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Aus die große Tragödie! Verschollen im ewigen Eise die drei kühnen Forscher! Verschollen in dreiunddreißig langen Jahren!
Hörte die Welt nie von ihnen? Deckte sie das große weiße Schweigen?
Man hörte von ihnen. Etliches Zutreffende. Manches Mißweisende. Viel Unwahres. – –
17. Juli 1897. Die Murmanküste herauf steuert der holländische Dampfer »Dortrecht«. Vom Onega-Golf nach Grimsby mit Holzladung. Auf der Kommandobrücke stehen Kapitän Lehmann und Erster Steuermann Visser. Da deutet der Steuermann auf die See hinaus. Dort schwimmt etwas. Etwas Großes, Unförmiges.
Die Gläser her! Was kann das sein? Ein sinkendes Schiff? Weit, weit weg ist es. Liegt ab vom Kurs. Also herum das Schiff und auf dieses Etwas zu!
Man kommt näher. Das Etwas wird größer. Doch nicht besser erkennbar.
»Mensch, was is' das bloß?« fragt Kapitän Lehmann.
Visser zuckt die Achseln. »Ein Riff kann's nicht sein, sonst hätten wir's auf der Karte. Ein Schiff ist's auch nicht. Wie sich das bei jedem Windstoß buchtet und bläht! Als wenn's aus Stoff wäre. Ein toter Wal? Riechen tut man nichts, und von Vögeln sieht man auch nichts als drei oder vier. Da – da setzt sich einer drauf. Aber er fliegt schon wieder weiter. Nein, 's ist auch kein Wal.«
Jetzt war die »Dortrecht« nur noch eine Seemeile von dem rätselhaften Etwas ab. Aber noch immer war nicht auszumachen, was es sein konnte. Seetang? Auch nicht! Gelblichbraun sah es aus, mochte halb so lang sein wie das Schiff, also etwa 150 Fuß. Lag nicht still, sondern plantschte im Wasser hin und her. Sonderbar, höchst sonderbar! Aber nichts Lebendes war darauf oder daran zu erblicken. Auch keinerlei Tauwerk.
Der Seemann sieht manches Merkwürdige auf dem Wasser treiben. Hat er sich überzeugt, daß nicht etwa Menschenleben in Gefahr sind, so kümmert er sich nicht weiter darum. Man kann nicht alles auffischen, was dort draußen herumtreibt. Zeit ist Geld!
So dachte auch Kapitän Lehmann. Trug den Vorfall ins Journal ein und nahm den alten Kurs wieder auf, ohne der Sache auf den Grund gegangen zu sein. Als die »Dortrecht« in Grimsby ankommt, hört die Besatzung von Andrées Ballonexpedition (von der sie nichts wußte, da Andrée es unterlassen hatte, sein früher besprochenes Flugblatt in Holland verteilen zu lassen). Sofort ist man sich einig: Was wir dort oben in der »Weißen See« sahen, war der Andréesche Ballon!
Der Draht meldet es am 28. Juli nach Stockholm. Dort glaubt man nicht. Ist fest überzeugt, daß sich Andrée mit seinen Gefährten längst in Alaska oder Nordsibirien befindet. In der Tat meldet der norwegische Eismeerhafen Vardö am 10. August: Es ist festgestellt, daß der vermeintliche Ballon ein toter Walfisch war. Für die große Öffentlichkeit ist die Sache damit abgetan. Nicht so für die Wissenschaftler. Zumal der in diesem Buche genugsam besprochene Professor Nils Ekholm hat bis zuletzt die These verteidigt, jenes Etwas sei doch der Ballon gewesen; Andrée habe in der Erkenntnis, das Polarbassin nicht überfliegen zu können, höhere südliche Winde aufgesucht, um sich nach Finmarken oder Kola treiben zu lassen, sei aber nur bis in die Nähe der Murmanküste gekommen, dort mit dem Ballon ins Meer gestürzt und ertrunken.
Am 17. August 1897 erfuhr die Welt, daß eine Nachricht von Andrée zu Menschen gelangt sei. Aber die Nachricht selber erfuhr man noch nicht, sondern mußte auf sie länger als zwei Monate warten. Es läßt sich denken, wie groß da die Spannung wurde und wie qualvoll dieses Warten für die Angehörigen der drei unerschrockenen Männer gewesen sein muß.
Die Sache hing so zusammen, daß eine Brieftaube sich ermattet im Takelwerk des in Hammerfest beheimateten Eismeer-Fangschiffes »Alken« niedergelassen hatte und von einem der Matrosen abgeschossen worden war. Sie hatte eine Botschaft Andrées bei sich. Diese Neuigkeit brachte ein vom Eismeer heimkehrendes Schiff mit. Doch den Inhalt der Botschaft konnte man erst erfahren, wenn die »Alken« von seiner Fangreise nach Hammerfest zurückkehrte. Drahtlose Telegraphie gab es ja damals noch nicht.
Der 19. September brachte die Spannung, in der sich die Welt befand, endlich zur Lösung. Andrées Botschaft war an die Stockholmer Zeitung »Aftonbladet« gerichtet und hatte folgenden Wortlaut:
13. Juli mittags 12,3o. Breite 82° 2', Länge 15° 5' östl. Gute Fahrt Kurs Ost 10° Süd. An Bord alles wohl. Dies ist die dritte Taubenpost.
Diese Meldung weckte Bestürzung. Sie bewies, daß der »Örn« in 46 Stunden nicht mehr als 220 km zurückgelegt hatte – und daß er bei Fliegenlassen der Taube Ostkurs mit Abweichung nach Süden gehabt hatte, sich also vom Nordpol entfernte!
Weitere Nachricht von Andrée blieb in diesem Jahre aus, ebenso im folgenden Jahre. Diese eine Taube war die einzige von zweiunddreißig, die den Weg zu Menschen fand.
Ende 1897 schien festzustehen, daß die Ballonfahrer verunglückt sein mußten. Schon im Winter beschloß Schweden, eine neue Expedition auszurüsten, um nach den mutigen Landsleuten im Eismeer zu suchen. Es sei gleich hier gesagt, daß das Land sich nicht mit einer Expedition begnügte, sondern in den nächsten Jahren mehrere aussandte, in die Gewässer östlich und nördlich Spitzbergens wie auch zum nordöstlichen Grönland. Gefunden haben sie nichts, obgleich Mitglieder der einen Expedition im Sommer 1898 dicht bei den Leichen gestanden haben – vielleicht auf ihnen! Es war die Expedition des Professors A. G. Nathorst, die erst die unter dem Namen »König-Karls-Land« zusammengefaßten Inseln östlich von Spitzbergen besuchte und dann zur Hvitöya hinaufging. Einer der Teilnehmer, Professor Gunnar Andersson, erzählt davon in der schwedischen »Woche« (dem »Vecko-Journal«) vom 7. September 1930:
»Im Norden kam etwas eigenartig gewölbtes Helles in Sicht, anscheinend ein von Eis völlig bedecktes Land. Gegen Mittag waren wir ihm beträchtlich nähergekommen. Da es jetzt auch klarer wurde, sahen wir daß wir eine blendendweiße Insel vor uns hatten, gewölbt gleich dem Rücken einer Schildkröte, ganz und gar bedeckt von überschneitem Eis, das am Ufer als lotrechte Eiswand abbrach. Als wir jedoch gegen sechs Uhr abends die Nordostspitze der Insel erreicht hatten, erblickten wir auf flacherem Lande dunkle Flecke. Dr. Hamberg und ich wurden mit einem Boot hinübergesandt. Unser Besuch dort blieb jedoch so kurz wie nur denkbar, denn kaum hatten wir ein paar Proben von dem dunklen Gestein genommen, so rief uns die Dampfpfeife an Bord unseres Schiffes ›Antarctic‹ zurück. Auf die Küste zu kam Treibeis und brachte das Schiff in Gefahr, gegen das Land gepreßt zu werden. Die Landzunge, der unser kurzer Besuch gegolten hatte, war unbeschreiblich öde und abschreckend: zwischen dem kalten, weißen Eise und der blauen See nur ein paar niedrige, nackte Steine.
Am folgenden Tage gingen wir zwischen Treibeis bei frischer Brise mit Schnee die Westküste der Insel südwärts hinab. Die Westküste sah genau so aus wie die Ostküste: ein weißer Eisbuckel, der am Ufer als Eiswand abbrach. Nirgends ein Fleck, wo man hätte landen können. Erst an der Südwestküste fanden wir eine Landzunge, die sich wie eine lange Nase vorschob. Wieder wurde ein Boot ausgesetzt. Diesmal gingen wir zu dritt an Land, Professor Nathorst mit uns. Wir fanden ungefähr dasselbe wie den Tag zuvor, eine Lage Urgestein, bestehend aus Granit und Gneis. Am Ufer war Treibholz angetrieben. Pflanzenwuchs war äußerst dürftig, nur etliche Gräser und Moose. Die Vogelwelt war vertreten durch eine Masse Eismöwen. Wir sahen ihre moosbekleideten Brutstätten zwischen den Klippen. Ringsumher war alles von Neuschnee bedeckt. Er muß der Grund gewesen sein, daß Professor Nathorsts sonst so scharfes Auge nichts von den Spuren der Andrée-Expedition entdeckt hat.«
Noch zweiunddreißig Jahre mußten die Toten warten, bis ihre Gebeine und letzten Aufzeichnungen endlich gefunden wurden!
Eine Kunde von Andrée erhielt die Welt wieder im Jahre 1899. Am 14. Mai wurde im Kollafjord an der Nordküste Islands eine seiner Bojen angetrieben. Sie enthielt eine Landkarte vom Eismeer. Durch einen Bleistiftstrich war angegeben, welchen Weg der »Örn« bis dahin zurückgelegt hatte. Diesem Strich nach befand sich der Ballon im Augenblick des Abwurfes auf 82 Grad nördl. und 19½ Grad östl. Eine schriftliche Mitteilung auf der Rückseite der Karte stimmte mit dieser Angabe jedoch nicht überein. Sie lautet:
Schwimmboje Nr. 7. Diese Schwimmboje ist abgeworfen von Andrées Ballon 10,55 Uhr nachmittags Greenwicher Zeit am 11. Juli 1897 auf ungefähr Breite 82º und 20º östl. Länge.
Wir schweben in 600 m Höhe.
Alles wohl.
Andrée. Strindberg. Fränkel.
Die dritte und letzte Botschaft, die von Andrée zu Menschen gelangte, war wiederum eine Boje. Sie wurde am 27. August 1900 im nördlichsten Norwegen (Finmarken) gefunden. Sie enthielt ein Schriftstück von Andrées Hand:
Schwimmboje Nr. 4. Als erste abgeworfen. Den 11. Juli, 10 Uhr nachm. Greenwicher Zeit. Unsere Reise ist bisher gut verlaufen. Die Fahrt geht in ungefähr 250 m Höhe vor sich, anfänglich in Richtung Nord mit 10 Grad östlicher Abweichung, später Nord 45° Ost. Vier Brieftauben abgesandt 5,40 Uhr nachm. Greenwicher Zeit. Sie flogen westlich. Wir sind nun drin über dem Eis, das in allen Richtungen sehr verteilt ist. Wetter herrlich. Stimmung ausgezeichnet.
Andrée. Strindberg. Fränkel.
Von den dreizehn Bojen, die Andrée mitgenommen hatte, sind nach und nach sechs gefunden worden, die letzte 1912 beim König-Karls-Land. Doch keine, außer den beiden oben angegebenen, enthielt eine Mitteilung. Der wichtigste Fund unter ihnen war die sogenannte Polarboje, größer als die anderen, von Andrée bestimmt, am Pol selber abgeworfen zu werden. Sie wurde an der isländischen Südküste angetrieben bei der Siedlung Loftstadur, in der Nähe von Eyrarbakki, etwa 100 km südwestlich von Reykjavik, gegenüber den bekannten Westmanns-Inseln. Ihr Hals war abgebrochen, ihr Inneres leer. Der Finder, P. Nielsen, Faktor eines kleinen Handelshauses, erkannte ihre Herkunft und Wichtigkeit und sorgte dafür, daß sie nach Schweden kam. Als Anerkennung für seine Umsicht erhielt er die Nordenskiöld-Plakette, die sonst nur Wissenschaftlern verliehen wird.
Von da an bis in unsere jüngsten Tage hat man von Andrée und seinen Gefährten nichts wieder gehört, was sich hätte kontrollieren lassen. Aber die Phantasie der Menschheit hat sich mit seinem Schicksal fort und fort beschäftigt. Hierfür zeugen die Gerüchte um ihn, die immer und immer wieder auftauchten, rings um das ganze Polarbassin herum. Kaum eine Küste, wo man nicht Spuren von ihm gefunden haben wollte. Das glaubhafteste aller dieser Gerüchte brachte der dänische Grönlandforscher Knud Rasmussen im Jahre 1926 von seiner fünften Thule-Expedition mit. Ihm hatten Eskimos erzählt, sie hätten vor langer Zeit drei weiße Männer gesehen, die in einem großen Zelt durch die Luft geflogen seien. Rasmussen hat auf diese Erzählung keinen Wert gelegt. Ist doch bekannt, wie gern sich Naturvölker etwas zusammenphantasieren, wenn sie von irgendwelchen Ereignissen hören, die ihnen übernatürlich erscheinen müssen. Rasmussen wurde aber doch nachdenklich, als ein dänischer Pelzjäger namens Jensen, der auf Grönland seiner Jagd nachgeht und dabei ab und zu mit Eskimos zusammentrifft, die kaum je einen Weißen erblickt, ihm berichtete, auch er habe unter den Eskimos erzählen gehört, es sollten einmal drei weiße Männer in einem Zelt durch die Luft geflogen sein. Noch überraschender war für Rasmussen eine Begegnung, die er am Chesterfield Inlet mit dem Pater Turquetil hatte, der dort einer katholischen Mission vorsteht. Turquetil berichtete ihm, Eskimos hätten ihn gefragt, was für Männer in seinem Lande große Zelte zu bauen pflegten, die sich wie Vögel in die Luft erheben und fliegen könnten, und ob solche Zelte nicht aus einem sehr dünnen Stoff bestünden, der fast wie Leder aussähe, aber kein Leder sei. Turquetil kam daher zu der Vermutung, daß diese Frage irgendeinen Zusammenhang mit der Andréeschen Expedition haben könne, und fragte daher seinerseits, ob die Eskimos ein solches Zelt selber hätten fliegen sehen. Auf diese Frage wollten die Eingeborenen nicht antworten, sondern tuschelten nur untereinander, als wenn sie ein Geheimnis miteinander hätten. Wie Turquetil dann von anderen Eskimos hörte, wurde allerdings geraunt, es sei einmal ein solches fliegendes Zelt niedergegangen, und die Insassen seien von den Eingeborenen erschlagen worden.
Obgleich es selbstverständlich an jedem Beweise für die Wahrheit dieser Geschichten fehlte, verlieh das mehrfache Auftauchen desselben Gerüchtes ihm doch eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Es ließ sich also auch nicht geradezu bestreiten. Nicht wenige haben es geglaubt. Nachdem wir heute wissen, daß auch dieses Gerücht sich nicht bestätigt, kann man zur Erklärung für sein Aufkommen vielleicht an Andrées Flugblätter erinnern. Die Angaben des Flugblattes haben den unzivilisierten Eskimos sicherlich so unglaublich geklungen, daß sie in den winterlichen Palavern auf Jahre hinaus den Gesprächsstoff gebildet haben. Diese Gespräche haben sich dann schließlich zu dem Gerücht verdichtet, vermutlich durch Hinzulügen von Leuten, die sich interessant machen wollten, indem sie behaupteten, den angekündigten Ballon wirklich gesehen zu haben.
Währenddessen lagen die Toten unter weißer Decke auf der Hvitöya und harrten des Tages, da ein späteres Geschlecht sie finden sollte.
Menschen sind verschiedentlich in ihrer unmittelbaren Nähe gewesen, ohne zu ahnen, daß die Vermißten ihnen zu Füßen tief im Eise ruhten. So war die von dem Mitarbeiter unseres Buches, Tryggve Gran, geführte Vesle-Kari-Expedition 1928 an der Hvitöya, um nach einem anderen verschwundenen Helden der Polarforschung zu suchen – nach Amundsen! Sie fand Amundsen nicht und erblickte auch nicht das geringste Anzeichen dafür, daß drei andere Helden hier in der Tat begraben lagen. Schnee deckt eben alles zu, und schmilzt er (und das Eis unter ihm) nicht fort, wie es im warmen Polarsommer 1930 war, so kann keines Menschen Auge entdecken, was unter ihm liegt. War doch sogar bloß acht Tage vor der wirklichen Auffindung der Andrée-Expedition die Besatzung eines Eismeer-Fangschiffes an derselben Stelle – nicht zufällig, sondern auf der Suche nach Resten der »Italia«-Expedition! –, und selbst diese Männer sahen vor lauter Schnee und Eis nichts, was das Andréesche Lager hier hätte vermuten lassen oder die Reste einer sonstigen Expedition oder überhaupt dort verunglückter Menschen.
Was im Banne des großen, weißen Schweigens untergeht, das ist menschlichem Auge – meist! – für alle Zeiten entzogen!
Deshalb mußten die toten Helden des »Örn« dreiunddreißig Jahre warten, bis ein Zufall ihre Gebeine entdecken ließ und die Welt von ihrem heldenhaften Schicksal und ihrem heldenhaften Tode sichere Kunde erhielt!