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Auf dem ewigen Eise

Der Start des »Örn« ist von den Zeitgenossen für ausgesprochen unglücklich angesehen worden. Die Karambolage mit dem Eckpfosten (der zwar gut mit Filz gepolstert war) hatte erschreckt. Entsetzt war man gewesen, als der Ballon kurz danach ins Wasser zu stürzen schien und der Ballonkorb schon ins Meer eintauchte. Und der Verlust von einem Drittel der Schleppleinen wurde fast als Katastrophe eingeschätzt: der Meinung der Sachverständigen nach war dadurch jede Möglichkeit zunichte geworden, den Ballon irgendwie zu lenken – war der »Örn« nur noch ein gewöhnlicher Freiballon.

Von den kühnen Ballonfahrern selber wissen wir heute, daß sie ihre Lage weit hoffnungsvoller beurteilten als die Zurückgebliebenen.

Frischer Wind trieb den Ballon zunächst ziemlich genau nach Norden, änderte seine Richtung freilich bald etwas, doch nicht so stark, daß man sie für ungünstig hätte ansehen müssen. Er blies aus Südwesten und führte den »Örn« nach Nordosten mit sich. Aus seiner anfänglichen großen Höhe kam der Ballon langsam auf etwa 250 m herab. In dieser Höhe ging es flott voran. Flottes Tempo belebt jedes Reisenden Stimmung, auch die des Ballonfahrers. Man beschloß, der Welt Kunde von dem guten Fortgang der Reise zu geben, und schickte etliche der Brieftauben mit entsprechenden Mitteilungen ab. Sie schienen sich orientieren zu können, denn sie verließen den Ballon und entfernten sich in raschem Fluge. Die eingeschlagene Richtung freilich war nicht die zu Menschen: die Tierchen flogen nach Westen, und man hat auch nie etwas von ihnen gesehen oder gefunden.

Abends bekam der Ballon wieder Auftrieb und ging auf 600 m hinauf. In acht Stunden hatte man jetzt gut 300 km zurückgelegt. Nachmittags war die Sonne hervorgekommen, in deren Schein ja alles freundlich aussieht, auch eine Eiswüste, und hatte den Ballon wieder in die Höhe getrieben. Alles erschien hoffnungsvoll und das Beste versprechend. Trotzdem mit dem Ballon nicht alles in Ordnung zu sein schien. Man hörte ein leises pfeifendes Geräusch, offenbar vom großen Ventil herkommend, also austretendes Gas verratend. Die drei Männer ließen sich dadurch ihre Zuversicht jedoch nicht nehmen. Gasverlust, wenn er sich in mäßigen Grenzen hielt, war ja auf lange hinaus durch die große Menge des mitgeführten Ballastes auszugleichen.

Als der Morgen des 12. Juli anbrach, wandte sich die bisherige Lage zum Schlechten. Zum Schlechten in jedem Betracht. Der Wind änderte langsam seine Richtung. Ging von Südwest über Süd fast nach Osten herum, so daß der »Örn« nach Westen getrieben wurde. Zugleich nahm die Windstärke beträchtlich ab; der Ballon kam nur noch langsam voran. Die eintretende Ruhe im Luftozean ließ Nebel hochkommen, der sonst ziemlich platt auf dem Eise zu liegen pflegt. Die Sonne verschleierte sich, der Ballon kühlte sich ab. Ging tief hinab, tauchte zum Teil hinein in die berüchtigten Nebelbänke, die sich im Sommer über das Packeis legen, wenn die Sonnenwärme die Eisoberfläche langsam verdunsten läßt.

Jetzt wurde die Situation bedrohlich. Man stand vor der unmittelbaren Gefahr, ganz auf das Eis hinabgedrückt zu werden – und eine solche erzwungene Landung im Polarnebel (der dick ist, daß man ihn fast mit dem Messer schneiden könnte) wäre eine Katastrophe geworden, trotzdem sich der Ballon, wie oben erwähnt, nur langsam voran bewegte. Ballast über Ballast wurde gegeben, um wieder hochzukommen. Doch dieses sonst erprobte und bewährte Mittel schien jetzt versagen zu wollen. Was der Ballon nämlich an Gewicht durch das Abwerfen von Ballast verlor, das ergänzte sich von selber wieder dadurch, daß sich die feuchte Luft als Rauhfrost an Ballon und Netzwerk ansetzte, sein Gewicht vermehrte und ihn nach unten drückte.

siehe Bildunterschrift

Es mag der Fluß der Erzählung hier unterbrochen werden, um auf diese Erscheinung ein wenig näher einzugehen. Anlaß hierzu bietet, daß gerade in jüngster Zeit von Deutschen, die als Fachleute ernst genommen werden, die Gefahr der Vereisung für Luftschiffe in der Arktis geleugnet worden ist – ja als »sagenhaft« abgetan worden ist. Die Erfahrungen, die Andrée machen mußte, beweisen etwas anderes, und man wird vielleicht noch Gelegenheit haben, dem Schicksal zu danken, daß wir mit Andrées Erfahrungen schon 1930 bekannt wurden – nicht vielleicht erst 1935! Die physikalischen Gründe für die Gefahr der sogenannten »Vereisung« (richtiger Rauhreif und Rauhfrost zu nennen) lassen sich kurz so zusammenfassen: Bei staubfreier Luft starke Verdunstung infolge ununterbrochener Sonnenbestrahlung. Näher erklärt: Die Monate hindurch Tag wie »Nacht« scheinende Sonne vermag zwar die Luft nicht zu erwärmen, läßt aber große Mengen des Oberflächeneises zu Wasserdampf verdunsten. Der gasförmige, durchsichtige Wasserdampf hat das Bestreben, sich zu Wolken zu verdichten. Wolken sind Ansammlungen von schwebenden Wasserbläschen. Sie bilden sich nur dort, wo die Wasserbläschen in der Luft schwebenden Staub finden, dem sie sich angliedern können. Solcher Staub fehlt in der Arktis. Darum können sich dort die sich bildenden Wasserbläschen nicht schwebend erhalten, sondern sinken nach unten und legen sich aufeinander zu den gefürchteten »Nebelbänken«. Wasserdampf, der sich nach dem Verdunsten in etwas höhere Luftschichten erhoben hat, kommt dort nicht zur Wasserbläschenbildung, sondern »flockt aus«: ohne die Vorstufe der Wolken-(Wasserbläschen-)bildung geht er in Kristallform über und bildet Schneeflocken. Es schneit ganz lustig vom blauen Himmel bei Sonnenschein, trotzdem keine Wolke zu sehen ist! Eine Erscheinung, die an kalten Wintertagen übrigens ab und zu auch in Deutschland zu beobachten ist. Wie lange es dauert, bis sich das erste Eiskristall aus dem Wasserdampf unter Überspringung des flüssigen Aggregatzustandes bildet, mag dahingestellt bleiben und ist auch noch von niemandem näher untersucht worden. Tatsache und oft genug zu erleben ist jedoch: Hat sich erst das erste feste Teilchen gebildet, so wächst das Kristall mit größter Schnelligkeit. Es ist, als habe alle Luftfeuchtigkeit in der Nachbarschaft nur darauf gewartet, irgendeinen »festen Punkt« zu finden, und stürzt sich nun geradezu darauf. Solch einen festen Punkt kann natürlich auch ein schwebender Luftballon abgeben: auch auf ihn »stürzt« sich die Luftfeuchtigkeit, um kristallisieren zu können. Es macht dabei (dies sei deutschen Theoretikern ins Stammbuch geschrieben) keinerlei Unterschied, aus welchem Rohstoff der feste Punkt besteht: wenn er nur fester Körper ist, umgibt er sich mit einer Schicht Rauhreif oder Rauhfrost. Wie dick diese Schicht wird, dies hängt an sich von verschiedenen Umständen ab; der entscheidende darunter ist, wie wohl ohne weiteres einzusehen, die Menge der feuchten Luft, mit der der feste Körper in Berührung kommt. Für einen Freiballon, der sich im Verhältnis zu der ihn umgebenden Luft so gut wie nicht fortbewegt, da der Wind ihn ja mit sich führt, ist diese Menge an feuchter Luft vergleichsweise gering. Ein Luftfahrzeug mit Eigengeschwindigkeit jedoch kommt in jedem Augenblicke seiner Luftfahrt mit immer anderer, noch feuchter Luft in Berührung. Während bei einem Freiballon sich also der Vorrat an Luftfeuchtigkeit, der Rauhreif bilden kann, sozusagen erschöpft, erneuert sich dieser Vorrat bei einem Luftfahrzeug mit Eigengeschwindigkeit von Augenblick zu Augenblick. Es gibt daher für ein Luftschiff in der Arktis – theoretisch –¦ keine Grenze für die Dicke der Rauhreif- oder Rauhfrostschicht, die sich auf ihm niederschlagen kann!

Ob das in dieser Weise rasend anwachsende Eigengewicht eines Luftschiffes durch dessen dynamische Kräfte bewältigt werden kann, wie von deutschen Fachleuten behauptet, mag dahingestellt bleiben. Andrée standen solche dynamischen Kräfte nicht zur Verfügung; er konnte nur Ballast abgeben. Die Ballastsäcke – rings um den Korb an Stricken vom Netzwerk herabhängend – waren schon am Tage zuvor geleert worden, um den durch das schadhafte Ventil verursachten Gasverlust auszugleichen. Um den Ballon zu erleichtern, muß man sich jetzt von allen möglichen Dingen trennen, die man gern behalten hätte. Gleichwohl kommt der Ballon dem Eise näher und näher. Um drei Uhr nachmittags stößt der Korb zum ersten Male auf. Kurz danach noch einmal. Hart und schwer. Ein Glück nur, daß die Geschwindigkeit des Fluges der Schneckenpost gleicht; daß die Fahrt noch immer in westlicher Richtung geht (wohin man am wenigsten gelangen möchte), macht die Lage nicht erfreulicher.

Der Rest des 12. Juli und der Morgen des 13. Juli vergehen damit, daß der Korb immer und immer wieder aufsetzt. Aufschlagen kann man es noch nicht nennen, denn noch immer findet sich Entbehrliches, was im kritischen Augenblick abgeworfen werden kann. Zugleich ziehen sich die drei Männer am Netzwerk mit angeklammerten Händen ein Stück in die Höhe, teils um den Korb im letzten Augenblick von ihrem Gewicht zu befreien, teils um sich beim Aufstoß nicht die Beine zu verstauchen. Es geht auch immer und immer wieder gut ab. Nur müde werden sie, unsagbar müde! Dieses ewige Auf-der-Lauer-liegen-Müssen, diese endlosen Klimmzüge! Wenn etwas geeignet ist, sie bei Mut zu erhalten, so die Tatsache, daß der Wind sich wieder gedreht hat. Zwar kommt er jetzt aus Norden, treibt den Ballon also zurück in Richtung Spitzbergen; aber dreht er sich nur überhaupt, so wird er sich auch weiter drehen und schließlich den Ballon doch wieder nordwärts bewegen! So hoffen sie. Und so erging es hernach auch.

Gegen Mittag des 13. Juli ist der Wind auf West herumgegangen. Auch sonst sieht die Situation etwas freundlicher aus. Die Sonne kommt hervor! Ihre Strahlen lassen die gelbe Ballonkugel hell erglänzen, erwärmen sie aber auch, so daß sich das Gas im Innern ausdehnt und der »Örn« Auftrieb bekommt. Auf 60 m geht er hinauf. Gewiß keine überwältigende Besserung. Doch den übermüdeten drei Männern erscheint sie fast schon wie das Ende aller Leiden. Man braucht ja nicht mehr Ballast zu geben, Klimmzüge zu machen; man kann sich ausruhen, sich erholen.

Aber, ach, mit der Besserung geht es bald vorüber. Die Sonne verkriecht sich wieder. Sofort geht auch der Ballon zur Tiefe. Rauhreif, der sich unglaublich schnell und dick auf ihm bildet, drückt ihn zu Boden. Es gibt Aufpralle, weit schlimmer als vorher, und auch weit häufiger. Wieder fliegt alles mögliche über Bord, um den »Örn« zu erleichtern – jetzt kaum mehr ein stolzer Adler, sondern mehr eine flügellahme Krähe. Das Ballastgeben (das aber schon längst nicht mehr aus wertlosem Ballast vor sich geht, sondern das Opfern schmerzlich zu entbehrender Dinge bedeutet) – das Ballastgeben hilft kaum noch. Immer häufiger, immer heftiger setzt der Korb auf dem Eise auf. Um so bedenklicher die Lage, als der Wind auffrischt. Die Schneckenpostperiode ist vorüber; es kommt Tempo in die Fahrt! Um so heftiger werden natürlich die Aufpralle aufs Eis.

Sicherlich würde Andrée schon jetzt die Ballonfahrt abgebrochen haben, wäre zu dem Auffrischen des Windes nicht eine günstige Richtungsänderung hinzugekommen. Der Wind drehte nämlich mehr und mehr nach SW ab, so daß der »Örn« nach NO getrieben wurde, also in eine Richtung, die im großen und ganzen erwünscht war und obendrein die Hoffnung begründete, vielleicht noch mehr nach Norden herumzugehen. Sind wir auch nicht über jedes Wort unterrichtet, das die drei Männer unter der Ballonfahrt gewechselt haben, so läßt ihr Verhalten doch den fast zwingenden Schluß zu, daß sie in den Windverhältnissen eine gute Chance sahen und daß sie gewillt waren, diese Chance trotz der bisher ausgestandenen Strapazen auszunützen. Anders läßt sich die Tatsache nicht erklären, daß sie ihren Ballon jetzt noch einmal mit aller Gewalt hochzubringen bestrebt waren. Mit aller Gewalt: dies bedeutet, daß sie als Ballast große Mengen von Dingen abwarfen, von denen sich kein Mensch in der Einöde leichten Herzens trennt. Sie warfen nämlich von ihrem Proviant nicht weniger als 200 kg (vier Zentner!) ab!

Dieses Opfer brachte den Ballon hoch. Er trieb nun den Rest des Tages und die zweite Hälfte der Nacht flott nach Nordost. Freilich hätte die abenteuerliche Luftreise um ein Haar ein ganz unerwartetes, schreckliches Ende nehmen können. Abends um 7 Uhr entstand im Ballonkorbe nämlich ein kleiner Brand, dessen Ursache unbekannt, im übrigen nachträglich ja auch recht gleichgültig ist. Er wurde sofort entdeckt und gelöscht. Andernfalls hätte vielleicht schon in der nächsten Sekunde der »Örn« eine Flammensäule gebildet. Das Wasserstoffgas, das er enthielt, ist ja leicht entzündlich. Mit Luft gemischt, verwandelt es sich zu dem gefürchteten Knallgas, das außerordentlich explosibel ist.

Was Andrée veranlaßt hat, die flotte Fahrt nach Nordosten am Morgen des 14. Juli abzubrechen, steht aktenmäßig nicht fest. So gut wie sicher ist, daß er sie nur gezwungen aufgab. Was ihn zwang, läßt sich denken, da wir die vorhergegangenen Schwierigkeiten ja genau kennen.

Früh um 7 Uhr entschloß man sich zu der Landung. Das Eis, über dem der Ballon trieb, bildete keine völlig zusammenhängende Fläche, sondern war aufgeteilt in kleinere und größere und sehr große Schollen mit offenen Wasserstellen dazwischen. Als man sich für einen Landungsplatz entschieden hatte, wurde die Landung nach allen Regeln der Luftschifferkunst in Angriff genommen und auch kunstgerecht durchgeführt. Der Korb setzte nur zweimal auf das Eis auf. Rechtzeitig wurden die beiden Ventile geöffnet, so daß der Ballon just in dem Augenblick seinen Auftrieb einbüßte, da es geschehen mußte. Kurzum, es war eine zwar vermutlich erzwungene, jedoch mit aller Ruhe und Überlegung und in glücklichster Weise durchgeführte Landung. Beim dritten Aufsetzen blieb der Ballonkorb auf dem Eise stehen, die gelbe Kugel neigte sich zur Seite, senkte sich, ward schlaffer und schlaffer und legte sich schließlich auf das Eis, wo sie nach Entfliehen des Gases in sich zusammensank.

Der Ballon war unbeschädigt, die Insassen gesund und bei heilen Knochen, vom Material nichts zerbrochen oder verdorben. Eine Landung so glatt und elegant, daß einer sein Ballonführerexamen damit hätte bestehen können.

Die Ballonreise, die Luftfahrt war zu Ende!

Sie hatte nicht zum Ziele geführt. Aber glatt abgelaufen war sie! Wer diesen vorbeigelungenen Nordpolflug etwa eine »mißglückte Ballonfahrt« nennen will, legt heutigen Maßstab an eine Tat, die ein Drittel Jahrhundert alt ist. Ein erwünschtes Ziel nicht erreichen: das war bei den damaligen Freiballonfahrten sozusagen an der Tagesordnung und wurde nicht etwa als Mißerfolg gewertet. Ob eine Ballonfahrt glückte oder nicht, dies bewertete sich einzig und allein danach, ob Ballon und Insassen unbeschädigt blieben oder nicht.

Es hat noch neuestens Leute gegeben (wir erwähnten es schon), die dem tapferen Schweden Andrée nachträglich die Eigenschaft eines erfahrenen und bewährten Ballonführers abstreiten wollten. Dieser Naseweisheit zum Trotz stellt unser Buch als Tatsache fest: Andrée war der erste, dem eine Ballonlandung auf dem Packeise glückte, und er ist bis auf den heutigen Tag der einzige geblieben!

Ob die drei Männer sehr niedergeschlagen darüber waren, daß die auf lange Dauer berechnet gewesene Ballonreise bloß drei Tage gewährt hat, dies läßt sich nicht ohne weiteres sagen. Aber das eine ist unverkennbar: daß sie diese Wendung der Dinge »mit der Ruhe nahmen«, wie man in ihrer Heimat sagt. Der nun nötig gewordene Rückmarsch über das Eis hat sie nicht geschreckt. Gelassen und mit größter Umsicht gingen sie daran, ihre Habe zu ordnen und neu so zu packen, wie es für Fußmarsch und Schlittentransport am praktischsten war. Sie überstürzten sich hiermit keineswegs, sondern nahmen sich für diese Arbeit mehr als eine Woche Zeit.

Es ist keine nachträgliche unzarte Kritik, hier festzustellen, daß die drei mutigen Männer besser daran getan hätten, diese Arbeit weniger gründlich zu besorgen. Da aber ein Fehler, den sie begangen haben, ohne Zweifel zu ihrem unglücklichen Ende beigetragen hat, so mag er hier klargelegt werden. Dieser Fehler bestand darin, sich ohne Not übermäßig zu belasten. Sie packten sich zuviel auf und verminderten dadurch die Schnelligkeit des Zurückkommens.

Drei Schlitten hatten sie mit sich. Eigentlich nur zwei Schlitten; den dritten bildete das Boot, das man auf Kufen gesetzt hatte. Dieses Boot bestand aus einem Holzgerippe, das mit demselben Stoff überspannt war, der auch zur Ballonhülle verwendet worden war. Die drei Schlitten zusammen belasteten sie mit 690 kg, jeden also mit 230 kg. Man rechnet, daß ein Mann auf Schlittenmärschen 200 kg Last ziehen kann – so viel aber nur dann, wenn zwei Mann an einem Schlitten ziehen (beziehungsweise, wenn einer von ihnen schiebt). Bei der Andrée-Expedition hatte jeder seinen eigenen Schlitten zu ziehen und obendrein 30 kg, mehr als ½ Zentner, mehr. Dieses Übergewicht war um so weniger ratsam, als der Wanderer auf dem Packeise nicht glatte Schlittenbahn unter sich hat, sondern ein vielfach unebenes, schwieriges Eisgelände. Das höchste, was unter diesen Umständen zulässig gewesen wäre, kann man mit 150 kg veranschlagen – aber lieber noch weniger.

Es scheint aber, daß Andrée, Strindberg und Fränkel zu jenen Menschen gehört haben, die sich von nichts trennen können. Wenigstens hat man nachträglich bei ihnen eine Unmenge von Gegenständen gefunden, die mitzuschleppen wirklich überflüssig gewesen wäre. Als Beispiele seien hier bloß angeführt: zwei Kisten voll wissenschaftlicher Meßinstrumente (die sämtlich stark ins Gewicht gehen), der schwere Messinganker des Ballons, der größte Teil der Ballonhülle, eine Menge entbehrlicher Bücher und sogar alter Zeitungen und eine kleine Kiste mit amerikanischen und russischen Geldstücken (nicht Banknoten), die gleichfalls ein ansehnliches Gewicht darstellten. All diesen Gegenständen kam selbstverständlich ein nicht unerheblicher Geldwert zu. Aber was hat Geldwert zu bedeuten, wenn es sich darum handelt, das Leben zu retten! Zumal die drei Männer wohlhabend genug gestellt waren, hinterher diesen materiellen Verlust zu tragen. Daß sie offenbar nichts – wirklich gar nichts einzubüßen wünschten, beweisen auch sonstige Kleinigkeiten, deren Gewicht zwar nicht mitsprach, die aber schlecht und recht ganz unnütz waren, zum Beispiel eine weiße Frackbinde und eine Schnurrbartbinde!

Die Last, mit der sie sich ohne Not beluden, beweist andererseits, daß sie sich körperlich völlig frisch und gesund fühlten und durchaus nicht etwa als »Luftschiffbrüchige«. Das Kraftgefühl und das Bewußtsein leiblicher Frische drückt sich wohl auch in ihren Tagebuchaufzeichnungen aus. Die Deuter dieser Aufzeichnungen scheinen aus ihnen zunächst jedoch mehr herausgelesen zu haben, als sie wohl enthalten. Es ist da gesagt worden, Andrée und seine Gefährten hätten anfänglich verschmäht, den kürzesten Weg nach Spitzbergen zu wählen, und seien zunächst ostwärts marschiert, um nach Franz-Josephs-Land zu gelangen. Diese Tagebuchauslegung ist wenig glaubhaft. Die drei Schweden sind sich ohne Zweifel darüber klar gewesen, daß der Tag des Abmarsches, der 22. Juli, zu spät im Jahre war, um noch den weiteren Weg bis Franz-Josephs-Land zu bewältigen. Haben sie anfänglich östliche Marschrichtung eingeschlagen, so sicherlich aus einem anderen Grunde und nicht in der Absicht, nach jenem fernen Insellande zu gelangen. Der Grund ist leicht einzusehen, wenn man die Natur des Packeises kennt. Da der Raum dieses Buches zu knapp ist, alle bekanntgewordenen Einzelheiten und Schwierigkeiten des Marsches der drei Männer einzeln zu schildern, mag lieber die Natur des Packeises in allgemeinen Zügen klargelegt werden, weil dann der Leser den rechten Begriff von all den Schwierigkeiten bekommt, die dort zu überwinden sind. Was hier berichtet wird, beruht zum Teil auf eigener Erfahrung, in der Hauptsache jedoch auf den Angaben des Altmeisters der Polarforschung, Fridthjof Nansen – Angaben, die dem Schreiber dieser Zeilen von Nansen bei einer eingehenden Besprechung mündlich und auf ganz bestimmte Fragen gegeben wurden.

Die das große Nordpolmeer deckende Eiskalotte ist im Winter selbstverständlich viel größer als im Sommer, da sie ja eben ein Produkt der Kälte ist, während im Sommer durch Sonnenbestrahlung (und wärmere Temperatur des Wassers an den Eisrändern) vieles wegtaut. Die Eiskalotte ist das ganze Jahr hindurch in Bewegung. Im Winter ist diese Bewegung ziemlich einheitlich, nämlich von Sibirien her in Richtung auf Spitzbergen und Grönland. Diese Bewegung wird Drift genannt, und mit ihrer Hilfe hat Nansen ja seine unsterbliche »Fram«-Expedition durchgeführt. So einheitlich diese Bewegung im Winter auch ist, so besteht hinsichtlich der Grenze, bis zu der sie sich erstreckt, doch eine Art Turnus von etwa drei Jahren. Wie Schreiber dieser Zeilen in seinem Buche »Was ich in Island sah« Berlin 1925 bei Otto Uhlmann Verlag. dargelegt hat, pflegt sich das Packeis etwa jedes dritte Jahr der isländischen Nordküste stärker als sonst zu nähern und dort länger als sonst zu liegen, so daß der nordisländische Weidewirt von vornherein durchschnittlich jedes dritte Jahr als ein solches des Mißwachses einschätzt und sich mit Beschaffung von Heu aus anderen Gegenden entsprechend einrichtet. Die Gründe für diesen Turnus sind unbekannt.

Über die Dicke des Packeises hegt man gerade in Deutschland die phantastischsten Vorstellungen. Gegen das Projekt, zum Nordpol im Unterwasserboot zu gelangen, führte ein sonst ernst zu nehmender technischer Autor als Hinderungsursache die Gefahr an, unter Wasser mit Eisbergen zusammenzustoßen; da Eis nur sechs Siebentel des Gewichtes der gleichen Menge Wasser hat, von Eisbergen also nur ein Siebentel sichtbar sei, der sechsfach größere Rest aber im Wasser liege, so sei also von einem 20 m hohen Eisberg anzunehmen, daß er bis 120 m tief ins Wasser hinabreiche. Man kann ganz davon absehen, daß diese Rechnung physikalisch Unsinn ist; im Gebiet des Packeises gibt es überhaupt keine Eisberge! Die auf dem arktischen Meere schwimmende Eiskalotte ist meist nur 2 m dick; dickeres Eis als 3 m hat Nansen nur in ganz wenigen Ausnahmefällen angetroffen. Wohl aber bilden sich auf dem Packeise vielerorts kleine Eis-»Gebirge« dadurch, daß innerhalb der Eisdecke sich durch Pressung (Druck) aus verschiedenen Richtungen Schollen (oft mehrfach) aufeinander- und übereinanderschieben, nachdem das Eis mit gewaltigem Knall geborsten und in Schollen zersprungen ist. Solche Eispressungen sind – auch in anderen Meeren, wenn sie gefroren sind, zum Beispiel in der Ostsee – die größte Gefahr für Schiffe, die in das Eis einfroren. Aus diesem Grunde war Nansens »Fram« so konstruiert, daß seitlicher Eisdruck das Schiff in die Höhe hob, statt es einzudrücken.

Die arktische Eiskalotte zeichnet sich durch Armut an Schnee aus, vor allem im Winter, wie das Innere der Arktis überhaupt arm an atmosphärischen Niederschlägen ist. Leicht zu erklären, denn im Winter fehlt es an Verdunstung, an Luftfeuchtigkeit; und im Sommer fehlt es zur Wolkenbildung, wie oben erwähnt, am Staube in der Luft.

Kommt der arktische Sommer, so bleibt die Sonne ununterbrochen über dem Gesichtskreis und beginnt, je höher sie kommt, um so mehr von dem Eise aufzutauen. Es bilden sich dort, wo das Eis in größeren Flächen zusammenhält, ausgedehnte flache Tümpel von Süßwasser. Genau dieselbe Erscheinung wie bei uns, wenn im Frühjahr zwar die Eisdecke über Binnenseen und Teichen noch hält, sich Schlittschuhlaufen aber verbietet, weil zuviel Wasser auf dem Eise steht. Derartige Süßwasseransammlungen auf dem Packeise gehören für den, der dort zu Fuß marschieren soll, zum wenigst Erfreulichen. Um über sie im Boot hinwegzukommen, sind sie nicht tief genug; also müssen sie durchwatet werden, aber hinterher die Fußbekleidung zu trocknen, ist ein fast hoffnungsloses Beginnen.

Die etwas höheren Temperaturen des arktischen Sommers machen das Eis an vielen Stellen so brüchig, daß sich tiefe und breite Risse in ihm bilden. Je tiefer drinnen man sich in der Eiswüste befindet, um so seltener trifft man diese Risse an. Mehr dem Rande zu sind sie häufiger und klaffen vielfach so weit auseinander, daß ansehnliche Flächen des Meerwassers frei zutage liegen. Über sie ist nur mit dem Boot hinwegzukommen. Oder man wartet auf gut Glück, daß sie sich wieder schließen. Natürlich ist ganz ungewiß, wann es dazu kommen kann, aber daß es geschehen wird, ist stets so gut wie sicher, weil das Eis auch im Sommer in Drift ist. Verursacht diese Drift im Winter bei geschlossener Eisdecke Pressungen, die Scholle auf Scholle türmen, so schiebt diese Drift im Sommer die offenen Wasserstellen zu; das ist ganz klar. Da die offenen Wasserstellen (Waaken genannt, im Skandinavischen »Raaker«) kreuz und quer entstehen können, sondern sie an den Randgebieten oft genug riesengroße, aber auch kleinere Eisschollen ab, die nun ein selbständiges Dasein führen. Nicht mehr zusammenhängend mit der Eiskalotte, nehmen sie auch an der allgemeinen Drift des Packeises nicht mehr teil, sondern folgen nun örtlichen Strömungen. Geht heftiger Wind, so folgen sie dem Winde. Andernfalls führt die Wasserströmung sie mit. Ob das Meerwasser unter dem Eise eine Strömung von Sibirien her in Richtung nach Grönland und Spitzbergen aufweist, entsprechend der Drift des Packeises, dies ist noch unbekannt, läßt sich im allgemeinen aber vermuten. Fest steht, daß sich um Spitzbergen herum und in dessen Norden Stromwirbel bilden. Geraten treibende Eisschollen (auch ganz große) in sie hinein, so werden sie mitgeführt, im Kreise herumgetrieben, stoßen mit anderen zusammen, zermahlen sich an den Rändern, zerbrechen in kleinere Schollen. Derartige Zerstörung der Eisschollen geht am gründlichsten vor sich an Küsten, weil dort noch die Brandung hilft. Deshalb wird eine Wanderung über das Packeis um so gefährlicher, je mehr der Wanderer sich festem Lande nähert. Tiefer drinnen in der Eiswüste ist er kaum in ernstlicher Gefahr, sofern er nur sonst mit allem versehen ist, was zur Erhaltung des Lebens nötig ist. Kommen ihm aber Küsten in Sicht – gleich, ob er auf sie zu marschiert, gleich, ob Strömung seine Eisscholle dorthin führt – so mag er sie nicht als »rettendes Gestade« begrüßen! Denn dort geht sein wirkliches Leiden erst an! Fest ist das Eis an jenen arktischen Küsten erst tief im Winter und dann bis in den Juni hinein.

Was Andrée, Strindberg und Fränkel von dieser Natur des Packeises bekannt gewesen ist, läßt sich heute im einzelnen nicht mehr feststellen, aber es ist selbstverständlich, daß sie das Wissen ihrer Zeit darüber in sich aufgenommen hatten, dies heißt: bis zu den Erfahrungen, die Nansen gemacht hatte. Zu Nansens Erfahrungen gehörte nicht die Kenntnis von den Schraubenbewegungen, die das Packeis in jenen Gebieten macht, in die die drei Ballonfahrer geraten waren; diese Bewegungen kennen wir erst seit der »Italia«-Katastrophe und den wider Willen gemachten Erfahrungen General Nobiles und seines schwedischen Kameraden Malmgren, der zusammen mit zweien der Italiener festes Land im Fußmarsch zu erreichen suchte. Andrée wußte vermutlich nur von einer allgemeinen Packeisdrift in einer Richtung, die nördlich von Spitzbergen als WSW anzunehmen ist. Als der kluge und praktische Mann, der er war, hat er zweifellos erkannt, daß der, der nach Süden über das Eis gelangen will, die Drift in Rechnung stellen muß, in der sich sein Marschgrund befindet: daß der Fußwanderer also nach SO halten muß, wenn er auf dem treibenden Eise nach Süden gelangen will – wie ja auch jeder Schwimmer, der einen Fluß queren und eine Uferstelle gegenüber erreichen will, nicht einfach auf diese zu schwimmen darf, sondern wegen der Strömung auf einen Punkt weiter oberhalb halten muß. So also erklärt sich wohl die Marschrichtung, die die drei Mann am 22. Juli einschlugen – nicht aus dem phantastisch anmutenden angeblichen Bestreben, bis Franz-Josephs-Land zu gelangen.

Die Schwierigkeiten, die von den drei Schicksalsgenossen auf der Eiswanderung zu überwinden waren, brauchen wir nicht im einzelnen zu erläutern und anzuführen. Nach dem, was wir von der Natur des Packeises erzählt haben, ist ja klar, daß es große Mühe kostete, mit dem schweren Gepäck voranzukommen, daß sie oft genug durch Nässe zu waten hatten und mehr als einmal mit ihrem Boot sich und ihre Habe über Waaken hinüberschaffen mußten – Anstrengungen, die natürlich gewaltig an den Körperkräften zehrten. Schon am vierten Tage der Wanderung sahen sie ein, daß sie sich zu schwer belastet hatten. 180 kg wurden da zurückgelassen, sicherlich schweren Herzens, aber doch immer noch zu wenig. Denn 170 kg hatte auch jetzt noch jeder zu ziehen. 100 kg wäre richtiger gewesen!

Freilich entwickelten sich die Dinge jetzt so, daß die Männer, selbst bloß mit dem Rucksack auf dem Rücken und ohne Schlitten, nicht weiter nach Osten oder Südosten hätten vordringen können. Die Eisdecke unter ihren Füßen begann nämlich in schnelle westliche Drift zu kommen. Die Eisbewegung wurde also der Marschrichtung mehr und mehr entgegengesetzt, und sie übertraf die Marschierenden an Geschwindigkeit. Auch an solchen Tagen, an denen sie wegen guter Bahn gute Marschleistungen zu verzeichnen hatten, gelangten sie in Wahrheit nicht nach Osten, sondern wurden westlich abgetrieben. Am 4. August wurden sie sich klar darüber, daß es so nicht weitergehen durfte. Sie beschlossen jetzt, geradeswegs südlich zu marschieren, in der Zuversicht, so zu den südwestlich von ihnen gelegenen Sieben Inseln (Syvöyane) zu gelangen, wo ein Depot für sie angelegt war.

Ohne es zu wissen, befanden sie sich jetzt schon in dem Gebiet der schraubenförmigen Bewegungen des Packeises, beziehungsweise der treibenden großen Schollen. Es sollte ihnen dies jedoch bald klar werden, denn die Drift ging bald nach Süden herum, und mit ihr kamen sie verhältnismäßig schnell voran. Am 8. August wurde schon der 82. Breitenkreis passiert. Dann freilich setzte ein Schrauben und Karussellfahren ein. Man kommt wieder nördlicher, dann wieder südlicher, nochmals – mehrere Tage hindurch – nach Nordwesten, bis endlich, nach dem 27. August, die Drift in südlicher Richtung weitergeht. Dieses Hin und Her ist auf der kleinen Übersichtskarte unseres Buches nur durch zwei Schleifen angedeutet, in größerem Maßstabe würde dieser Irrweg eine äußerst verschlungene, teilweise durcheinander gehende Zickzacklinie darstellen. Das Gebiet dieses Hin und Her ist fast dasselbe, wo einunddreißig Jahre später die »Italia« verunglückte und die Nobile-Leute mit ihrem berühmt gewordenen »roten« Zelt wochenlang umhertrieben. Die Schiffbrüchigen der »Italia« haben 1928 den Zickzackweg, den das Eis zu ihren Füßen beschrieb, durch astronomische Beobachtungen genau bestimmt und kartenmäßig festgelegt. Für die Wissenschaft, die sich mit diesen Dingen befaßt, ist es nun von außerordentlichem Werte, daß auch Andrée (trotz aller Strapazen der Eiswanderung) nicht unterlassen hat, eine Menge gleicher Beobachtungen anzustellen und in sein »Observationsbuch« einzutragen. Da dieses Buch noch heute lesbar ist, läßt auch sein Weg, läßt auch die damalige Eisdrift sich nachträglich genau ermitteln, und aus dem Vergleiche zwischen seinen Messungen und den späteren des Generals Nobile wird die Wissenschaft äußerst wertvolle Einsicht in Strömungs- (und Wind-) Verhältnisse dieses Gebietes erhalten. Zu welchen Ergebnissen man kommen wird, läßt sich im Jahre 1930 noch nicht sagen, denn die Bearbeitung solches Materials nimmt Monate in Anspruch. Aber das eine steht fest: Die Wissenschaft zieht wertvollste Erkenntnisbereicherung daraus, daß dort – im selben Gebiet – erst 1893, dann 1928 Nordpolflieger Gefangene des Eises waren.

Für den wissenschaftlichen Geist, von dem Andrée neben allem Mute und aller Tapferkeit auf der Eiswanderung beseelt gewesen ist, muß überhaupt ein Preis- und Loblied angestimmt werden. Dieser Mann, über den seine außerschwedische Mitwelt vielfach die Achseln zuckte, und der in der Erinnerung gerade vieler Deutscher nur als besserer Scharlatan fortgelebt hat – dieser Mann steht schon heute, da sein wissenschaftlicher Nachlaß erst gesichtet, jedoch noch nicht durchgearbeitet ist, als ein Forscher da, der unsere Erkenntnis über die Natur der Eiskalotte und des Nordpolmeeres mit einem Reichtum an Beobachtungen gefördert hat, wie er wohl nur von der Ausbeute der »Fram«-Expedition übertroffen wird. Über all und jedes, was von irgendeinem wissenschaftlichen Gesichtspunkte aus bemerkenswert sein konnte, hat Andrée Buch geführt und hat sogar alles, was sich auf dem Treibeis oder eingefroren in ihm fand, gesammelt und mit sich genommen. Bei allem täglichen Sich-abschinden-müssen unter den Schwierigkeiten des Eises hat er noch Sinn und Lust gehabt, sich mit Dingen zu befassen, die wirklich sorgsam behandelt werden mußten, sofern ihr Einsammeln Sinn haben sollte. Seine Aufzeichnungen betreffen nicht nur Positionsbestimmungen, Eisdrift und Eisbeschaffenheit, sondern auch alles Meteorologische, ja sogar den Vogelflug. Und seine Sammlung an Funden besteht aus zwanzig Nummern und enthält Treibholz, Blattpflanzen, Moose, Steine, Erdarten. Die Aufgabe der heutigen Fachleute, denen ein günstiges Geschick diese Funde erhalten und in die Hand gespielt hat, wird darin bestehen, die Herkunft der Funde zu ermitteln. Hat man die Gegend ermittelt, aus der die vom Eise mitgeführten Gegenstände stammen, so lassen sich aus dem Vergleiche mit dem Fundorte Schlüsse ziehen auf den zurückgelegten Weg und also auch auf die Drift des Packeises. Es steht zu wünschen, daß die künftige wissenschaftliche Ausbeute aus Andrées Beobachtungen und Funden nicht in Fachwerken begraben bleiben möge, sondern daß die Öffentlichkeit später einmal zusammenhängend über ihren Wert unterrichtet wird. Andrée hat den »großen Namen« verdient, der da bleibt, wenn der Leib in Staub zerfallen.

Die Menge und Exaktheit der unter dem Eismarsche geleisteten wissenschaftlichen Arbeit zeugt nebenbei auch für Zuversicht, gute Stimmung und seelisches wie körperliches Wohlbefinden der drei Schicksalsgenossen. Die Sorge, die anfänglich wohl als größte auf ihnen gelegen hat: die Magenfrage, war schon am 19. Juli so gut wie behoben, denn an diesem Tage wurde der erste Eisbär erlegt. Für drei Mann gibt solch ein Riesentier Proviant auf lange Zeit. Zur guten Stimmung trug auch bei, daß die drei Männer sich untereinander offenbar sehr gut verstanden und vertragen haben. Strindberg und Fränkel neigten an sich zu Fröhlichkeit und Lustigkeit, und sie haben sich ihre gute Laune unterwegs durch nichts verderben lassen. Fränkel hatte sogar zur Vertreibung der Langeweile in die große Einsamkeit ein Notizbuch mitgenommen, wo hinein er eine Unmenge von Witzen und Anekdoten geschrieben hatte, mit denen er seine Gefährten unterhalten und nötigenfalls aufheitern wollte. Dieses Notizbuch ist nachher bei den Toten gefunden worden. Nebenher mag hier – um zu kennzeichnen, wie solche Dinge bei den Amerikanern in USA. aufgenommen werden – erwähnt werden, daß dortige Zeitungen telegraphisch baten, recht viele von Fränkels Witzen hinübertelegraphiert zu bekommen. Diese Witze interessierten offenbar mehr als das tragische Geschick der drei Nordpolflieger. Wenn wir wollten, könnte auch unser Buch eine schöne Blütenlese aus Fränkels Anekdotenbuch enthalten; aber es ist wohl würdiger, diese Versuchung abzuweisen.

Zu Strindbergs und Fränkels Art hat die Andrées gut gestimmt. Auch Andrée neigte zu einer gewissen Art Humor, die man bei uns »keß« nennt. Sie äußerte sich darin, ernste Dinge und ernste Situationen gern mit etwas »schnoddrigen« Ausdrücken zu kennzeichnen und ihnen hierdurch von ihrem Ernst etwas zu nehmen. Solche Art steht Führernaturen Jugendlicheren gegenüber gut an und gefällt den Jüngeren. Das gute Verhältnis zwischen den dreien gründete sich wohl auch darauf, daß Andrée den Jüngeren ehrliche Sympathie entgegenbrachte und unter all den Mühsalen väterlich für sie besorgt war. Sie haben es ihm gedankt durch gleiche Treue, Hingebung und Unerschrockenheit in kritischen Lagen.

Nachdem ihre Eisscholle am 27. August wieder in südliche Drift gekommen war, ging es flott voran. Aber Anfang September machte sich der kommende Winter bemerkbar. Es wurde kalt und unfreundlich. Die Nässe wich nicht mehr von ihnen. Strindbergs und Fränkels Gesundheit ließ nach und nach zu wünschen übrig. Heftige Durchfälle stellten sich ein, ebenso Fußleiden – und gesunde Füße sind bei solcher Eiswanderung das Wichtigste! Aber auch diese Widerwärtigkeiten wurden geduldig ertragen. Mißstimmung ließ keiner aufkommen, trotzdem die Verdauungsbeschwerden den beiden Jüngeren zu schaffen machten und sie auch stark ermüdeten. Hinter all dieser Beschwer stand aber die Tatsache, daß man in gutem Tempo südlich vorankam, und die Hoffnung, nun bald die Syvöyane zu erreichen.

Am 4. September war Strindbergs Geburtstag. Man ließ ihn nicht ungefeiert, soweit dies auf dem Eise eben möglich war. Strindbergs größte Freude waren wohl briefliche Glückwünsche seiner Braut und seines kleinen Bruders, des noch heute lebenden Bildhauers Tore Strindberg. Das Geburtstagskind hatte die Briefe mitbekommen mit der Order, sie erst am Festtage zu öffnen!

Drei Tage später wird der 81. Breitenkreis passiert. Fünf Tage später kommt in weiter Ferne das erste Land in Sicht: die Föyn-Inseln. Was man schon in den letzten Tagen geahnt hat, wird jetzt Gewißheit: die Richtung der Eisdrift machte es unmöglich, zu den Sieben Inseln zu gelangen, die ja noch wesentlich weiter westlich liegen als die Föyn-Inseln. Die Drift ändert sich obendrein unverkennbar und geht hinüber nach Ostsüdost, also hinweg von Nordostland (Spitzbergen). Die drei Männer stehen jetzt einer neuen Lage gegenüber. Müssen sich einrichten, weit länger als gedacht auf dem Eise zu bleiben. Die erste Maßnahme, die ergriffen wird, ist Neueinteilung der Essensvorräte. Die Tagesrationen werden beschnitten. Es gibt fortan nur 400 g Fleisch täglich, 200 g eines pulverisierten Gemisches von getrockneten Gemüsen und ähnlichen Vegetabilien mit Fetten, unter dem Namen »Mellins Food« jedem Polarfahrer bekannt, und 75 g Zwieback.

Die Föyn-Inseln schwinden wieder aus dem Gesichtskreis. Weiter und weiter geht die Drift nach Südosten. Auf Fußmärsche haben die drei schon seit drei Tagen verzichtet. Was nützt es, auf treibender Scholle Märsche auszuführen, die doch zu keinem Ziele führen!

Die Temperaturen sinken. Kälter wird es, arktischer Winter kündet sich an. Der Polartag ist zu Ende. Zehn Stunden währt kalte Nacht. Nicht länger läßt sich unter freiem Himmel kampieren. Man muß für Unterkunft sorgen, für ein Dach über dem Kopf, für vier Wände als Schutz gegen Winde und Kälte.

Wovon bauen? Ein Zelt hat man nicht bei sich. Und hätte man es oder baute man eines aus Teilen der mitgeführten Ballonhülle: viel zu dünn, zu leicht gegenüber der Unbill der Arktis. Wer in der Arktis hausen muß, muß von der Arktis leben. Muß mit dem auskommen, was sie bietet. Der's am besten gelernt hat, ist der Eskimo. Er baut sich mollig warme Hütten aus Schnee! – Wie eine Schneehütte entsteht, wie sie von außen und von innen aussieht, das weiß aus Bild und Film heute wohl ein jeder. Weniger bekannt dürfte sein, wie es möglich ist, im heißen Innern einer solchen Schneehütte zu leben. Die Hitze darin muß doch den Schnee schmelzen! Und es muß doch darin eigentlich das Wasser von den Wänden laufen, jeder Neubauwohnung zum Trotz! Die Sache mag hier, da Gelegenheit dazu, erklärt werden. Selbstverständlich schmilzt der Schnee im Innern der Hütte. Aber das Schmelzwasser tropft und rinnt nicht hinab, sondern wird von dem noch nicht getauten Schnee eingesogen wie Tinte vom Löschblatt. Die Nässe geht durch die Schneewände nach außen hindurch und gefriert dort zu Eis. Naturgemäß kommt ein Zeitpunkt, zu dem aller Schnee wegtaut und zu Eis geworden ist; dann wird das Schmelzwasser nicht mehr aufgesogen, sondern rinnt höchst lustig die Wände hinab. Ehe es jedoch mit den Wänden so weit kommt, ist dieser Prozeß an der Decke, am höchsten Punkt der Schneekuppel, so vorgeschritten, daß sich dort oben ein Loch bildet, eine ringförmige Öffnung, durch die Kälte und gegebenenfalls Niederschläge hereindringen und die Hütte sowieso unbewohnbar machen. Dann muß eben umgezogen werden – in eine neue Hütte, deren Baustoff von der Natur gratis geliefert wird und die ein geübter Eskimo in zwanzig Minuten fertig hat.

Weiter oben in diesem Kapitel ist erwähnt, daß die arktische Eiskalotte arm an Schnee ist. Auch auf ihrer Scholle fanden Andrée und die Seinen nicht Schnee genug zum Hausbau. Deshalb waren sie genötigt, sich eine Hütte aus Eisschollen zusammenzubauen. Der wenige Schnee, der sich fand, wurde benutzt, die Eishütte innen damit sozusagen »abzuputzen«. So hatte man einen Schutz wenigstens für die Nachtstunden.

Kaum war die Eishütte fertig, so erlebten die drei Mann einen wahren Freudentag. Am 17. September war es. Wieder kam Land in Sicht! Ein flach gewölbter, ziemlich hoher Buckel, leuchtendweiß, schneebedeckt. Land hatten sie schon vorher gesehen, nämlich die Föyn-Inseln. Aber an denen waren sie in großem Abstande vorübergetrieben worden, so daß kein Gedanke daran gewesen, sie etwa zu erreichen. Aber dieses Land hier, das vor ihren Blicken auftauchte – auf dieses Land ging es schnurstracks zu! Hier sah man ein Ziel vor sich! Ein Ende der Eiswanderung und der Eisfahrt! Hier zeigte sich ein Stück der Mutter Erde nicht bloß als wieder entschwindendes Phantom, sondern als abschließender Richtpunkt des Kurses, den die Drift hielt!

Soll man sich wundern, daß über die drei Männer da eine große Lustigkeit kam – eine Ausgelassenheit – ein Freudentaumel? Ein richtiges Freudenfest wurde veranstaltet. Das Beste wurde hervorgesucht – nicht nur was die Küche, sondern auch was der Keller bieten konnte. Jene Flasche Portwein vom Jahre 1836, die König Oskar II. gestiftet, wurde jetzt geleert. Sie steigerte die Stimmung so, daß das Kleeblatt fröhliche Lieder anstimmte und in die Einsamkeit der weißen Wüste hinausschallen ließ ...

Die Freude war verfrüht. Die Scholle trieb nicht an die Küste hinan. Nur bis in ihre Nähe, dann bog sie südlich ab. Kein Wunder; die Strömung, mit der das Eis trieb, konnte an der Küste nicht still stehenbleiben, sondern mußte zur Seite ausweichen. In diesem Falle wich sie nach rechts aus. So ging die Reise weiter.

Fast zwei Wochen hat sich die Scholle in der Nähe des Landes gehalten. In und vor der Bucht, die wenig tief in die Südküste der Hvitöya eindringt, ist sie umhergetrieben, bald hierhin, bald dorthin. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Andrée mit den Gefährten hundertfach erwogen und vielfach versucht hat, aufs feste Land zu kommen, aber gelungen ist es ihnen nicht. Die früher geschilderten schwierigen Eisverhältnisse an arktischen Küsten währen bis in den Oktober hinein. Es ist vorher keine Möglichkeit, über die durch den Brandungsgürtel gekennzeichnete unsichere Eiszone hinwegzukommen – auch im Boot kaum.

Bei dem Treiben an der Südküste Hvitöyas ist die Scholle mit dem Eishaus kleiner und kleiner geworden, teils durch Kollision mit anderen Schollen, teils durch Eispressung. Die dem Eise bedrohliche Nähe des festen Landes brachte aber doch auch Vorteile für die Gefangenen des Eises. Jagdbares Getier fand sich ein und wurde erlegt. Am 18. September ein Seehund, am nächsten Tag deren zwei und ein Walroß und am 20. September sogar ein Eisbär. Andrée ist höchst zufrieden. Vor Hunger sind sie jetzt gesichert. Alles andere wird sich finden.

Die Vorräte müssen verstaut werden, die längere Dauer des Aufenthaltes auf dem Eise macht nötig, für ein entsprechendes »Heim« zu sorgen. Die Eishütte wird vergrößert, wird »Hem« getauft und am 28. September bezogen. Die Männer richten sich jetzt langsam darauf ein, auf dem Eise überwintern zu müssen. Das schreckt sie nicht. Im Winter ist das Eis fest und sicher. Man fühlt sich beim Kommen des Winters jetzt daher fast geborgen.

Doch der 2. Oktober brachte eine völlige Umwälzung ihrer Lage. Gewaltiges Krachen schreckt sie am frühen Morgen aus dem Schlafe, dem sie sich in ihrem Eisheim hingegeben. Sie stürzen ins Freie. Noch ist es kaum hell. Dennoch übersehen sie sofort, welche Katastrophe sie betroffen hat. Ihre Eisscholle ist durch Eispressung zerschmettert. Hat sich geteilt in viele kleine Schollen. Auf einer der größten befinden sie sich selber. Auf anderen schwimmen wertvolle Teile ihrer Ausrüstung davon. Genug davon ist auch ins Wasser gefallen.

Nichts darf verlorengehen, sonst sind sie selber verloren! Es gibt eine wahnsinnige Arbeit, dies alles wieder herauszufischen, von den abtreibenden Schollen herunterzuholen und alles wieder zu sammeln. Hätten sie etwa kein Boot mehr gehabt, wäre ihr Schicksal schon jetzt besiegelt gewesen – und die Nachwelt hätte weder sie noch ihre wissenschaftlichen Beobachtungsergebnisse je gefunden. Mit Hilfe des Bootes bringen sie in drei verzweifelten Tagen das Wesentlichste wieder zusammen, ja, es gelingt ihnen jetzt sogar, durch offenes Wasser bis zur Küste zu gelangen und eine Stelle zu finden, wo diese zugänglich ist. Alles Gerettete wird dorthin geschafft. Nun haben sie wieder festen Boden unter den Füßen!

Aber was für einen Boden! Nichts als Stein, Felsen, Klippen. Das Gelände ziemlich flach, aber auch nur gering an Umfang: das Inlandseis, das sonst fast die ganze Insel deckt, ist hier bis auf 1 km vom Ufer zurückgetreten. Dieses Fleckchen felsiger Erde ist nun ihr Reich. Spuren von Moosen deuten an, daß es im kurzen Sommer hier stellenweise wohl etwas grün aussehen mag. In einiger Entfernung zeigen sich auch Brutstätten von Seevögeln. Um so besser! Sie sollen etwas Abwechslung ins Menü bringen.

Mit ihren drei Schlitten schaffen die drei Mann all ihre Habe landeinwärts. Etwa 150 m vom Strande bildet das felsige Gelände einen Hügel, eigentlich nur einen Buckel, denn er erhebt sich kaum 5 m über das Meeresniveau. Auf der Nordseite bricht der Buckel in eher ½ m tiefen Stufe ab. Die Felskante hängt dort etwas über. Baut man an sie eine kleine Hütte an, so ist man verhältnismäßig gut geschützt. Und sie bauen. Aus Treibholz, das sich am Gestade in beträchtlichen Mengen angesammelt, wird die Nordwand und die Ostwand errichtet, jene 1½ m lang, diese 1 m lang. Die dritte Wand, nach Westen, wird aus den Rippen des wenige Tage zuvor erlegten Walrosses gebildet, die man mit Segeltuch und Ballonstoff überkleidet. Die vierte Wand wird vom natürlichen Felsen gebildet. Zum Dach nimmt man, wie selbstverständlich, von dem wasserdichten Gewebe.

Die Hauptbeschäftigung der Männer besteht anfänglich in Ergänzung der Eßvorräte. Aus ihren hinterlassenen Aufzeichnungen hört man darüber nichts mehr, doch was man so viele Jahre später in ihrem Todeslager fand, sprach eine laute Sprache. Zwei Eisbären waren erlegt, geschlachtet, abgehäutet, zerlegt. Ein großer Haufen Federn erzählte, daß auch das Heer der Seevögel den menschlichen Eindringlingen seinen Tribut hat zollen müssen. Es ist von Andrée und seinen Gefährten also unverkennbar eifrig gejagt worden.

Sonst ist das Schicksal der drei Männer auf Hvitöya in Dunkel gehüllt. Von Strindberg hat sich eine letzte Notiz gefunden, die er am 17. Oktober geschrieben hat. Sie ist nur eine Anmerkung über die Stunde der Rückkehr an diesem Tage – der Rückkehr offenbar von einer Jagd. Im übrigen schweigen alle schriftlichen Aufzeichnungen. Dennoch gibt der Zustand, in dem Horn und zumal Stubbendorf das Todeslager antrafen, die Möglichkeit, über das schließliche Ende der drei wackeren Männer ein ziemlich klares Bild zu gewinnen. Strindberg ist ohne Zweifel zuerst gestorben, denn seine Leiche war regelrecht beigesetzt und (statt mit Erde) mit Steinen zugedeckt. Wann er gestorben ist, entzieht sich jeder näheren Vermutung. Aber jedenfalls war er schon unterwegs krank gewesen, kränker als Fränkel, dessen Zustand in den letzten Wochen auch zu wünschen übrig gelassen hatte, wie berichtet. Strindberg litt an heftigen Diarrhöen und an Fußverletzungen. An Fußwunden stirbt im allgemeinen kein Mensch; es bleibt daher die Wahrscheinlichkeit, daß die gestörte Verdauung sich zu einem gastrischen Fieber gesteigert hat. Sehr nahe liegt auch der Gedanke, daß Strindberg von einer Art Grippe befallen wurde und dadurch schnell starb. Wetter, Verpflegung, schlechte Unterkunft waren solcher Grippe günstig. Wer den Rückzug des deutschen Heeres 1918 mitgemacht hat, wird Fälle genug kennen, daß die gleichen Umstände Todesopfer in ganz kurzer Zeit und gerade unter den jüngeren Leuten forderten. Der Gedanke an eine Grippe liegt um so näher, als aus den Umständen auch herauszulesen ist, daß auch Fränkel vor Andrée starb, also auch in diesem Falle der Jüngere vor dem Älteren. Fränkels Leiche ist in der Hütte gefunden worden, ist also nicht bestattet worden. Andrée hat den Tod außerhalb der Hütte gefunden. Nicht, wie man vermuten könnte, überraschend. Er lag dort, sorgsam mit seinem Rock zugedeckt, die Flinte im Arm, sein Observationsbuch und sein Tagebuch sorgfältigst eingehüllt und unter sich, also dieses für die Nachwelt so kostbare Gut mit seinem Leibe deckend. So stirbt kein Mann, den der Tod unversehens fällt. So stirbt nur einer, der, ergeben ins Schicksal, auf das Nahen des Todes wartet. Der Hergang dürfte jedem, der mitfühlen kann, klar sein: Strindberg hatten beide begraben, dann erkrankte Fränkel und starb, in der Hütte liegend, Andrée unter den Händen. Übermenschlicher Schmerz ergriff da den Mann, der sich für beider Jugend wohl nicht bloß verantwortlich fühlte, sondern dem beide – Andrées Tagebuchnotizen beweisen es – ans Herz gewachsen waren wie einem Vater zwei Lieblingssöhne. Groß im Schmerze wie ein antiker Heros schritt Andrée da hinaus zur Hütte und legte sich nieder, mit Ergebenheit den weißen Tod als Erlöser erwartend.

siehe Bildunterschrift

Und der weiße Tod kam und deckte sanft und sorgsam sein weißes Leichentuch über drei Männer.


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