Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Viertes Kapitel

Die zur Untersuchung der Vorgänge vom Vierzehnten eingesetzte Oberste Kommission hielt ihre Sitzungen zuerst im Winterpalais und dann in der Peter-Pauls-Festung ab. Der Kaiser leitete selbst die ganze Untersuchung und arbeitete an die fünfzehn Stunden täglich, so daß seine Umgebung fürchtete, er könnte krank werden.

»Point de relâche! Was auch kommen mag, ich werde mit Gottes Hilfe den tiefsten Grund dieses Sumpfes aufdecken!« sagte Nikolai zu Benkendorf.

»Langsam und ohne Übereilung, Majestät! Mit Gewalt kann man nichts ausrichten – man muß mit Liebe und List handeln . . .«

»Brauchst mich nicht zu belehren, ich weiß es selbst«, antwortete der Kaiser und errötete beim Gedanken an Trubezkoi. Er tröstete sich damit, daß der damalige Mißerfolg von körperlicher Ermattung, Erschöpfung und Schlaflosigkeit herrührte; das sollte nicht wieder vorkommen. Er war inzwischen zu Kräften gekommen, hatte sich beruhigt und fühlte wieder wie damals nach der Kanonade auf dem Senatsplatze, daß ›alles in bester Ordnung‹ sei.

Rylejew wurde in der Kommission am 21. Dezember vernommen und am nächsten Tage ins Palais zum Kaiser gebracht.

›Soll es doch schneller ein Ende nehmen!‹ dachte sich Rylejew, fühlte aber schon, daß das Ende nicht auf einmal kommen werde: Man wird ihn langsam zu Tode quälen, man wird ihn zwingen, den Todeskelch Tropfen auf Tropfen zu trinken.

Einen Tag nach seiner Verhaftung ließ der Kaiser anfragen, ob Rylejews Frau kein Geld brauche. Natalja Michailowna antwortete, daß ihr Mann ihr tausend Rubel zurückgelassen habe. Der Kaiser schickte ihr als Geschenk von sich zweitausend Rubel und am 22. Dezember, dem Namenstage von Rylejews Töchterchen Nastenjka, weitere tausend Rubel im Namen der Kaiserin Alexandra Fjodorowna. Er versprach ihr, ihrem Mann zu verzeihen, wenn er alles gestehen würde. »Die Barmherzigkeit des Kaisers hat meine Seele erschüttert«, schrieb sie ihrem Manne in die Festung.

Am meisten wunderte sich Rylejew darüber, daß man das Geld zu Nastenjkas Namenstage geschickt hatte: Man hatte sich also nach dem Namen erkundigt. ›Wie gefühlvoll! Der Schuft weiß gut, womit er einen einfangen kann! Nun, wenn aber . . .‹ Diesen Gedanken konnte Rylejew nicht zu Ende denken: Er erschrak davor.

Einmal bedankte er sich beim Kommandanten Ssukin für die Gewährung einer Zusammenkunft mit seiner Frau. Jener war erstaunt, denn er hatte keine Zusammenkunft erlaubt, und glaubte schon, sie sei ohne Erlaubnis dagewesen. Er fragte die Wärter, aber diese sagten einstimmig aus, daß Rylejews Frau nicht dagewesen sei.

»Es hat Ihnen nur geträumt«, sagte er zu Rylejew.

»Nein, ich sah sie, wie ich Sie jetzt sehe. Sie erzählte mir etwas, was ich sonst gar nicht wissen konnte – das vom Geschenk des Kaisers.«

»Das haben Sie aber in der Kommission erfahren . . .«

»In der Kommission sagte man mir es später, zuerst hörte ich es von ihr.«

»Vielleicht haben Sie es schon vergessen?«

»Nein, ich weiß es ganz bestimmt. Ich bin noch nicht verrückt.«

»Dann war es ein Gespenst.«

»Was für ein Gespenst?«

»Sie sehen wohl Gespenster. Sie sind krank. Sie müssen sich behandeln lassen.« – ›Ja, ich bin krank‹, dachte sich Rylejew mit einem Gefühl von Ekel.

Am 22. Dezember abends brachte man ihn auf die Schloßhauptwache. Man durchsuchte ihn, fesselte aber seine Hände nicht. Aus der Hauptwache brachte man ihn unter Bewachung in das Flügeladjutantenzimmer, setzte ihn in eine Ecke hinter eine spanische Wand und ließ ihn warten.

Er bemühte sich, nur daran zu denken, was er gleich dem Kaiser sagen würde, aber er dachte an andere Dinge. Er erinnerte sich der letzten Nacht, als man zu ihm kam, um ihn zu verhaften. Natascha stürzte sich zu ihm hin, umschlang ihn mit den Armen und schrie mit herzzerreißender Stimme, so schrecklich, wie sie während der Geburtswehen geschrien hatte:

»Ich lasse ihn nicht! Ich lasse ihn nicht!«

Und sie umschlang und umarmte ihn immer fester. Fester als alle Ketten sind diese zarten schwachen Arme, die Ketten der Liebe! Mit furchtbarer Anstrengung machte er sich los. Er hob sie auf die Arme, trug sie fast bewußtlos auf ihr Bett, und sah sich, aus dem Zimmer stürzend, noch einmal nach ihr um. Sie hatte die Augen geöffnet und sah ihn an: Das war ihr letzter Blick.

»Ich weiß wenigstens, wofür man mich kreuzigen wird; sie wird aber am Kreuze stehen, das Schwert wird ihr Herz durchbohren, doch sie wird nie erfahren, wofür.«

Das dachte er sich, als er im Flügeladjutantenzimmer in der Ecke hinter der spanischen Wand saß.

Mitunter dachte er auch an gar nichts und fühlte nur, wie ihn wieder das Fieber schüttelte. Das Kerzenlicht tat seinen Augen weh; ein Nebel füllte das ganze Zimmer, und es war ihm, als sitze er in seiner Kasematte, blicke wie damals vor dem ›Gespenst‹ auf die Tür und warte, daß Natascha eintrete.

Die Tür ging auf, und herein trat Benkendorf.

»Bitte«, sagte er, auf die Tür zeigend und ihm den Vortritt lassend.

Rylejew trat ein.

Der Kaiser stand am anderen Ende des Zimmers. Rylejew wollte sich verbeugen und auf ihn zugehen.

»Halt!« sagte der Kaiser. Er ging selbst auf ihn zu und legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Zurück! Zurück! Zurück!« Er schob ihn zum Tisch, bis seine Augen sich direkt vor den Kerzenflammen befanden. »Schau mir gerade in die Augen! So!« Er drehte ihn mit dem Gesicht zum Licht. »Geh und laß niemand herein«, wandte er sich zu Benkendorf.

Benkendorf ging.

Der Kaiser sah Rylejew lange schweigend in die Augen.

»Die sind ehrlich! Solche Augen lügen nicht!« sagte er wie vor sich hin. Er schwieg noch eine Weile und fragte: »Wie heißt du?«

»Rylejew.«

»Mit dem Vornamen?«

»Kondratij.«

»Mit dem Vatersnamen?«

»Fjodorowitsch.«

»Nun, Kondratij Fjodorowitsch, glaubst du, daß ich dir verzeihen kann?«

Rylejew schwieg. Der Kaiser näherte sein Gesicht dem seinen, blickte ihm noch durchdringender in die Augen und lächelte plötzlich. – »Was ist das? Was ist das?« – wunderte sich Rylejew immer mehr: Er glaubte im Lächeln des Kaisers etwas Flehendes, etwas Unglückliches zu sehen.

»Wir sind beide zu bedauern!« begann der Kaiser, schwer aufseufzend. »Wir fürchten, wir hassen einander. Der Henker und das Opfer. Wo aber der Henker ist und wo das Opfer, kann man gar nicht unterscheiden. Und wer ist schuld? Alle, und mehr als alle – ich. Also verzeih. Wenn du nicht willst, daß ich dir verzeihe, so verzeih du mir!« Und er hielt ihm seine Lippen hin.

Rylejew erbleichte und taumelte.

»Setz dich.« Der Kaiser stützte ihn und nötigte ihn in einen Sessel. »Hier, trinke!« Er schenkte ein Glas voll Wasser und reichte es ihm. »Nun, fühlst du dich schon besser? Kannst du sprechen?«

»Ja.«

Rylejew wollte aufstehen, aber der Kaiser ergriff seine Hand und hielt ihn zurück.

»Nein, bleib sitzen.« Er schob einen anderen Sessel heran und setzte sich ihm gegenüber. »Hör mal, Kondratij Fjodorowitsch. Du kannst von mir halten, was du willst, du kannst mir glauben und kannst mir auch nicht glauben, aber ich werde dir die ganze Wahrheit sagen. Schwer ist das Joch, das mir die Vorsehung auferlegt hat. Es ist zu schwer für einen Menschen. Aber ich bin allein, ohne Rat, ohne Hilfe. Ein Brigadekommandeur und sonst nichts. Was verstehe ich von Staatsgeschäften? Ich schwöre bei Gott, daß ich nie den Thron gewünscht, nie ans Regieren gedacht habe. Wenn du nur wüßtest, Rylejew – aber nein, du wirst es niemals erfahren, was ich fühle und was ich mein Leben lang fühlen werde bei der Erinnerung an diesen schrecklichen Tag, den Vierzehnten! Blut, Blut, ich bin ganz mit Blut befleckt, ich kann es mit nichts abwaschen, durch nichts sühnen! Ich bin ja kein Tier, kein Ungeheuer, ich bin ein Mensch, Rylejew, ich bin auch Vater. Du hast deine Nastenjka, und ich habe meinen Saschka. Der Zar ist der Vater, das Volk ist das Kind. So stieß ich das Messer in mein Kind, in meinen Saschka! In Saschka! In Saschka!«

Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und blieb lange in dieser Stellung; endlich nahm er die Hände vom Gesicht, legte sie ihm wieder auf die Schultern und blickte ihm mit einem flehenden Lächeln in die Augen.

»Siehst du, ich bin zu dir wie ein Freund, wie ein Bruder. Sei auch du mir ein Bruder. Erbarme dich meiner, hilf mir!«

›Lügt er, oder lügt er nicht? Lügt er, oder lügt er nicht? Versuchst du mich, Satan? Wart, auch ich werde dich versuchen!‹ Rylejew war auf einmal wütend geworden.

»Wollen Majestät die Wahrheit wissen? Also hören Sie: Die Freiheit ist verführerisch; von ihr berauscht, riß ich auch die andern mit. Und ich bereue es nicht. Habe ich mich an den Menschen vergangen, indem ich ihr Bestes wollte? Nicht von mir will ich sprechen, sondern vom Vaterland, das, solange mein Herz schlägt, mir teurer sein wird als alle Güter der Welt und selbst als der Himmel!«

Er sprach wie immer hochtrabend, wie aus einem Buch, jetzt aber ganz besonders, denn er hatte sich diese Rede vorher zurechtgelegt. Plötzlich sprang er auf und hob die Arme: Seine blassen Wangen röteten sich, die Augen sprühten Funken, das Gesicht war ein anderes geworden. Er glich dem früheren Rylejew, dem unbezähmbaren Aufrührer, leicht, fliegend, in die Höhe strebend wie eine Flamme im Winde.

»Wissen Sie, Majestät: Solange es Menschen gibt, so lange werden sie auch nach Freiheit lechzen. Um in Rußland die freiheitlichen Gedanken auszurotten, muß man eine ganze Generation von Menschen ausrotten, die während der letzten Regierung zur Welt gekommen sind und sich entwickelt haben. Ich sage es dreist: Unter tausend Menschen kann man auch keine hundert finden, in denen nicht die Sehnsucht nach der Freiheit glühte. Und nicht nur in Rußland – alle Völker Europas sind von einem einzigen Gefühl beseelt, das man wohl niederdrücken, aber nicht töten kann. Wo – nehmen Sie die Weltgeschichte durch, zeigen Sie mir ein solches Land –, wo und wann war ein Volk unter autokratischer Gewalt, ohne Gesetz, ohne Recht, ohne Ehre und Gewissen glücklich? Nicht wir sind Ihre Feinde, sondern diejenigen, die die Menschheit in Ihren Augen herabsetzen. Fragen Sie sich selbst: Was würden Sie an unserer Stelle tun, wenn ein Mensch Ihrer Art das Recht hätte, mit Ihnen wie mit einer leblosen Sache zu spielen?«

Der Kaiser saß stumm und unbeweglich da, den Ellenbogen auf die Armlehne und den Kopf in die Hand gestützt und hörte aufmerksam und ruhig zu. Rylejew aber schrie so, als ob er ihm drohte, fuchtelte mit den Händen, sprang bald auf und setzte sich bald wieder hin.

»Im Manifest heißt es, daß Ihre Regierung eine Fortsetzung der Regierung Alexanders sein werde. Wissen Sie denn nicht, daß jene Regierung für Rußland verderblich war? Er ist auch der Haupturheber des Aufstandes vom Vierzehnten. Hat er nicht erst mit mächtiger Gebärde die Geister zu den heiligen Rechten der Menschheit gerufen und sie dann aufgehalten und zur Rückkehr gezwungen? Hat er nicht in unseren Herzen die Flamme der Freiheit angefacht und diese Freiheit dann so grausam erdrosselt? Er hat Rußland betrogen, er hat auch Europa betrogen. Die lorbeerumwundenen goldenen Ketten sind gefallen, und nun schmachtet die Menschheit in nackten, rostigen Eisenketten. Als ›Gesegneter‹ bestieg er den Thron und stieg als Verfluchter ins Grab!«

»Du sprichst immer nur von ihm, aber was wirst du von mir sagen?« fragte der Kaiser, immer noch ruhig.

»Von Ihnen? Gut, hören Sie! Als Sie erst Großfürst waren, liebte Sie kein Mensch, und man hatte auch keinen Grund, Sie zu lieben: Ihre einzige Beschäftigung waren die Soldaten, und Sie interessierten sich für nichts außer für das Exerzierreglement; wir sahen es und fürchteten, auf dem russischen Thron einen preußischen Obersten, oder noch schlimmer als das: einen neuen Araktschejew zu haben. Und wir hatten uns nicht getäuscht: Sie haben schlecht angefangen, Majestät! Sie haben, wie Sie vorhin selbst sagten, den Thron, mit dem Blute Ihrer Untertanen befleckt, bestiegen; Sie haben in das Volk, in Ihr Kind ein Messer gebohrt . . . Und nun weinen Sie, klagen sich an und flehen um Verzeihung. Wenn Sie die Wahrheit sprechen, so geben Sie Rußland die Freiheit, und wir sind dann alle Ihre treuesten Diener. Wenn Sie aber lügen, so nehmen Sie sich in acht: Wir haben angefangen, andere werden es zu Ende führen. Blut für Blut – auf Ihr Haupt oder auf das Haupt Ihres Sohnes, Enkels, Urenkels! Und dann werden alle Völker sehen, daß keines von ihnen sich mit solcher Macht erheben kann wie das russische. Dies ist kein Traum – mein Blick durchdringt die Hüllen der Zeiten. Ich sehe durch ein ganzes Jahrhundert! Es wird in Rußland eine Revolution geben, es wird eine geben! Und jetzt lassen Sie mich hinrichten, lassen Sie mich töten . . .« Er fiel erschöpft in den Sessel.

»Trink, trink!« Der Kaiser reichte ihm wieder Wasser. »Willst du Tropfen?«

Er holte Tropfen und zählte sie in das Wasserglas ab. Er hielt ihm englisches Riechsalz und Salmiak vor die Nase. Rylejew wollte sich den Schweiß aus dem Gesicht wischen; er suchte sein Taschentuch, konnte es aber nicht finden. Der Kaiser gab ihm das seine. Er tat sehr geschäftig und besorgt. In allen Bewegungen seines langen, biegsamen Körpers war die freundliche Geschmeidigkeit einer Schlange. ›Ein Gespenst, ein Gespenst! Ein Werwolf!‹ dachte sich Rylejew entsetzt.

»Ach mein Gott! Geht denn das? Nicht doch, nicht doch! Leg dich hin, ruhe aus. Willst du Wein, Tee? Einen kleinen Imbiß oder Abendbrot?«

»Nichts will ich!« stöhnte Rylejew und dachte sich mit schwerem Herzen: ›Wann wird das einmal ein Ende nehmen, mein Gott?‹

»Kannst du mir zuhören?« fragte der Kaiser. Er rückte seinen Sessel wieder heran, setzte sich und begann:

»Ich danke dir für die Wahrheit, mein Freund!« Er ergriff Rylejews beide Hände und drückte sie fest. »Wir Herrscher werden doch von allen Menschen angelogen und bekommen fast nie die Wahrheit zu hören. Ja, alles ist wahr, nur eines nicht: Ich werde kein Deutscher auf dem russischen Throne sein. Wenn ich auch einer war, so will ich es nicht mehr sein. Meine Großmutter, Kaiserin Katherina, war ja auch Deutsche, als sie aber den Thron bestieg, wurde sie sofort Russin. So bin auch ich. Personne n'est plus russe de coeur que je ne le suis«, sagte er auf französisch, korrigierte sich aber gleich. »Wir sind beide Russen – ich, der Kaiser, und du, der Aufrührer. Sag mir bitte, wäre so ein Gespräch, wie wir es jetzt führen, unter Nichtrussen möglich?«

Über Rylejews Gesicht glitt etwas wie ein bleiches Lächeln.

»Was denn?« fragte der Kaiser, der dieses Lächeln bemerkt hatte, und lächelte gleichfalls. »Sprich, fürchte nicht, mir die Wahrheit zu sagen.«

»Sie sind sehr klug, Majestät.«

»Du hieltest mich wohl für einen Dummkopf? Nun, siehst du, wenigstens darin hast du dich getäuscht. Nein, ich bin kein Dummkopf. Ich weiß wohl, daß es in Rußland nicht gut zugeht. Ich bin selbst der erste Bürger des Vaterlandes. Ich habe nie etwas anderes gewollt, als Rußland frei und glücklich zu sehen. Weißt du auch, daß ich als Großfürst nicht weniger liberal gewesen bin als euereins? Ich habe nur geschwiegen und es für mich behalten. Mit den Wölfen muß man heulen. So heulte ich mit Araktschejew. Je schlimmer, um so besser. Ich half euch. Nun, sag mir die ganze Wahrheit: Was wolltet ihr, eine Konstitution? Eine Republik?«

›Natürlich lügt er! Ein Gespenst, ein Werwolf!‹ dachte sich Rylejew mit Entsetzen. Aber die Neugier war stärker als das Entsetzen: ›Soll ich nicht den Versuch machen und mich so stellen, als ob ich ihm glaubte?‹

»Nun, was schweigst du? Du glaubst nicht? Du fürchtest dich?«

»Nein, ich fürchte mich nicht. Ich wollte die Republik«, antwortete Rylejew.

»Na, Gott sei Dank, du bist also klug!« rief der Kaiser und drückte ihm beide Hände. »Ich kann wohl den Absolutismus verstehen, kann auch die Republik verstehen, aber nicht die Konstitution. Diese Regierungsform ist verlogen, tückisch, korrupt. Ich würde es vorziehen, bis zu der Mauer Chinas zurückzuweichen, als diese Regierungsform anzunehmen. Nun siehst du, wie aufrichtig ich mit dir bin, vergelte es mir mit dem gleichen!«

Er schwieg eine Weile, sah ihn an und griff sich plötzlich an den Kopf.

»Was war es? Was war es? Gott! Wozu? Ihr habt euren Gesinnungsgenossen nicht erkannt! Alle habe ich getäuscht, auch euch. Gegen euren Freund, gegen euren Verbündeten habt ihr euch erhoben! Wäret ihr doch gleich zu mir gekommen und hättet mir gesagt: Wir wollen dies und das. Und jetzt . . . Höre, Rylejew, vielleicht ist es noch nicht zu spät? Wir haben gemeinsam gesündigt, wollen auch gemeinsam büßen. Meine Großmutter pflegte zu sagen: ›Ich liebe den Absolutismus nicht, ich bin im Herzen Republikanerin, aber der Schneider ist noch nicht geboren, der Rußland einen Rock zuschneiden könnte.‹ Wollen wir ihn gemeinsam zuschneiden. Ihr seid die besten Männer Rußlands, ohne euch kann ich nichts. Wollen wir ein Bündnis schließen, wollen wir eine neue Verschwörung anzetteln. Die Autokratie ist eine große Macht. Nehmt sie mir ab. Was braucht ihr eine Revolution? Ich bin selbst die Revolution!«

Wie ein Mensch, der in einen Abgrund gleitet, sich immer noch festzuhalten versucht, obwohl er weiß, daß er hinabstürzen wird, so entsetzte sich Rylejew und freute sich schon.

Die Augen des Kaisers leuchteten vor Freude.

»Wart, beschließe noch nichts, überlege dir's erst. So sprechen, wie ich eben gesprochen habe, kann man nur einmal im Leben. Merke dir: Es handelt sich nicht um mein Schicksal, auch nicht um deines, sondern um das Schicksal Rußlands. Wie du beschließen wirst, so soll es auch sein. Nun, sprich, willst du mit mir zusammengehen? Willst du? Ja oder nein?«

Er streckte ihm die Hand entgegen. Rylejew ergriff die Hand, wollte etwas sagen, konnte aber nicht: Ein Krampf schnürte ihm die Kehle zusammen. Die Tränen stiegen und stiegen hinauf und brachen plötzlich in Strömen aus den Augen. So stürzte er in den Abgrund; jetzt glaubte er ihm.

»Wie konnte ich nur . . . Was habe ich angestellt! Was habe ich angestellt! Wir alle . . . nein, ich allein . . . Ich habe alle ins Verderben gestürzt! Soll nun alles mit mir enden! Lassen Sie mich gleich, auf der Stelle hinrichten! Jenen Unschuldigen schenken Sie aber Verzeihung . . .«

»Allen, allen werde ich verzeihen, dir und den andern! Ich brauche ja gar nicht zu verzeihen: Ich sage dir ja, daß wir alle zusammen sind!« sagte der Kaiser. Er umarmte ihn und weinte, so schien es wenigstens Rylejew.

»Sie weinen? Über wen? Über einen Mörder?« rief Rylejew und fiel in die Knie; die Tränen liefen immer unaufhaltsamer, immer süßer; er sprach wie im Fieber; er glich einem Betrunkenen oder einem Verrückten. »Sie haben sich an den Geburtstag Nastenjkas erinnert! Sie wußten, womit Sie mich treffen können! So sind Sie! Ich fühle das Schlagen Ihres Engelsherzens! Ich bin für immer der Ihre! Aber was bin ich – fünfzig Millionen harren Ihrer Güte. Kann man denn annehmen, daß ein Kaiser, der seinen Mördern Gnade erweist, nicht nach der Liebe des Volkes und dem Wohle des Vaterlandes lechzte? Vater! Vater! Wir sind alle wie Kinder in deinen Händen! Ich habe nie an Gott geglaubt, das ist aber ein Wunder Gottes – der Gesalbte des Herrn! Zar, Väterchen, unsere Sonne . . .«

»Und dabei wolltest du uns alle abschlachten?« flüsterte der Kaiser.

»Ich wollte es«, antwortete Rylejew, gleichfalls flüsternd, und das Entsetzen von vorhin durchzuckte ihn wieder – es leuchtete auf und erlosch.

»Wer noch?«

»Sonst niemand. Ich war allein.«

»Hast du nicht Kachowskij überredet?«

»Nein, nein, nicht ich – er selbst . . .«

»So, er selbst. Nun, und Pestel, Murawjow, Bestuschew? Ist auch in der Zweiten Armee eine Verschwörung? Weißt du was davon?«

»Ja.«

»Nun, sprich, sage mir alles, fürchte dich nicht, nenne mir alle. Man muß alle retten, damit es keine unschuldigen Opfer gibt. Wirst du es mir sagen?«

»Ich werde es sagen. Was braucht ein Sohn etwas vor seinem Vater zu verheimlichen? Ich konnte Ihr Feind sein, aber ich kann kein Schurke sein. Ich glaube! Ich glaube! Erst eben glaubte ich noch nicht, aber jetzt . . . glaube ich, ich schwöre es bei Gott! Ich werde alles sagen! Fragen Sie mich!«

Er lag auf den Knien. Der Kaiser beugte sich über ihn, und die beiden begannen zu flüstern wie ein Beichtvater und ein Büßender, wie ein Liebender und seine Geliebte.

Rylejew verriet alle, nannte alle, Namen auf Namen, Geheimnis auf Geheimnis.

Zuweilen schien es ihm, daß der Vorhang in der Tür sich bewege. Er fuhr zusammen und sah sich um. Als er sich wieder einmal umsah, ging der Kaiser zur Tür, als fürchtete er selbst, daß jemand horche.

»Es ist niemand da. Siehst du?« sagte er, den Vorhang zurückschlagend, doch so, daß Rylejew nur ein wenig hineinschauen konnte, aber nicht ganz.

»Nun, bist wohl müde?« Er sah ihm ins Gesicht und merkte, daß er Schluß machen müsse. »Es ist genug. Geh, ruhe dich aus. Wenn du etwas vergessen hast, so wirst du morgen darauf kommen. Hast du es gut in deiner Kasematte, ist es nicht dunkel, nicht feucht? Brauchst du vielleicht etwas?«

»Ich brauche nichts, Majestät. Wenn ich bloß meine Frau . . .«

»Du wirst sie sehen. Sobald wir mit dem Verhör fertig sind, darfst du sie wiedersehen. Wegen deiner Frau und Nastenjka kannst du unbesorgt sein. Sie sind jetzt mein. Ich will für sie alles tun.«

Er sah ihn plötzlich an und schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf.

»Wie konntet ihr bloß . . .? Was habe ich euch getan?« Er wandte sich weg und schluchzte. Das war keine Verstellung, er tat sich selbst leid: »Pauvre diable, armer Kerl, armer Nixe.«

»Verzeihung, Verzeihung, Majestät!« rief Rylejew, ihm zu Füßen fallend, und stöhnte wie ein zu Tode Verwundeter. »Nein, leben Sie wohl! Lassen Sie mich hinrichten! Töten Sie mich! Ich kann es nicht ertragen!«

»Gott wird verzeihen. Nun, genug, beruhige dich!« Der Kaiser umarmte und küßte ihn, streichelte ihm den Kopf und trocknete bald ihm und bald sich selbst die Augen mit dem gleichen Tuch. »Nun, geh mit Gott, bis morgen. Schlafe wohl. Bete für mich, ich aber werde für dich beten. Laß dich bekreuzigen. So. Christus sei mit dir!«

Er half ihm aufstehen, begleitete ihn bis zur Tür des Flügeladjutantenzimmers und rief:

»Ljewaschow, führe ihn hinaus!«

»Das Taschentuch, Majestät!« sagte Rylejew und reichte es dem Kaiser.

»Behalte es zum Andenken«, erwiderte Nikolai und hob die Augen zum Himmel. »Gott sei mein Zeuge, daß ich mit diesem Tuch nicht nur dir, sondern allen Bedrückten, Trauernden und Weinenden die Tränen abwischen möchte!«

Beim Weggehen merkte Rylejew nicht, wie aus den schweren Falten des Vorhanges, der sich vorhin bewegt hatte, Benkendorf trat.

»Hast du es aufgeschrieben?« fragte der Kaiser.

»Einiges habe ich überhört. Nun, jetzt haben wir es: Alle Namen, alle Fäden der Verschwörung. Ich gratuliere, Majestät!«

»Kein Grund, mein Freund, zu gratulieren. So weit haben sie mich gebracht, daß ich Spitzel geworden bin!«

»Nicht Spitzel, sondern Beichtvater. Sie geruhen in den Herzen zu lesen. Wie der Apostel vom Worte Gottes sagt: ›Schärfer denn kein zweischneidig Schwert dringet es durch, bis daß es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein‹ . . .«

»Der mitfolgende Rylejew ist auf meine Rechnung zu beköstigen«, schrieb der Kaiser dem Festungskommandanten Ssukin. »Man gebe ihm Kaffee, Tee und alles übrige, auch Papier zum Schreiben; alles, was er schreibt, ist mir abzuliefern. Soll er nur schreiben und lügen, soviel er will.«

»Das Taschentuch, das Taschentuch zum Andenken!« rief Benkendorf und küßte den Kaiser auf die Schulter. Jener sah ihn schweigend an und hielt es nicht länger aus: Er lachte leise und triumphierend. Er fühlte, daß er eben einen größeren Sieg erfochten hatte als auf dem Platz am Vierzehnten.

Noch immer fürchtete und haßte er; er hatte den Durst nach Verachtung nicht gestillt, hoffte aber schon, daß er ihn stillen werde.

 


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