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Sechszehntes Capitel

Genesung. Eine Rückzahlung bei Sparkasse, die reich macht. Auch der Stiefbruder findet einen Meister.

Als Rudolf, zum erstenmal wieder nach dem herbstlichen Besuche in seiner Heimat, einen Ausgang vor die Stadt machte, war es entschieden Winter. Wieder war es Sonntag, wieder begleitete ihn Annemareili. Sie gedachten beide im Stillen ihres letzten gemeinsamen Ganges, wo eigentlich jedes mehr für sich selbst gewesen und sie nicht recht sich zusammengefunden. Jetzt giengen sie Arm in Arm, Rudolf bedurfte der Stütze seines Annemareilis und dieses dachte nur an den Wiedergenesnen, an seine Bequemlichkeit und freute sich sein als eines Neugeschenkten oder Geretteten. Auch sonst war Alles anders: die bunten Farben des Herbstes, die gelb und rothen Blumen und Blätter, wie die hellgrünen Wiesen, lagen unter weißer Decke verhüllt, und einförmig dehnten sich Felder und Hügel. Nur entblätterte Bäume ragten auf der Anhöhe mit ihren tausendfachen Verästlungen über die Fläche empor, aber zwischen dem zierlichen Gezweige lagerte auf glitzerndem Dufte das stille tiefe Blau des Winterhimmels. Es kam jetzt auch kein kalter neidischer Nebel über die Landschaft, mit unheimlichen Schauern sie durchwehend, vielmehr schien dem winterlichen Bilde ein warmer lebendiger Hauch zu entströmen, mitten aus Schnee und Eis heraus, ein hoffnungsvolles Zeichen unvergänglichen Lebens. Nicht nur schien die Sonne hell und erwärmend, daß selbst der Kaumgenesne sich behaglich in ihrem Schein fühlte; da und dort thaute es auch, wie bei beginnendem Frühling. Emmerlinge, Finken und Meisen schüttelten auf dem blätterlosen Gezweige ihr Gefieder und schlugen einige frische helle Töne an, flatterten fröhlich auf der Straße vor den Spaziergängern her, als wollten sie sie necken und zum Wettlauf auffordern. Wie Edelgestein glitzerten in der Nähe die Krystalle des Schnees, zum Zeugniß wie reich auch der Winter sei, lebendig träufelten von den Dächern der menschlichen Wohnungen die Tropfen des schmelzenden Schnees nieder, plaudernd die feierliche Stille unterbrechend, während aus den Schornsteinen der Rauch wie ein stolzer Federbusch majestätisch in die sonnige reine Luft emporstieg, in ununterbrochen wechselnder wallender Gestalt. Jetzt begannen noch von den benachbarten Dorfern über die Anhöhen herüber und dann von der Stadt die Glocken zu ertönen, erst eine einzelne, der dann eine zweite und dritte Antwort gab bis alle in den sonntäglichen Lobgesang einfielen, jede in ihrer besondern Eigenthümlichkeit, hoch oder tief, doch Eins in dem gemeinsamen Preise. Rudolf und Annemareili hielten auf ihrem Gange inne und lauschten. Es zog sie aber dießmal nicht hinaus, ihr Blick schweifte nicht in die Ferne, das bunte Bild des Herbstes zerstreute und fesselte sie nicht, sondern Alles wies sie in sie selbst hinein, wie in einen stillen Tempel, wozu die Glocken so feierlich läuteten. Ihr eignes gegenwärtiges Leben schien ihnen jetzt auch so ein stiller Heller Wintersonntag zu sein, das Eis der Krankheit und der schweren Prüfung, wie der Herzen, war gebrochen, frisches gesundes Leben athmete aus der schmelzenden Kruste, die wie ein Eispanzer ihre Seelen umschnüret, einzelne Klänge der Freude und der Frühlingshoffnung ertönten auch in ihrem Innern, über das Sonntagsfeier lagerte, und nach den Tagen des Schauerns und der Erstarrung die ewige Sonne erquickend und stärkend strahlte. Besonders Rudolf, der sich seiner wiedergewonnenen Gesundheit freute, war aufmerksam auf Alles ringsumher und bezog es auf sich, er war so lange nicht im Freien gewesen: neu, anders, auf seinen Zustand angepaßt, kam ihm vor, woran er schon hundertmal und mit Gleichgültigkeit vorübergegangen. Annemareili aber fühlte, daß es jetzt Zeit sei zu reden und sein Gelübde zu erfüllen. Es kostete Ueberwindung, denn es störte nicht gerne die stille beschauliche Feier ihrer Herzen mit Weltlichem, geschweige, wie es doch immer noch heimlich fürchtete, mit einer Verstimmung. Dann aber fühlte es, daß kein günstigerer Augenblick kommen könne und faßte sich ein Herz, indem es mit der Freude und dem Danke für Rudolfs Rettung begann und von dem Bangen redete, in dem es, ob der Ungewißheit des Ausganges, so lange geschwebt und gebebt. Hieran knüpfte es das offne Bekenntniß der eignen Schuld und wie es im Gefühle derselben, und der innern Angst um Rudolfs Leben das Gelübde gethan, gut zu machen, was noch gut zu machen sei, das eigne Herz und das des Freundes von den Banden des Mammons loszureißen, nicht auf das eigne Vermögen allein das Vertrauen zu setzen, sondern auf Gottes Beistand und Segen, und ihre Pflichten gegen die Ihrigen, besonders die alte Mutter Rudolfs, zu erfüllen. Rudolf schwieg und hörte Annemareili ernsthaft zu; es meinte, weil er in seiner frühem Gesinnung beharre, und drang nun nur mit um so wärmerem Eifer und tiefrer Erregung der Seele, zuletzt mit Flehen und Thränen und fliegenden Worten in den Freund, indem es darauf hinwies, daß, wenn Gott ein Opfer wolle und ihr Geld verlange zur Probe, ob ihr Herz nicht zu sehr daran hänge, er es auf jedem Wege zu erlangen vermöge; was die Liebe nicht freiwillig gegeben, das habe nun die Krankheit mit Gewalt gefordert!

Wie Annemareili zaghaft und ungewiß die Rede begonnen und sich erst im Verlaufe von heiligem Eifer hatte hinreissen lassen, so schloß es auch jetzt wieder mit einem Gemisch von Trauer und Ergebung. Es zitterte, nicht vor der Aufregung allein, sondern weil es fühlte, den Würfel der Entscheidung geworfen zu haben. Indeß war es ihm doch leichter und das Herz gehoben, denn es hatte die Menschenfurcht, und noch mehr, die Menschenliebe, überwunden und sein Gewissen befreit, die Seele gerettet, komme nun was da wolle. Scheu und fast erschrocken blickte es forschend auf Rudolf, der seine Reden mit keinem Worte unterbrochen. Aber hatte es den finstersten Unwillen in dessen Gesicht entdeckt, es wäre nicht minder überrascht gewesen, als jetzt, da es fein Auge feucht sah und er es freundlich und dankbar anlächelte und ihm die Hand drückte, ohne ein Wort zu sprechen. Fast erschrocken und doch in innerster Seele jubilierend, erkannte es, daß die Rührung dem sonst so starken Manne den Mund verschlossen. Auch als er sich wieder gesammelt und seiner Herr geworden, sagte er nicht viel, »Du hast Recht, Annemareili,« – antwortete er, – »Alles was du sagst ist mir in den langen schlaflosen Nächten auch so vor die Seele getreten; verzeih mir, daß ich dir so viel Herzeleid gemacht: wenn's dir recht ist, so nehmen wir die Mutter zu uns, sobald wir in Schwellbach einziehen und bis dahin soll sie auch nicht darben; ohne sie und dich wäre ich nicht mehr da!« Er schien in stilles Nachsinnen zu versinken, bis er sich wieder aufraffte und beifügte: »und ich denke, wir sehen auch, wie's mit deinem Bruder zu machen ist, daß der in eine rechte Lehre kommt!« Annemareili war selig, es drückte dem Freunde dankbar die Hand und er ihr und sie sahen sich an und fühlten, daß sie sich noch nie so nahe gestanden noch je so lieb gehabt und nun erst recht Brautleute seien, bereit Alles zu theilen mit einander und einander zum Segen zu dienen für Zeit und Ewigkeit. Etwas ermüdet durch die Aufregung lehnte' sich Rudolf auf den Arm seiner Verlobten und stand einen Augenblick stille. Die tiefe Sonne übergoß die Schneefläche der Höhen mit ihren abendlichen Strahlen, daß es aussah wie ein keusches Erröthen; war es der Widerschein, der auf den Gesichtern des glücklichen Paares dabei spielte?

Den andern Morgen wandte Rudolf sich leicht und muthig dem Alltagsleben und seinen Ansprüchen wieder zu; er empfand eine ordentliche Lust, ja einen Hunger zur Arbeit. Vorher aber war noch etwas abzuthun, eh er sich im ordentlichen Geleise des Schaffens mit neuen Kräften Wohlbefinden konnte. Um die alte Zeit gleichsam abzuschließen, und, wie Annemareili es aufgefaßt, das verlangte Opfer zu bringen, machte er sich auf den Weg nach dem Spital, dort die Kosten seiner Verpflegung in's Reine zu bringen: dann erst könne er nach dem sich strecken, was vor ihm liege! Er verlangte bei der Verwaltung die Rechnung, der Schreiber langte das bedruckte Böglein hervor, sie ihm aufzusetzen, schlug das große dicke Buch auseinander, darin Eintritt und Anstritt jedes Kranken eingetragen ist, nahm die Feder hinterm Ohr hervor, sah nach und – »Es ist ja schon bezahlt worden, vorgestern; richtig! der Ausläufer des Herrn Steinmann war hier und brachte Alles in's Reine!«

Rudolf erstaunte ob diesem Berichte, der Herr hatte ihm nichts gesagt, hatte ihm auch von dem halben Monatslohn, den er ihm am Samstag für die Dauer der Krankheit noch ausbezahlt, keinerlei Abzug gemacht. Es war dieß für den Genesnen eine neue Beschämung, denn bei der Versetzung in den Spital hatte er den Kaufherrn ja beschuldigt, er thue das um ihn sich vom Halse zu schaffen und keine Unkosten zu haben. Rudolf erkannte den Irrthum mit Beschämung, er fühlte aber zugleich auch, daß es der letzte der Art sei, ja daß er aus der Zeit vor seiner Krankheit und Genesung herrühre, und er ihn jetzt nicht mehr würde verschuldet haben. So verschmolz auch hier wieder die leibliche Herstellung und die geistige Besserung in die gemeinsame und eine des ganzen Menschen.

Gleichwohl unternahm er den Gang nach der Sparkasse und enthob dort auf sein Büchlein hin etwas Geld. Zwar nicht um die Spitalrechnung nochmals zu zahlen, jedoch um eine andere alte Schuld damit zu tilgen, die gegen die alte hülflose Mutter. Sie sollte sich nun ihre Tage bequemer und freundlicher machen, und nicht mehr unter Entbehrungen ein armseliges Dasein fortschleppen müssen, kaum von einem Tage zum andern wissend, wovon sie leben werde. Annemareili sollte ihr die Unterstützung bringen und sie zugleich vorbereiten, in der Folge zu ihnen in die Krämer-Wohnung zu ziehen. Daß es ebenso auch mit dem Vogte des Stiefbruders und soweit nöthig mit der Stiefmutter wegen einer Lehre Rücksprache nehme und nach Bedürfniß, wo es nicht ausreiche, in die Lücke trete, war die dritte Aufgabe der Reife. Mit wie ganz anderm Gefühle schritt Annemareili über die Anhöhe nach dem Heimatdorfe hinüber, als das letzte Mal da es dasselbe verlassen; die Füße tanzten beinahe über den gefrornen Weg hin und seine Wangen blühten wie Rosen bei der kalten Winterluft und der innerlichen Freude. Gewiß ein glücklicherer Bote war schon lange nicht mehr in das abgelegne Dörflein gekommen; was Wunders, daß seine Auftrage alle zu männiglicher Zufriedenheit erledigt wurden!

Durch diese Rückzahlungen verminderten sich allerdings zwar die Guthaben Rudolfs und Annemareilis in der Sparkasse und zu jeder andern Zeit wäre erstrer wenigstens nicht übel über den Ausfall erschrocken und hätte alle möglichen schwarzen Befürchtungen daran geknüpft. Jetzt aber schien die Wirkung beinahe die umgekehrte zu sein. Rudolf war so zufrieden, ja noch heitrer, als ob er die erklecklichste Summe eingelegt oder eine noch bessre Anlage gemacht hätte, als nur eine zu vier Procent. Statt daß er besorgt in die ungewisse Zukunft blickte, war er vielmehr voll des besten Vertrauens; wie es ihm denn auch nicht einfiel, die Übernahme des Kramladens, und die Zeit seiner Ansiedlung in Schwellbach deßhalb nur um einen Tag zu verschieben. Und sonderbar! nicht bloß in seinen Gedanken war er durch das Zurückziehen dieses Theils seiner Ersparnisse nicht ärmer geworden, auch in wirklichen und gewöhnlichen Zahlen gerechnet, schien sich sein Vermögen kaum gemindert zu haben, oder doch die Lücke sich merkwürdig rasch wieder auszufüllen.

Unerwarteter Segen ersetzte den Ausfall fast von selbst: sein Herr machte ihm günstige Anerbietungen und billige Vorschüsse, gewährte Erleichterungen, kurz das Gegentheil von all dem, wessen Rudolf in der leichtsinnigen Zeit ihn einst geziehen hatte. Einen reichlichen Abschied für treuen und guten Dienst erhielt er obendrein noch, wie auch Annemareili von seiner Herrschaft; was aber das Köstlichste und Förderlichste von Allem, das war die innre Freudigkeit und Zuversicht welche beide auf ihre neue Laufbahn mitnahmen, auch bei weniger Geld.

Als Annemareili zutrauensvoll seiner Frau den Entschluß mittheilte, wie sie in Gottes Namen es nun gleichwohl tragen wollten, merkte diese gar wohl, daß in dem Rathe hierüber der Leichtsinn und die Uebereilung nicht den Ausschlag gegeben, sondern das rechte Vertrauen in Gott und die eigne Arbeitskraft. Sie bestärkte es darum nur darin, indem sie freundlich und ermuthigend sagte: »Ihr seid beide jung und könnt arbeiten; einen hübschen Anlauf habt ihr ja auch und wenn die Schwiegermutter bei euch ist, ein besondres Capital obendrein. Im übrigen vertraut dem lieben Gott, man muß auf ihn auch rechnen, Arm und Reich, den ersetzt kein Sparkassenbüchlein der Welt!« Steinmann dagegen bemerkte gegen Rudolf in seiner trocknen Art: »Ob ihr nun mehr oder weniger in der Sparkasse habt, ist ziemlich gleichgültig; das Beste ist doch nicht in der Sparkasse, sondern dran, nämlich daß man durch sie hat sparen und wenig brauchen gelernt, das sind die Hauptzinsen!«

Kurz, Annemareili und Rudolf schieden nicht nur aus ihren Dienstverhältnissen um das eigne Haus zu gründen, sondern sie bereuten auch niemals diesen Entschluß. Die Schwiegermutter lebte bei ihnen als ein Glied des Hauses und zugleich als ein Segen desselben. So sahen sie an und hielten sie beide, der Sohn und die Schwiegertochter. Auch der Stiefbruder bestand die Lehrzeit, die ihm Annemareili und zwar im Hause des ersten Dienstherrn unter günstigen Bedingungen verschafft, zur Zufriedenheit des Meisters und der Verwandten. Diesen war er dafür als tüchtiger Handwerker mit Herz und That Zeitlebens dankbar zugethan, in allen Lagen, und nichts giebt mehr Halt und Sicherheit im Leben als ein fester Familienverband, wo Jedes innigen Antheil nimmt an Freud und Leid des Andern, als wären es die eignen. Schon als Lehrjunge aber mußte der Stiefbruder auf Verlangen Annemareilis und Rudolfs in die Sparnißkasse legen: sein erstes Neujahrsgeschenk war ein blaues Büchlein mit einem kleinen eingetragnen Posten; für das Weitre hatte er selber zu sorgen, vor dem Mißbrauche schützte ihn am besten sein eignes Beispiel.


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