Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Siebentes Kapitel

»Ich kann der Artillerie noch nicht ganz trauen«, antwortete der Kaiser, sooft man ihm zuredete, daß er die Artillerie kommen lassen möchte.

Er mißtraute nicht nur ihr, sondern auch allen anderen Truppen. Das Ssemjonowsche Regiment hatte den Aufrührern durch die Menge sagen lassen, daß es sich ihnen anschließen wolle; das Ismailowsche Regiment hatte das dreimalige ›Guten Tag, Kinder!‹ des Kaiser unbeantwortet gelassen; auch die Finnländer auf der Isaaksbrücke rührten sich nicht.

›Wenn sie zu den Aufrührern übergehen‹, dachte sich der Kaiser, ›so wird auch die Artillerie nicht helfen: Die Geschütze werden sich gegen mich richten!‹

»Bon jour, Karl Fjodorowitsch. Schauen Sie, was hier vorgeht. Ein netter Regierungsanfang – ein blutbefleckter Thron!« wandte er sich an den General Toll mit dem früheren schiefen Lächeln, wie man es bei Zahnschmerzen hat.

»Majestät, es gibt nur ein Mittel, allem ein Ende zu machen: das Gesindel mit Kartätschen zusammenzuschießen!« antwortete Toll.

Der Kaiser runzelte schweigend die Stirn; er fühlte, daß er etwas sagen müsse, wußte aber nicht, was. Er hatte wieder seine Rolle vergessen und fürchtete, einen falschen Ton anzuschlagen.

»Nur kein Blutvergießen«, sagte ihm Benkendorf vor.

»Ja, kein Blutvergießen«, wiederholte der Kaiser. »Nur kein Blutvergießen. Wollen Sie denn, daß ich am ersten Tage meiner Regierung das Blut meiner Untertanen vergieße?«

Er verstummte und warf wie ein kleines Kind die Lippen auf. Wieder fühlte er Mitleid mit sich, wieder wollte er vor Mitleid weinen: – Pauvre diable! Armer Kerl! Armer Nixe! –

Toll nahm Benkendorf unter den Arm, ritt mit ihm auf die Seite und fragte, mit den Augen auf den Kaiser weisend:

»Was hat er?«

»Wieso?« Benkendorf tat, als verstünde er nicht, und blickte mit geheucheltem Lächeln auf Tolls einfältiges Soldatengesicht.

»Darf man den diese Kanaillen schonen?« fragte Toll erstaunt.

»Nun, darüber dürfen wir beide nicht urteilen. Die Barmherzigkeit des Kaisers ist grenzenlos. Er will nur im alleräußersten Falle schießen lassen. Unser Plan ist, sie so einzuschließen und einzuengen, daß sie sich ohne Blutvergießen ergeben.«

Toll antwortete nichts. Der Schlachtengeneral, Kampfgenosse Ssuworows, Liebling Kutusows und Kenner der Napoleonischen Taktik, sah, daß Benkendorf mit dem Leichtsinn sprach, der einem Ignoranten eigen ist, welcher niemals Pulver gerochen hat; daß das Karree der Aufrührer unerschütterlich war: Man konnte es wohl zusammenschießen, erdrücken, vernichten, aber nicht von der Stelle bringen; und daß, wenn der Aufruhr auch den Pöbel ergreift, in dieser Enge, in der vieltausendköpfigen Menge keine Schlacht, sondern ein Handgemenge entstehen muß; Gott allein weiß, womit das enden wird. Die dem Kaiser treuen Truppen waren schwankend, und die Befehlshaber benahmen sich so, wie immer vor einer verlorenen Schlacht; alle waren kopflos, rannten hin und her und erteilten und befolgten die unsinnigsten Ratschläge: bis zum Morgen zu warten, in der Hoffnung, daß die Meuterer sich vor Anbruch der Nacht von selbst zurückziehen würden; oder die Feuerwehrspritzen kommen zu lassen, das Karree mit Wasser zu begießen und ›den Wasserstrahl dabei den Soldaten auf die Augen zu richten, was bei dem herrschenden Frost sie bald kampfunfähig machen muß‹.

Endlich erschien die Artillerie: Der Kaiser ließ sich nach langen Überredungen herbei, sie kommen zu lassen. Von der Gorochowaja her kamen im Trab vier Geschütze mit leeren Protzen, ohne Munition, unter dem Kommando des Obersten Nesterowskij.

»Herr Oberst, haben Sie Kartätschen mit?« fragte Toll.

»Zu Befehl, nein, Euer Exzellenz, es wurde mir nicht befohlen.«

»Wollen Sie sofort welche holen lassen, denn man wird sie bald brauchen«, befahl Toll.

Er wußte, was er machte: Durch den eigenmächtigen Befehl rettete er den Kaiser und vielleicht auch das russische Reich.

Von der Ecke des Newskij bis zum Lobanowschen Hause, vom Lobanowschen Hause bis zum Zaune der Isaakskathedrale und längs des Zaunes bis zu der letzten Ecke, die ihn von der Front der Aufrührer trennte, bewegte sich der Kaiser sehr langsam, Schritt für Schritt, im Laufe mehrerer Stunden, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen.

An dieser Ecke machte er Halt, fühlte sich aber von einer unwiderstehlichen Macht auch weiter hingezogen, um diese Ecke herum, von wo die Kugeln pfiffen, – so wird ein Span von einem Wasserstrudel hereingezogen. Er blickte die glatten, grauen Bretter an und konnte von ihnen den Blick nicht losreißen: Die Bretter an dieser schrecklichen Ecke erinnerten ihn an ein Schaffot, an eine Wippe.

Er wußte, was ihn hinter die Ecke zog. »Ich will ihnen zeigen, daß ich kein Feigling bin«, hatte er früher gesagt; auch die Worte Jakubowitschs fielen ihm ein: »Sie wollen, daß Eure Majestät selbst zu ihnen kommen.« Warum schickt er die andern und geht nicht selbst hin?

Hinter der Ecke kamen die Kugeln über die Köpfe geflogen: Die Meuterer zielten wohl absichtlich nach oben.

Die Ecke des Zaunes schützte den Kaiser vor den Kugeln, und doch kam es ihm vor, als ob sie über seinem Kopfe pfiffen.

»Was hast du gesagt?« fragte er den General Benkendorf, der eben um die Ecke ritt und dem vorne stehenden Bataillon des Preobraschenskij-Regiments irgend einen Befehl erteilte.

»Ich habe gesagt, Majestät, daß die Dummköpfe sich nicht vor jeder Kugel verbeugen sollen«, antwortete jener und sah plötzlich, daß der Kaiser selbst den Kopf neigte.

Auf den blassen Wangen Nikolais waren zwei rosa Fleckchen hervorgetreten. Das angespornte Pferd trug den Reiter um die Ecke. Er sah die Aufrührer, und sie sahen ihn. Sie schrien »Hurra, Konstantin!« und gaben eine Salve ab. Sie zielten aber wohl wieder nach oben und schonten ihn. Die Kugeln pfiffen über ihn wie Peitschen, die nur drohen, und nicht schlagen, und in diesem Pfeifen hörte er den Hohn: »Stabshauptmann Romanow, fürchtest du dich?«

Er gab dem Pferd wieder die Sporen, das Tier bäumte sich und hätte den Reiter wohl dicht vor die Front der Aufrührer getragen, wenn der Generaladjutant Wassiltschikow es nicht am Zaume ergriffen hätte.

»Wollen Majestät zurückreiten!«

»Laß!« schrie der Kaiser wie rasend. Jener hielt aber das Pferd fest und hätte es nicht losgelassen, selbst wenn es ihm das Leben kostete; er war ein treuer Knecht.

Die Finger des Kaisers, die die Zügel hielten, erlahmten plötzlich und lösten sich. Wassiltschikow wandte sein Pferd um, und es sprengte zurück.

Der Kaiser war sich fast nicht bewußt, was er tat, aber er empfand dasselbe, wie in seiner Kindheit, wenn er bei einem Gewitter den Kopf unter ein Kissen steckte.

Als er wieder auf dem Schloßplatz war, kam er zu sich. Er mußte sich selbst und den andern erklären, warum er jene schreckliche Stelle so plötzlich verlassen hatte. Er rief den Schloßkommandanten Baschuzkij zu sich heran und fragte, ob sein Befehl, die Bewachung des Schlosses durch zwei Kompagnien Sappeure zu verstärken, ausgeführt sei.

»Es ist geschehen, Majestät.«

»Sind die Wagen bereit?« fragte er den Adjutanten Adlerberg.

»Zu Befehl, ja, Majestät.«

Er hatte die Wagen bereitstellen lassen, um im äußersten Falle die beiden Kaiserinnen und den Thronfolger heimlich unter einer Eskorte von Chevaliergarden nach Zarskoje-Ssielo bringen zu lassen. »Wie geht es der Kaiserin?« fragte der Kaiser weiter.

»Sie ist in größter Unruhe. Sie fleht Euer Majestät an, mitzukommen«, antwortete Adlerberg.

Der Kaiser verstand es: Mit ihr mitkommen, hieß fliehen.

»Und was glaubst du?« fragte er, mit einem verstohlenen Blick auf Adlerberg.

»Ich glaube, daß das Leben Eurer Kaiserlichen Majestät . . .«

»Dummkopf!« schrie ihn der Kaiser an. Und er wandte das Pferd um und ritt wieder auf den Senatsplatz.

Auf dem Turme der Admiralität schlug es drei. Die Dämmerung brach an. Es schneite. Weiße Fliegen wirbelten durch die immer dunkler werdende Luft.

Längs des Admiralitäts-Boulevards stand eine Kompagnie der Fußartillerie mit vier Geschützen und Munitionskisten voller Kartätschen.

General Ssuchosanet ritt auf den Kaiser zu.

»Eure Hoheit . . .« fing er in Eile an.

Der Kaiser sah ihn so an, daß jener bereit war, in die Erde zu versinken. Der ›arme Kerl‹ erinnerte sich aber, wie er vorhin selbst kommandiert hatte: »Die Kompagnie Seiner Majestät bleibt bei mir.« Was sollte er von den andern verlangen, wenn er sich selbst nicht als ›Majestät‹ fühlte.

»Euer Kaiserliche Majestät«, korrigierte sich Ssuchosanet, »der Abend ist nahe, und die Dunkelheit ist in dieser Situation gefährlich. Geruhen Sie den Befehl zu geben, den Platz durch Geschützfeuer zu säubern.«

Der Kaiser antwortete nicht und kehrte auf seinen früheren Platz am Zaune der Isaakskathedrale zurück. Wieder die glatten, grauen Bretter und die schreckliche Ecke – das Schaffott oder die Wippe; wieder das Pfeifen der Kugeln, das Pfeifen der Peitschen, die nicht schlagen, sondern nur drohen und höhnen.

Früher hatte es hier zwei Mengen gegeben: die eine auf der Seite des Zaren, die andere auf der der Aufrührer; jetzt waren beide zu einer einzigen Menge zusammengeflossen. Es wurde immer dunkler, und die Menge drängte sich in der Dunkelheit immer mehr gegen das Pferd des Kaisers vor.

»Die Leute drücken wie verrückt. Wollen Majestät zurückreiten!« rief jemand von der Suite.

»Tut mir den Gefallen, Kinder, und geht nach Hause. Der Kaiser bittet euch darum«, ermahnte Benkendorf.

»Wenn man auf mich schießt, kann man auch euch treffen«, sagte der Kaiser.

»Wie sanft der auf einmal ist!« tönte es aus der Menge.

»Jetzt, wo es euch schlecht geht, schmeichelt ihr uns, später werdet ihr uns ins Bockshorn jagen!«

»Wir gehen nicht, wir wollen mit ihnen sterben!«

Die Gesichter wurden plötzlich böse, und diejenigen, die ohne Mützen standen, fingen an, sie aufzusetzen.

»Die Mützen herunter!« schrie der Kaiser, und wieder floß die Wonne der Wut wie Feuer durch seine Adern; wieder begriff er, daß er gerettet ist, wenn er nur ordentlich in Wut gerät.

Plötzlich fing man an, hinter dem Zaune mit Steinen, Ziegeln und Holzscheiten zu werfen.

»Wollen Sie vom Zaun weg, Majestät!« schrie der Generaladjutant Wassiltschikow.

Ein schwarzhaariger, stumpfnasiger Kerl in offenem Halbpelz und rotem Hemd saß rittlings auf dem Zaun, an der schrecklichen Ecke, wie ein Henker auf der Wippe.

»Da ist ja unser Pugatschow!«Pugatschow, Jemeljan, Abenteurer, der sich für den Kaiser Peter III. ausgab und einen gewaltigen Aufstand im Osten des Reiches hervorrief; wurde 1755 hingerichtet. Anm. d. Übers. spottete er, dem Kaiser gerade ins Gesicht blickend. »Majestät, was versteckst du dich hinter dem Zaun? Komm mal her!«

Und die ganze Menge schrie und johlte:

»Pugatschow! Pugatschow! Grischka Otrepjew!Grischka Otrepjew = der ›Falsche Demetrius‹ Anm. d. Übers. Falscher Zar! Anathema!«

›Werden sie mich vielleicht mit einem Stein oder einem Holzscheit in die Schläfe treffen und wie einen Hund erschlagen?‹ dachte sich der Kaiser voller Ekel und erinnerte sich plötzlich, wie der Kerl mit dem roten Gesicht, der ihn am Morgen küssen wollte, aus dem Munde nach rohem Fleisch roch. Er fühlte Übelkeit. Es wurde ihm finster vor den Augen. Arme und Beine waren plötzlich wie aus Watte. Er fürchtete, daß er vom Pferde fallen könnte.

»Hurra, Konstantin!« schrie man wieder. Im Dunkel blitzten Schüsse auf, und es krachte eine Salve. Das erschrockene Pferd taumelte in wilder Angst.

»Eure Majestät, man darf keine Minute länger zögern, es ist nichts zu machen, man muß mit Kartätschen schießen«, sagte Toll.

Der Kaiser wollte ihm antworten, konnte es aber nicht, denn seine Stimme versagte. Und wie ihm einst der Blitz vor den Augen zuckte, wenn sein Erzieher Lamsdorff seinen Kopf bei einem Gewitter unter dem Kissen hervorzog, so durchzuckte ihn jetzt der Gedanke:

»Alles ist verloren, es ist das Ende!«

 


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