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Nach ein paar Tagen stellte sich zwar freilich der Schneiderpeter ein, vor dessen Erscheinen es Annemareili immer heimlich gebangt. Er wollte mit dem Bäschen, als er die Frau in der Nähe merkte, »wegen Familienangelegenheiten« unter vier Augen sprechen und fragte es dann, freundlich wie der liebe Tag: es werde seinen Brief erhalten haben und er komme nun, das Geld zu holen und ihm anzulegen, wie er versprochen; niemand gönnte er es so wie ihm! Die glatte Freundlichkeit wurde zwar bald etwas holpriger, als das liebe Bäschen dem Vetter, mit einiger Verlegenheit, aber doch leichten und heimlich frohen Herzens, mittheilte, es habe kein Geld in Händen, sondern dieses sei bereits angelegt; – es thue ihm leid! fügte es nicht gar aufrichtig hinzu. Als der Schneiderpeter nun auf seine Nachfrage erfuhr, wo das Geld liege, ward er fast ungehalten. Er hab's doch gedacht! Die Donnerskassen kämen jetzt überall auf und saugten den Schweiß der armen Leute ein, sie seien hungriger als Kirchenmäuse, die Herren hätten überall die Finger drin, sie wüßten aber wohl warum! Das schade indeß nichts, fuhr er, sich besänftigend, fort, man könne künden, jeden Tag, und er garantiere dem Bäschen einen größern Zins als die Kasse, weil er keinen Profit an ihm machen wolle, er würde sich schämen. Vier und ein Halbes vom Hundert zahle er, und wenn's sein müßte auch fünf; es komme ihm nicht drauf an, selbst wenn er dabei Schaden hätte, nur der Kasse zum Trutz, die Alles fressen wolle! Solches aber begehrte Annemareili durchaus nicht, es wollte niemand in Nachtheil bringen, zu dem hab' es ihm die Herrschaft gerathen und besorgt, es selber verstehe ja dergleichen nicht. Und als der Schneiderpeter nun noch zudringlicher wurde, und behauptete, er aber verstünde es, und er rathe es ihm aus purer Wohlmeinenheit, da wußte sich das Mädchen nicht anders mehr zu helfen als durch den etwas boshaften Rath: he nun, so möge er mit der Herrschaft darüber reden. Dazu schien aber der menschenfreundliche Vetter nicht sehr geneigt zu sein, er wurde vielmehr krebsroth vor Zorn und fieng an über die Herrschaften im Allgemeinen und im Besondern zu schimpfen, daß es Annemareili schwarz vor den Augen wurde. Mit dem hochmüthigen Stadtpacke wolle er nichts zu schaffen haben, er kenne die Aristokraten, die nur für ihren Geldsack ein Herz hätten und alle andern Menschen unterdrücken möchten. Das Bäschen solle doch nur nicht so dumm sein und auf deren Rath hören, im Gegentheil, gerade das Entgegengesetzte thun, was sie ihm angäben!
Dem Bäschen aber schien es, es kenne seine Herrschaft doch besser als der Herr Vetter und das sagte es ihm auch in ehrlichem Unwillen rund heraus und wie es schon hundertmal erfahren, daß sie es wohl mit ihm meine, von der Unterdrückung aber Besondres noch nichts wahrgenommen habe.
Dieß war jedoch nur Oel in's Feuer. Der Schneiderpeter, dem das Geld Annemareilis immer weiter wegzurücken schien, fieng nun an über das Mädchen selber herzufahren. Er schalt nun auf einmal über Undank und wie er es daheim schon darstellen werde mit seinem Hochmuth und seiner Verachtung der Verwandtschaft; es sei schnell eine vornehme Stadtmamsell geworden – kurz, es wäre noch ein viel weitläufigeres Schimpfregister gezogen worden, wenn nicht gerade zur rechten Zeit die Frau in die Küche gekommen, welcher der Besuch des Vetters etwas lange zu dauern schien, und die Annemareili aus der Verlegenheit errettete und dem zärtlichen Schneiderpeter die Trennung erleichterte. Denn Angesichts der Frau vom Hause ließ er den Rest seiner verwandtschaftlichen Wohlmeinenheit unausgepackt und drückte sich ziemlich kurz hinweg, etwas von Gemeinderath und Vogt vor sich hinbrummend.
So war und blieb Annemareili vor dem Schneiderpeter und seinem Freundschaftsanleihen glücklich gerettet und es erkannte nun erst aus dem ganzen Benehmen des Vetters, wie gut ihm die Ersparnißkasse zu Statten gekommen und wie klug und wohlmeinend der Rath seiner Herrschaft gewesen. Noch klarer aber wurde ihm dieß, als nach nicht zu langer Zeit der Schneiderpeter gerichtlich ausgekündet wurde, trotz seiner einträglichen Wirtschaft und seinen ausstehenden Geldern. Die Handwerker, welche ihm gebaut, legten Beschlag auf sein Haus und wer ihm sonst noch geliehen, kriegte wenig mehr als das Nachsehen.
Den Gang nach der Ersparnißkasse aber wiederholte Annemareili in der Folge von Zeit zu Zeit, regelmäßig je an den Tagen nach der halbjährlichen Halbjahrverrechnung; indeß auch zwischenein nicht selten, denn da und dort erhielt es von Gästen des Hauses, oder als Meß- und Neujahrgeschenke und bei andern besondern Anläßen, von der Herrschaft kleinre Geldbeträge. Das Meiste hievon, das heißt Alles was es nicht für sein nothwendiges Bedürfniß, oder etwa einmal zu einem Geschenke an die Seinen auf dem Dorfe, brauchte, das wanderte als neue Anlage den bekannten Weg, der dem Mädchen nun nicht mehr fremd und sauer vorkam. Im Uebrigen verfloß das Leben der fleissigen und eingezognen Magd sehr regelmäßig und einfach, eine Woche wie die andre und ein Monat wie der andre. Sie fühlte sich dabei nicht unglücklich, viel weniger sogar als früher, wo sie gemeint, es müsse von Zeit zu Zeit, und zwar in immer kürzern Zwischenräumen, etwas Besondres, Neues oder Lustiges, wenigstens Andres, geben, sonst sei es auch gar zu eintönig und langweilig im Leben.
Annemareili hatte sich auch wieder einmal nach einem Lohntage an der Ersparnißkasse mit dem grösten Theil seines Erwerbes eingefunden, und da gerade, wie es an solchen Tagen der Fall ist, sehr viel Einleger schon da waren, es aber an solchen Sparkassen auch wie in Paris geht: Eins nach dem Andern! so setzte sich das Mädchen einstweilen auf's Wartebänkchen und blätterte zum Zeitvertreib in seinem Einlagebüchlein. Es achtete nicht darauf, wer neben oder hinter ihm stand und etwa auch noch in das Büchlein gucken konnte.
»Mit Verlaub, Jungfer, es scheint wir seien Landsleute«, redete da plötzlich eine fremde Mannsstimme ganz aus der Nähe das Annemareili an. Es schaute erstaunt auf: ein kräftiger, wohlaussehender Mann mit starkem schwarzen Bart, einfach aber gut und reinlich gekleidet, sah es halb forschend, halb lächelnd an. Er war ihm schon früher aufgefallen: als es an der Kasse sein Büchlein vorgewiesen, war der Mann ebenfalls in seiner Nähe gestanden und hatte es seitdem öfter angesehen und im Auge behalten, bis er jetzt das Wort an es gerichtet: »Ich bin auch von Schwellbach; Ihr kennt wohl den Schmidt-Rudi nicht mehr!« – fuhr er fort, da er keine Antwort erhielt. »Als Kinder haben wir uns wohl gekannt und zusammen gespielt, noch mehr aber gelegentlich uns gebalgt, besonders wegen des Krämers Heinrich, den Ihr in Schutz nahmt. Es scheint wir haben uns seit der Zeit beide verändert, daß Ihr mich nicht wieder kennt«, fügte er bei, indem sein Blick auf Annemareilis reinlichem und angenehmem Aeußern mit Behagen ruhte.
»Wie? Ihr wäret der Schmidtrudi?« – frug Annemareili verwundert und sah nun allerdings auch ihn schärfer und prüfend an.
»Derselbe der manch übles blutiges Mal im Gesicht von Euch heimtrug und manches Büschel Haar in Euren Händen gelassen!« – lachte der Mann, – »wenn wir als zwei gleich harte Steine etwa unsanft uns zu reiben kamen.«
Immer mehr und immer lebhaftere Jugenderinnerungen tauchten in den Beiden auf und die trennenden Jahre verschwanden zwischen ihnen, bis zur schmalen Brücke, die sie leicht überschritten. Nichts aber führt schneller zusammen als diese Vergegenwärtigung und Auffrischung gemeinsam verlebter Ereignisse, aus der Kinderzeit vor Allem. Und so war auch rasch ein gegenseitiges Vertrauen, eine nähere neue Bekanntschaft aus der alten unterbrochnen entstanden, nur noch verstärkt durch die, wenigstens äußerlich gleichartige, Umgestaltung der beidseitigen Lebensverhältnisse. Der wilde Bube und das verwahrloste Mädchen begrüßten sich nun nur um so wärmer als braver Knecht und ehrbare fleissige Magd an der Ersparnißkasse, in welcher sie die Frucht ihrer Tüchtigkeit, den entbehrlichen Theil des Verdienstes, zugleich niederlegten.
Der ehemalige Schmidtrudi, oder Rudolf, wie er jetzt kurzweg genannt wurde, und Annemareili verließen gemeinsam die Sparkasse und wenn letztres dießmal etwas später nach Hause kam, war vielleicht nicht allein der große Zudrang im Gebäude der Anstalt Schuld daran, wie seine Brotherrschaft in ihrer guten Meinung von ihm stillschweigend annahm. Und als die Zwei sich endlich trennten, mit dem sichtlichen Wunsche sich bald wieder zu begegnen, da dachte noch lange Eines über das veränderte Schicksal des Andern nach, sowie über die eigne Umwandlung und die langsam aber gewaltig wirkende Macht der Zeit und der Verhältnisse.