrigen letzten Endes bloß Theorie, ausgehend von der Annahme, daß Gasschwund die einzige Ursache für Abnahme der Tragkraft sein würde. Aber es konnten auch andere Ursachen eintreten: sehr tiefe Temperaturen, Vereisung, Verlust an Ballast – Schwierigkeiten, denen ein größerer Ballon ebenso, vielleicht noch mehr ausgesetzt gewesen wäre als ein kleinerer. Theorie war ja auch die von Andrée angenommene Wahrscheinlichkeit, in sechs Tagen nach Alaska oder Sibirien hinübergetrieben zu werden, Theorie die dieser Annahme zugrunde gelegte »mittlere« Windgeschwindigkeit von 10,1 m in der Sekunde. Was war an diesem ganzen Unternehmen denn nicht Theorie? Begab sich die Expedition doch in ein Gebiet, von dem man so gut wie nichts wußte, am wenigsten über Wind und Wetter (so ist's noch heute, trotz Nansen und allen späteren Expeditionen). Auf dem Papier die Grenze ausrechnen wollen, unter der die Ballonfahrt in den Tod führen mußte, über der sie hundertprozentig sicher war – das war Papierweisheit.

Gegen solche Veränderungen und Verbesserungen, die Andrée selber als notwendig erkannte, hat er sich nicht gesträubt. So wurde der Ballon in der Tat vergrößert, freilich nicht um 1500 cbm, sondern nur um 300 cbm. Es hatte sich nämlich herausgestellt, daß der Ballonstoff etwas schwerer war als ursprünglich berechnet; die Tragkraft des Ballons mußte daher entsprechend erhöht werden. Die Vergrößerung erfolgte in der Weise, daß Lachambre den Ballon längs dessen Äquator auftrennte und eine Bahn von 1 m Breite einsetzte. Bei dieser Gelegenheit wurde die gesamte Hülle auf undichte Stellen abgesucht.

Zur Abwehr der gegen ihn erhobenen Angriffe suchte Andrée Kronzeugen unter anderen Polarfahrern. So wandte er sich an Fridthjof Nansen mit der Bitte um nähere Auskunft über die Windverhältnisse im Polarbassin und mit der Frage, ob Nansen es überhaupt für möglich halte, den Pol auf dem Luftwege zu erreichen. Der berühmte Norweger antwortete, er halte es nicht für möglich, und riet Andrée ab zu starten. Anderes konnte Nansen nicht erwidern. Hätte er zugeredet, so hätte er eine Verantwortung übernommen, die zu tragen er wohl um so weniger wünschte, als das auf der »Fram« gesammelte Beobachtungsmaterial ja noch nicht verarbeitet war. Diesen Grund für die abratende Antwort hat Andrée wohl herausgefühlt, denn er ließ sich durch Nansens Warnung eben doch nicht abschrecken.

Dr. Ivar Svedberg, der Erbauer der Ballonhalle, hat in jenen Tagen Andrée einmal gefragt, was diesen, den so aufs Praktische eingestellten Ingenieur, denn wohl treiben könne, sich auf ein so riskantes Unternehmen zu versteifen, von dem letzten Endes doch niemand praktischen Nutzen haben würde. Andrées Antwort auf diese Frage ist bezeichnend für den ganzen Mann. Sie lautete, Dr. Svedbergs Angaben zufolge, beinahe wörtlich so:

»Solange dieser weiße Fleck dort oben, von dem ständig gefragt wird: Land oder Wasser? noch unerforscht ist, und solange so viele Menschen nach dieser Wahrheit suchen, werden immer wieder Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, bis das Rätsel gelöst ist. Die Mittel, die mir zu Gebote stehen, ermöglichen die Lösung des Rätsels. Deshalb will ich der Menschheit diesen Dienst erweisen, damit dann andere sich praktischeren Zielen widmen können!«


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